Als Goethe im Alter die Lebensgeschichte des englischen Dichters Sterne (ai) las, fiel ihm darinder Ausdruck the ruling passion auf. Unter unsern Trieben reißt einer die Führung an sich und bestimmt dann vor den andern unser Handeln und Erleben. Menschen, die eigentlich die gleichen Anlagen haben, entwickeln sich sehr verschieden, je nach der Eigenschaft, die zur Herrschaft gelangt: im Ersten waltet der Ehrgeiz vor, im Zweiten die Vorsicht, im Dritten das Verlangen nach Genüssen, im Vierten der Drang zur Tätigkeit usw. Wenn wir die Summe von Goethes langem Leben ziehen, so müssen wir als sein größtes geistiges Bedürfnis: das Lernen nennen. Zuerst zeigte sich dieser Trieb, wie bei uns allen, als kindliche Wißbegier und sehr bald auch als Stolz auf die zu Tage tretende große Begabung und seine ungewöhnlichen Kenntnisse. Zeitweilig erscheint der Jüngling als ein eingebildeter junger Gelehrter: man sieht ihn auf dem Wege zum hochberühmten Professor. Aber das vom Vater ihm auferlegte Fach sagte ihm wenig zu, und von sich aus erwählt er auch keine andere Wissenschaft mit Entschiedenheit. Sein Wissen und Können ist ein zerstreutes; er ist ein Liebhaber in allerlei Gebieten; den Doktorgrad, genauer den Lizentiatengrad, erwirbt er nur auf die bequemste Weise und ohne Ehre. (ai) Sterne, Laurence, englischer Schriftsteller, geb Clonmel 1713, gest. London 1768; entstammte einer dem angloirischen Landadel angehörenden mittellosen Familie; nach Theologiestudium in Cambridge, ab 1741 Pfarrer, später Domherr in Yorkshire. |
Die gelehrten Pedanten haßt Jeder, der vor ihnen nicht bestehen kann, aber freilich hatte Goethe ein angeborenes Recht, sich für einen Besseren zu halten. Er ward sich des "Genies" bewußt, eines höheren, wo nicht göttlichen Geistes, der kürzere oder längere Zeit bei oder in uns wohnt, uns ungewöhnliche, unbegreifliche Kräfte gibt und uns höhere Erkenntnisse vermittelt. Dies Genie braucht der damit Begglückte nur walten zu lassen; er braucht nur die Vorbedingungen zu schaffen, daß dieser Anhauch Gottes ungestört, ungehemmt stattfinden kann. Er wird also seine Kraft nicht verzehren, seinen Geist nicht verdummen mit beständigem Lesen und Schreiben.
Es ist kein Zufall, daß gerade Goethe von allen Dichtern uns am eindringlichsten den Drang nach Erkenntnis vor die Sinne und Seele gebracht hat: Faust in den ersten Szenen des großen Dramas ist durch ihn die persönliche Gestaltung des stärksten und höchsten Lernenwollens geworden. Diesen faustischen Drang fühlte Goethe selber:
In seinen jüngeren Jahren nannten ihn die Leute oft ehrgeizig; aber was sie für Ehrgeiz hielten, war sein Bedürfnis, ein großes Stück Welt erkennend in sich auf- |
zunehmen, es zu verarbeiten, es zu durchleuchten, sich mit der Welt zu vereinigen. Sein Leben wurde freilich durchaus kein faustisches. "Ich bin nur durch die Welt gerannt" sagt Faust, auf Jahrzehnte zurückschauend;
Goethe resignierte schon in jungen Jahren. Er hatte zwar stets Ursache, das Genie zu verehren und die goldnen Gaben dankbar hinzunehmen, die den Sonntagskindern von oben zufallen; aber er ehrte auch den Fleiß und sammelte die Groschen und Pfennige, die die Tagesarbeit uns einbringt. Er hätte gern die höchsten Erkenntnisse vom Himmel heruntergeholt und mit Gott selber über die Geheimnisse der Schöpfung geredet; aber er begnügte sich und freute sich, wenn er die "Urphänomene" fand, die Haupt- und Grunderscheinungen in allem Weltgeschehen, das Letzte, was vor Gott steht. Durch sein ganzes Leben betrieb Goethe dies bewußte Lernen. "Die Sachen anzusehen, so gut wir können" riet er schon bei Vollendung seines einundzwanzigsten Jahres einem noch jüngeren Bekannten, "sie in unser Gedächtnis schreiben, aufmerksam zu sein und keinen Tag, ohne etwas zu sammeln, vorbeigehen zu lassen. . . . Dabei müssen wir nichts sein, sondern alles werden wollen." |
Und die gleiche Lernlust zeigt noch der Vierundsiebzigjährige, wenn er dem jungen Bonner Mineralogen Nöggerath (ai) bestellen läßt: "Wie gern durchzög' ich die Eifel mit ihm zu klarem Schauen Dessen, was immer noch als Problem vor mir steht! Warum bin ich nicht mehr so leicht auf den Füßen als zur Zeit, wo ich die unnützen Reisen in die Schweiz tat, da man glaubte, es sei was Großes getan, wenn man Berge erklettert und angestaunt hätte!" Goethe forschte und lernte bis zum letzten gesunden Tage; in seiner Arbeitsstube zeigt man heute noch ein Häuschen Gartenerde, das der Alte sich heraufholen ließ, um daran etwas Neues zu beobachten. * * * Diese Lernlust zeigte sich namentlich als Aufmerksamkeit auf alles Belehrende. Die Aufmerksamkeit nannte Goethe "das Höchste aller Fertigkeiten und Tugenden" und er meinte, Nichts sei so leicht zu erreichen und so wohlfeil zu erhandeln als Kenntnis und Wissen: "Die ganze Arbeit ist ruhig sein, und die Ausgabe Zeit, die wir nicht retten, ohne sie auszugeben." Goethe ermahnte sich und Andere zwar immer wieder, nur an Dem Interesse zu nehmen, worin man praktisch etwas leisten könne, aber es lag doch in seiner innersten Natur, daß er an unzähligen Dingen der Welt teilnahm. Da Goethe sich den Besuch so vieler Menschen gefallen lassen mußte, unter denen auch viele Unbeholfene waren, die von sich aus nichts Anregendes vorbrachten, so machte er es sich selber zur Regel, derartige Gäste (ai) Johann Jacob Nöggerath, (1788-1877), Mineraloge, Geologe und Bergbaufachmannbesuchte Goethe am 19./20. Oktober 1828 in Weimar |
als Lehrer oder Lehrmittel zu benutzen. Es kam etwa ein bayrischer Verwaltungsbeamter, um ihn anzuglotzen und nachher seine Bemerkungen über den berühmten Mann zu machen; Goethe zwang ihn, alle Einzelheiten des Feuerlöschwesens in seiner Heimat vorzutragen. Ein ander Mal erschien ein vornehmer Engländer, der früher Gouverneur von Jamaika gewesen war, Sir Michael Clare. Am Abend stand dann in seinem Tagebuche: "Sehr erfreut der Bekanntschaft mit Lord und Lady N. N.; sie gab mir erwünschte Gelegenheit, meine Kenntnisse der Zustände von Jamaika ziemlich vollständig zu rekapitulieren." Allerdings glückte dies Verfahren nicht immer. so wurde eines Tages Goethe von seinem Sohne gebeten, einen Jenaer Studenten namens Rumpf, den August vom Burgkeller her kannte, anzunehmen und auch zum Essen dazubehalten. Der junge Mann wurde freundlich empfangen. Er möge weiter erzählen:
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Goethe hatte durch dieses Ausfragen viele Freuden; zum Beispiel machte er auf solche bequeme Weise große Reisen. Als der Berliner Parthey (ai) bei ihm zu Tische war und von seinem Aufenthalte im Morgenlande (ai) Daniel Friedrich Parthey, (1798-1872), in Berlin ansässiges Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Sein Vater Gustav Parthey (1745-1822) war 1774 Hauslehrer im Hause Medem in Mitau und Hofrat im Generalfinanzministerium in Berlin. Er war der einzig überlebende Enkel und Nachfolger des einst von Goethe so sehr angefeindeten Friedrich Nicolai. "Daß lange leben so viel heißt, als viele überleben'', hatte Goethe am 26. März 1816 an Zelter geschrieben, aber sein langes Leben löste in Harmonie manche Dissonanzen seiner jungen Jahre auf. Er überlebte seine alten Berliner Gegner und trat in freundschaftliche Beziehungen zu manchen ihrer Nachkommen. Nun trat er auch zu Nicolais Nachkommen in freundschaftliche Berührung. Parthey war der einzig überlebende Enkel der großen Nicolaischen Nachkommenschaft und seit 1825 der Nachfolger in der Buchhandlung. Nachdem er weite Reisen durch Europa und den nahen Orient gemacht hatte, besuchte er Goethe im August 1827 mit Empfehlung von Zelter. Goethe interessierte sich sehr für die besuchten Länder und ließ sich ausführlich darüber berichten. Parthey hat diesen Besuch bei Goethe in einem Privatdruck an seine Freunde verewigt: "Ein verfehlter und ein gelungener Besuch bei Goethe 1819 und 1827. Berlin 1862.'' Schon vorher, am 23. Juli 1823 hatte seine Mutter mit seiner Schwester Lili und einer Tante Goethe in Marienbad besucht. |
sprach, da wollten die Andern nur hübsche Leckerbissen von ihm haben, abenteuerliche und rührende Anekdoten hören; aber der alte Meister wehrte sie ab, und Parthey mußte ihm drei Tage hindurch seine ganze Reise Schritt für Schritt schildern. Der Architekt Wilhelm Zahn (ai) kam 1827 nach Weimar mit den schreckhaftesten Vorstellungen über des Dichters Unzugänglichkeit; trotzdem wagte er sich in das Haus.
Bald saß Zahn dem Gefürchteten gegenüber.
(ai) Im September 1827 kam der junge Maler und Archäologe Johann Karl Wilhelm Zahn nach Weimar und verbrachte dort einige Abende im Gespräch mit Goethe. Zahn zeichnete diese Gespräche auf. |
So ergriff er auch jede Gelegenheit, sich zum Erfassen der besten Musik zu bilden. Er richtete sich während der napoleonischen Zeit einen eigenen bescheidenen Singechor ein; von ihm hörte er mit seinen Hausgenossen jeden Sonntagmorgen geistliche und weltliche Gesänge. Als Goethe im Winter 1818 auf 19 drei Wochen in Berka (ai) zubrachte, mußte ihm der Organist Schütz dort täglich drei bis vier Stunden vorspielen, und zwar in historischer Reihenfolge Sebastian Bach bis zu Beethoven durch Philipp Emanuel Bach, Händel, Haydn, Mozart, auch Dussek (bi) und dergleichen mehr. Zugleich studierte er musiktheoretische Schriften. Und noch, als den Achtzigjährigen das Spiel des jungen Felix Mendelssohn entzückte, mußte ihm der Knabe die ganze Entwicklung der Musik vordozieren und vorspielen.
So hielt er es in Allem. Fuhr er mit Eckermann spazieren, so mußte Dieser ihm lange Vorträge über (ai) Kurstadt Bad Berka in Thüringen |
die Lebensweise seiner geliebten Vögel halten, und im Garten nahmen sie einmal die ganze Lehre vom Bogenbau und Bogenschießen sehr gründlich durch, weil Das auch ein Steckenpferd Eckermanns war. Und der Sechsundsiebzigjährige suchte auch dieser Übung noch Herr zu werden:
Schon als Student schaute er auf seinen Wanderungen nicht bloß nach schönen Mädchen und guten Weinen aus, sondern kümmerte sich recht sorgsam z. B. um den Gewerbefleiß an der Saar oder die Altertümer bei Niederbronn. Im Alter schreibt er einmal an seinen August, er treibe in Böhmen seinen alten Spaß noch immer fort: in jeder Mühle nachzufragen, wo sie ihre Mühlsteine hernehmen. In Wiesbaden richtete er seine Spaziergänge gern zu Steinbrüchen und auf Bauplätze; so bekam er nämlich eine schnellere Übersicht über den Grundbau der Gegned, als der Laie vermutet. Und an jedem Orte fragte er nach kundigen Leuten, die ihn belehren konnten. Jena liebte er auch darum, weil er dort so viele kenntnisreiche Männer fand. An die dortigen Professoren dachte er besonders, als er 1818 zum Kanzler v. Müller und zur Julie v. Egloffstein (ai) sagte: "Seht, liebe Kinder, was wäre ich denn, wenn ich nicht immer mit klugen Leuten umgegangen wäre und von ihnen gelernt hätte? Nicht aus Büchern, sondern (ai) Julie Gräfin von Egloffstein.(1792-1869). |
durch lebendigen Ideenaustausch, durch heitere Geselligkeit müßt ihr lernen." Er selber lernte freilich auch aus Büchern und will hier im Ernste nichts gegen Bücher sagen; nur zog er eigene Anschauung und mündliches Ausfragen vor. Und da nahm er als Lehrer nicht nur Männer an wie die Humboldts, Schiller, Friedrich August Wolf (ai), Voß, Fichte, Schelling, sondern der schlichteste Bergmann oder Seidenweber oder Hafenarbeiter oder Gärtner war ihm ebenso recht. Und wenn so ein Mann aus dem Volke bescheiden meinte, daß er mit seinen einfältigen Worten den berühmten Herrn nicht aufhalten dürfe, antwortete er: "Erzählen Sie! es gibt nichts Unbedeutendes in der Welt. Es kommt nur auf die Anschauungsweise an." Einmal machte er ein halbes Kind zu seinem Lehrer. In Ziegenhain bei Jena zeichnete sich nämlich eine Familie Dietrich durch botanische Kenntnisse aus; sie sammelte Arneikräuter und besorgte für die botanischen Vorträge in Jena die nötigen Pflanzen. Den jüngsten dieser bäurischen Fachgelehrten nahm Goethe 1785 nach Karlsbad mit; schon unterwegs brachte der Jüngling mit eifrigem Spürsinn alles Blühende zusammen und reichte es Goethen in den Wagen, "dabei nach Art eines Herolds die Linnéischen Bezeichnungen, Geschlecht und Art, mit froher Überzeugung, manchmal wohl mit falscher Betonung" ausrufend. In Karlsbad war der Knabe schon mit Sonnenaufgang im Gebirge und, ehe Goethe noch seine Becherzahl geleert hatte, war er mit seinem Bündel am Brunnen, und manche (ai) Friedrich August Wolf, klassischer Philologe und Pädagoge, geb. Haynrode, Kreis Eichsfeld, 1759, gest. Marseille 1824; legte den Grund zu einer umfassenden Altertumswissenschaft. |
Kurgäste nahmen neben dem Dichter an dem seltsamen Unterrichte teil. "Sie sahen ihre Kenntnisse auf das anmutigste angeregt, wenn ein schmucker Landknabe im kurzen Westchen daherlief, große Bündel von Kräutern und Blumen vorweisend, sie alle mit Namen, griechischen, lateinischen, barbarischen Ursprungs, bezeichnend." Der junge Mensch studierte später und stand an Goethes alten Tagen den großherzoglichen Gärten in Eisenach mit Ehre vor. So aufmerksam und lernbegierig war Goethe jeden Tag. Die Wolke am Himmel, das Tier am Wege, die Form des Berges, der Lichtschein durch ein Glas: nichts entging ihm. Er konnte mit einem Freunde über Land fahren und plötzlich halten lassen. "Ei, wo kommst denn du hieher?" redete er dann wohl einen Stein an, und der nächste Bauer mußte ihm sagen, wo mehr solche Steine zu finden seien. Von einem seiner Kutscher, Barth aus Troistedt, wird berichtet, daß er, angesteckt von der Liebhaberei seines Herrn, von seinem hohen Sitze aus gleichfalls scharf ausblickte und zuweilen, die Perde anhaltend, in den Wagen rief: "Herr Geheemrat, ich globe, da is was für uns!" * * * Manchmal gab es wirklich hübsche Entdeckungen. Als Goethe 1785 nach Karlsbad fuhr, achtete er, wie eben erzählt ist, besonders auf Pflanzen, und da entging ihm im Fichtelgebirge der Sonnentau (Drosera rotundifolia) nicht, und er beobachtete, wie die Blätter ihre Purpurhaare, wenn ein Insekt darauf |
kommt, zusammenlegen und das Insekt töten. Diese Tatsache war damals zwar bereits beschrieben, 1779 durch Dr. Roth in Bremen, aber doch erst Wenigen bekannt. Erst Darwin hat weitere Kreise darauf aufmerksam gemacht. Als er 1790 auf den Dünen des Lido, welche die venetianischen Lagunen vom Adriatischen Meere trennen, spazieren ging, hob sein Diener einen geborstenen Schafschädel auf und scherzte, es sei ein Judenschädel, denn an jener Stätte wurden früher Juden beerdigt. Goethe aber sah sofort etwas Neues, eine Förderung der Wissenschaft. Daß der Schädel der Säugetiere aus Wirbelknochen früherer Tierstufen entstanden sei, wußte er schon; hier an diesem zerschlagenen Schöpfenkopf gewahrte er augenblicklich, daß die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seien, indem er den Übergang vom ersten Flügelbeine zum Siebbeine und den Muscheln ganz deutlich vor Augen hatte. (1) Im Sommer 1802 fiel ihm auf, daß in jenem Jahre die Wolfsmilchraupe besonders häufig und kräftig ausgebildet war, und sofort studierte er an vielen Exemplaren ihr Wachstum sowie den Übergang zur Puppe. "Auch hier ward ich mancher trivialen Vorstellungen und Begriffe los" bemerkt er in seinen Annalen. Goethe selber hat uns anmutig erzählt, wie er zu seinen botanischen Studien kam: mit Abendgesprächen nach den Jagden im Thüringer Walde fing es an; der Verkehr mit dem weimarischen Apotheker Dr. Buch- (1) Bedeutende Fördernis d. e. g. W. 1823. |
holz und die Garten- und Parkanlagen des Herzogs reizten zur Fortsetzung; das Lesen Linnés und Rousseaus Schriften erregte Widerspruch oder Zustimmung; und so ging es weiter, bis der Dichter eigene große Wahrheiten den gelehrten Botanikern, die ihn mißtrauisch in ihr Fach eindringen sahen, verkünden konnte, und bis keiner von ihnen an seiner 'Metamorphose der Pflanzen' mehr vorübergehen durfte. * * * Er erwähnt in der Geschichte seines botanischen Studiums ein vorzügliches Mittel, die uns so sehr belehrende Aufmerksamkeit zu steigern: das Reisen. Unsere gewöhnliche Umgebung sehen wir fast gar nicht mehr; sie reizt uns wenig zum Nachdenken; die wunderbarsten Dinge erscheinen uns gemein und leer, wenn wir sie täglich haben:
So erging es Goethen in Italien. Schon in den Alpen fiel ihm die Pflanzenwelt mehr auf als daheim, und im botanischen Garten zu Padua sprach eine Fächerpalme deutlicher zu ihm, als die heimische Birke etwa vermocht hätte. Und nun ließ ihn im Süden die |
Pflanzenwelt nicht wieder los, obwohl er doch nicht ihretwegen gekommen war. Das Beobachten unterwegs hat Goethe zu einer wahren Kunst ausgebildet. Er schalt wohl zuweilen auf das Reisen, weil es so sehr zerstreue und verwirre, neue Bedürfnisse errege und andere Fragen beantworte, als man stelle; aber er verstand es doch, vielerlei mit nach Haus zu bringen. Er legte sich stets Aktenfaszikel (ai) an, in denen er außer seinen eigenen Notizen Zeitungen, Theaterzettel, Preislisten der Märkte, Rechnungen der Gasthöfe und dergleichen zusammentrug. Sein Auge war auf das Sehen des Eigenartigen außerordentlich eingeübt, weil er sich sein ganzes Leben des Zeichnens befleißigte. Er mochte sein Landschaften-Zeichnen, da er es zu hohen Leistungen nicht brachte, wohl als einen bloßen Zeitvertreib entschuldigen, das für ihn Dasselbe sei wie für Andere das Tabakrauchen, aber zu anderen Zeiten rühmte er es als vortreffliches Bildungsmittel. "Es entwickelt und nötigt zur Aufmerksamkeit", und: "Meine eigenen Versuche im Zeichnen haben mir doch den großen Vorteil gebracht, die Naturgegenstände schärfer aufzufassen: ich kann mir ihre verschiedensten Formen jeden Augenblick mit Bestimmtheit zurückrufen." Das half ihm dann auch wieder, die Malereien Anderer richtig zu werten. Er sah es sofort, wenn ein Maler die Natur nicht kannte, wenn er z. B. einen Baum in eine Umgebung brachte, die in der Wirklichkeit zu einem Baume dieser Art und dieses Wachstums nicht vorkommt. * * * (ai) Aktenfaszikel, Aktenbündel |
Diese Sachlichkeit war Goethes beständiger Vorsatz, und seine Größe als Mensch rührt namentlich von seinem täglichen Bestreben her: alle Dinge und alle Personen ohne Leidenschaft und Vorurteil zu betrachten, sich selbst zu vergessen, alles Neue ruhig auf sich einwirken zu lassen. Das hielt er auch als Reisender so. Seit Sterne (ai) seine berühmte 'Empfindsame Reise' herausgegeben hatte, waren alle Reisebeschreibungen in der Hauptsache den Gefühlen, Ansichten und kleinen Erlebnissen der Reisenden gewidmet. Zuweilen artete Das zu recht eitlem Prangen mit dem lieben Ich aus, z. B. bei Kotzebue (bi). Über dessen Berichte aus seinem Leben spottete Goethe einmal scharf:
Goethe dagegen hatte längst die Maxime ergriffen, sich bei Reisen und ihren Beschreibungen "so viel als möglich zu verleugnen und das Objekt so rein, als nur zu tun wäre, in sich aufzunehmen." Diesen Grundsatz befolgte er z. B., als er dem römischen Karneval beiwohnte. Durch die mündliche Schilderung dieses Karnevals und durch seine im Druck erschienene Be- (ai) Laurence Sterne, geb. in Clonmel, Süd-Irland, 1713 als Sohn eines Offiziers, gest.1768 in London an einem Brustleiden. Studierte 1733 in Cambridge Theologie; 1738 wurde er Vikar zu Sutton-in-the-Forset; 1759 begann er seinen "Tristram Shandy" zu schreiben. 1762 machte er eine Reise nach Frankreich, 1764 reiste er nach Südfrankreich und besuchte auch Italien. Die "Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien" erschien bald danach. |
schreibung hat er vielen Lesern und Zuhörern Freude gemacht. Und dabei gestand er dem Engländer Robinson (ai): "Nichts kann langweiliger sein als dieser Karneval! Ich habe meine Beschreibung wirklich nur gemacht, um davon loszukommen. Meine Wohnung lag am Korso; ich stand auf dem Balkon und schrieb Alles auf, was ich sah. Nicht die kleinste Kleinigkeit habe ich hinzugedichtet." Ein einfaches Mittel, aus den persönlichen Schranken zur Sachlichkeit zu gelangen, ist: die Wahrnehmungen und Auffassungen Anderer zu benutzen. Gern nahm Goethe auf einem Ausfluge einen Knaben mit, teils um dessen Freude mitzugenießen, teils um die Dinge gewissermaßen von zwei Seiten zugleich zu sehen. Als er 1796 eine neue Reise nach Italien vorhatte, hätte er gern seinen früheren Zögling Fritz v. Stein (bi) zum Begleiter gehabt; Dieser mußte jedoch seine Verhinderung anzeigen, und nun erwiderte Goethe:
Einen jungen Musiker Christian Lobe (ci), der von Weimar nach Berlin ging, forderte er auf, ihm über das dortige Theater zu berichten, aber, damit der Bericht sachlich werde, nach einem Schema: Stück - Dichter - Schauspieler - Aufnahme im Publikum - Wir- (ai) Henry Crabb Robinson, 1775-1867, englischer Tagebuchschreiber (Lebenserinnerungen), Journalist, arbeitete nur gelegentlich als Rechtsanwalt; 1808 - 1809 war er Korrespondent für die London Times. |
kung auf mich - Wirkung auf die Nachbarn und Bekannten: A., B., C. usw. Diese Sachlichkeit verlangte er immer. Sobald er merkte, daß Jemand ihn beeinflussen, von vornherein die Dinge in der erwünschten Beleuchtung erscheinen lassen wollte, konnt er ihn wohl andonnern: "Die Sache! die Sache; wie ist die?" - So wollte er es haben, wie Sulpiz Boisserée (ai) es machte, als er den alten Meister wieder zur Gotik zurückbekehren wollte: statt irgendwie dafür zu schwärmen oder nach Art eines Anwalts Beweise beizubringen, legte Boisserée ruhig eine sprechende Zeichnung nach der andern vor, bis sich Goethe gefangen erkärte. * * * Goethe war sich Dessen bewußt, wieviel er diesem fleißigen und sachlichen Betrachten verdankte. Als er nach Italien reiste, schreibt er an die Freundin Charlotte v. Stein:
So aus Regensburg am 4. September 1786. Und einige Wochen danach wiederholt er in Vicenza seine Freude, daß er falsche Ansprüche der Reisenden überwunden habe.
(ai) Johann Sulpiz Melchior Dominikus Boisserée, geb. 1783 in Köln; gest. 1854 in Bonn, war Architekt und ein bedeutender Förderer des Dombaus in Köln. |
Wenn man in alten Tagen Goethes Genialität rühmte, führte er sie wohl auf seine erworbene Sachlichkeit zurück:
So sagt er zum Kanzler v. Müller, und ähnlich zum Prinzenerzieher Soret:
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* * * Da wir Goethe zuerst und vornehmlich den Dichter sehen, so will es uns schwer in den Sinn, daß das poetische Schaffen und alles Betätigen überhaupt Goethes stärkster Trieb nicht war, daß seine "Werke" mehr nur als Folge seiner eigentlichen Leidenschaft, des eindringenden Beschauens, angesehen werden müssen. Er las einmal folgende Zeilen über sich: "Zeigt nicht jedes Blatt, daß er ein weit höheres Bedürfnis fühlt, in das innerste Wesen des Menschen und der Dinge einzudringen, als seine Gedanken poetisch auszusprechen?" Dies ungewöhnliche Urteil setzte ihn in Verwunderung; es erschien ihm aber richtig, und er wollte nur hinzugesetzt haben: "als sprechend, überliefernd, lehrend oder handelnd sich zu äußern." Wenn der Ofen geheizt wird, erwärmt er das Zimmer; was der Schriftsteller lernt, wird alsbald weitergegeben.
So sprach er zu Eckermann, und er konnte hinzufügen: |
* * * Wie sehr Goethe durch bloßes Sehen und Hören, namentlich durch bloßes Sehen, lernte, können wir Heutigen, die wir unser Wissen meist vom Papier her erlangen oder vom Auswendiglernen für die Schule zurückbehielten, uns nur schwer vorstellen. Eine Folge dieser Art des Lernens ist die besondere goethische Sprache. "Ich habe die Gegenstände ruhig auf mich einwirken lassen" antwortete er selber, als man ihn nach der Ursache seines schönen Stils fragte. Um die ihn belehrenden Gegenstände nach Wunsch sehen zu können, wurde er ein großer Sammler; von allen Reisen brachte er Schönes und Merkwürdiges heim; mit andern Sammlern tauschte er Entbehrliches aus; die Freunde regte er zu Beihilfe an, und auch Fremde wußten, daß ein Geschenk dieser Art das sicherste Mittel war, ihm Freude zu bereiten und ein freundliches Wort von ihm zu erhalten. Öffentliche Museen gab es noch sehr wenige; es lag selbst dem Landmanne, der beim Pflügen etwas Seltsames fand, der Gedanke nahe, es Goethen zu schicken. Der Dichter selber aber fahndete beständig auf wertvolle Büsten, Gemmen (ai), Münzen, Medaillen, Kuperstiche u. dgl.
(ai) Gemme, lat., Schmuckstein mit vertieft oder erhaben eingeschnittenen Figuren. |
Allein seine Mineraliensammlung umfaßte mehr als 18 000 Stücke! Selbst die Staaten- und Fürstengeschichte sah er in seinen Stuben mit Augen: wenn er nämlich seine Medaillen und Münzen nach Ländern und Zeiten ordnete und betrachtete; z. B. konnte er jeden Papst seit dem fünfzehnten Jahrhundert vorweisen und wußte unzählige Einzelheiten über die Veranlassung der einzelnen Denkmünzen. Und oft konnten Kupferstiche herbeigeholt werden, die noch genauer die Länder und Zeiten anschaulich machten. Immer strebte Goethe zuerst nach dieser Erkenntnis durch die Augen; nachher erst rief er das belehrende Buch zur Hülfe. So nahm er einmal 1400 Schwefelpasten (ai) antiker Münzen vor. "Ich habe sie so lange angesehen" schrieb er an Wilhelm v. Humboldt, "und von allen Seiten betrachtet, bis ich fremder Hülfe bedurfte: dann nahm ich Eckhels (bi) fürtreffliches Werk vor." * * * (1) Paul Heyse (ci). - Mehre Freunde klagten sogar, daß Goethe sich naturwissenschaftliche oder künstlerische Merkwürdigkeiten von ihnen angeeignet habe, die sie nicht als Geschenk gemeint hatten. Sich selbst bereichern wollte er nicht,denn der Geldwert seines Museums kam ihm selten in den Sinn: erst 1831 dachte er einmal daran, es an die Großherzogin Marie zu verkaufen; vielmehr waren diese Sammlungen, die jedem Liebhaber zugänglich waren, ein Opfer von ihm für die Gemeinschaft. In seinem Testamente von 1831 erklärte er, daß er seit 60 Jahren wenigstens 100 Dukaten jährlich (960 M.) für den Ankauf von Kunstwerken und Seltenheiten verwandt habe. |
Da der Tag "grenzenlos lang ist", so fand Goethe aber auch unzählige Stunden zum Lesen. Er hat einmal darüber gescherzt, wieviel Zeit und Mühe ihm das Lesenlernen gekostet habe und daß er kaum mit achtzig Jahren es richtig könne. Wir wissen, wie er im Februar 1828 die Biographie Napoleons von Walter Scott (ai) durcharbeitete. Nach jedem Kapitel fragte er sich, was er Neues empfangen, was ihm die Erinnerung zurückgerufen ward; dann fügte er Selbsterlebtes zu Walter Scotts Berichten hinzu, so daß er bald selber nicht mehr wußte, was er im Buche gefunden und was er hineingetragen habe.
Das ist ganz im Einklang mit seiner Lehre: "Jedes gute Buch versteht und genießt Niemand, als der supplieren (bi) kann. Wer etwas weiß, findet unendlich mehr, als der erst lernen will." Man muß freilich auch supplieren und dem Verfasser gelehrter Werke ebenso wie dem Künstler nachhelfen wollen! Goethes langjähriger Mitarbeiter Riemer (ci) urteilte von seinem Meister, er sei einer von den gutwilligen Lesern gewesen, die das Brot des Autors mit der Butter guten Willens überstreichen und so die Lücken zukleben, wenn sie nicht gar zu groß (ai) Sir Walter Scott, geb 1771 Edinburgh; gest. 1832 in Abbotsford; war ein europaweit bekannter schottischer Schriftsteller, der Historienromane schrieb. |
sind; dagegen habe Goethe von seinem Freunde Reinhard (ai) gesagt; "Der ißt das Brot trocken; da kann er freilich sonderbare Dinge erzählen von Dem, wie es ihm geschmeckt!" Ein gewöhnlicher Fehler der Lesenden ist, daß sie bei Eintritt in ein neues geistiges Gebiet in falschem Stolze die Schülerbücher meiden und sogleich die höchsten Probleme erfassen möchten. "Ist Das nicht ein starker Beweis von Unwissenheit?", fragte Soret, und Goethe antwortete: "Jawohl, mein Freund; ich bin auch der Ansicht; daran erkennt man die Esel. Das sind die Spitzen ihrer Ohren!" Die üblichsten Verirrungen der Lesenden ist jedoch ihr Bestreben oder Versuch, Alles zu lesen, was von altersher berühmt ist und wovon jetzt gerade die Leute reden oder was der Zufall vor die Augen schiebt.
Nicht das Neuigkeits-Verschlingen, sondern das fleißige, treuliche Umgehen mit dem uns gemäßen (ai) Karl Friedrich Graf von Reinhard, 1761 - 1837, Schriftsteller, Staatsmann. |
Großen bildet uns in die Höhe. Wenn Goethe die Kupfer nach den berühmtesten italienischen Malern betrachtete, so bekannte sogar er:
Immer wieder Raffael (ai) zu betrachten, mahnte er auch Eckermann, damit er im Verkehr mit dem Besten bleibe und sich immerfort übe, die Gedanken eines hochen Menschen nachzudenken.
So hielt er es auch mit den Dichtern. Bei Homer und den griechischen Dramatikern ging er immer wieder in die Schule; ja sogar von dem Romane 'Daphnis und Chloe' des Longos (bi) urteilte er: "Man tut wohl, dies Gedicht alle Jahre einmal zu lesen und immer wieder daran zu lernen den Eindruck seiner großen Schönheit auf's neue zu empfinden." Ebenso konnte er über Shakespeare oder Byron urteilen, und wenn man wegen des Letzteren Einwendungen machte, so erwiderte er: "Alles Große bildet, nicht etwa bloß das entschieden Reine und Sittliche; an Byron ist auch seine Kühnheit, Keckheit, Grandiosität bildend." Von Molière bekannte er 1827: "Ich kenne und liebe ihn seit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich von ihm (ai) Raffael, ital. Raffaello Santi, lat. Raphael Urbinas, Raphael Sanctius, italianisiert: Raffaello Sanzio; geb. 1483 in Urbino; gest.1520 in Rom; italienischer Maler und Architekt. (bi) Longo ist ein Dichter, von dem wir nur den Namen und sein Jahrhundert kennen. Er hat den schönsten Liebesroman der ganzen alten Welt geschrieben. Goethe nennt die kurze Prosaerzählung ein Gedicht und sagt, es sei "so schön, daß man den Eindruck davon, bei den schlechten Zuständen, in denen man lebt, nicht in sich behalten kann, und daß man immer von neuem erstaunt, wenn man es wieder liest. Es ist darin der helleste Tag ...". Paul Louis Courier de Méré, geb. in Paris 1772; gest. 1825; Schriftsteller, ging nach einer militärischen Laufbahn 1809 nach Italien, um seine philologischen Forschungen fortzusetzen. Er entdeckte in Florenz ein vollständiges Exemplar des Romans "Daphnis und Chloe" von Longos, das er 1810 herausgab. Inhalt des Romans 'Daphnis und Chloe': In der von Raub und Seeraub beherrschten antiken Mittelmeerwelt finden sich ein Junge und ein Mädchen aus vornehmen Hause als arme Hirten auf der Insel Lesbos wieder. In einer Welt, in der nur ihre Tiere, der eine oder andere alte Schäfer und die Götter der Fluren ihre Gesellschaft sind, entdecken sie die Liebe schrittweise und ahnungsvoll, glücklich und schmerzlich. (ci) Molière, eigentlich Jean-Baptiste Poquelin, französischer Dramatiker, Schauspieler und Theaterdirektor, getauft Paris 1622, gest. ebenda 1673; Sohn eines wohlhabenden Tapezierers, der auch königlicher Hofbeamter war; studierte die Rechte in Orléans und erwarb dort die Lizenziatenwürde; gründete 1643 die Schauspielertruppe des "L'illustre Théâtre". |
einige Stücke zu lesen, um mich im Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten." Einmal meinte er: "Man sollte eigentlich immer nur Das lesen, was man bewundert," und an einem andern Tage: "Es kommt immer darauf an, daß Derjenige, von dem wir lernen wollen, unserer Natur gemäß sei. - - Überall lernt man nur von Dem, den man liebt." Ein sehr wertvoller Rat Goethes war schließlich:
* * * Das Lernen und Unterrichten war zu Goethes Zeit viel freier, freiwilliger und ungeregelter als heute; Goethe nutzte diese schöne Freiheit auch dadurch aus, daß er zeitlebens ebenso Lehrer war wie Schüler. Schon als Kind verriet er seine lehrhafte Natur: als ihm 1759 ein sechsjähriges Brüderchen starb und er darüber nicht weinte, fragte in seine Mutter, ob er denn den kleinen Hermann Jakob nicht lieb gehabt habe; da eilte Wolfgang in seine Kammer, zerrte unter dem Bette eine Menge Papiere hervor, die er mit Lektionen und Geschichten vollgeschrieben hatte. "Dies alles hab ich gemacht, um es den Bruder zu lehren!" Später belehrte er die Schwester und bald auch alle Freunde und Freundinnen, die sich ihm lernlustig |
nahten. Zuweilen auch Heranwachsende: Die Schüler der Zeichenschule, seinen Pflegesohn Fritz v. Stein, seinen Sohn August, jugendliche Schauspieler und Schauspielerinnen, aus denen er eine Theaterschule bildete. Die verschiedensten Fächer lehrte er: Zeichnen, Malen, Englisch, Botanik, Farbenlehre, Anatomie, Deklamation, deutsche Literatur. Manches Jahr waren den Winter über die weimarischen Fürstinnen, ihre Hofdamen und nächste Freundinnen, wie Charlotte v. Stein und Charlotte v. Schiller, seine Schülerinnen; sie kamen einmal die Woche, z. B. im Winter 1805/06 Mittwochs vormittags von elf bis ein Uhr, und Goethe hatte dann immer etwas für sie zum Vorzeigen zurechtgelegt und zum Vortragen überdacht. Er sprach frei nach Stichworten, manchmal mit der Hand über die Stirn fahrend, während er denkend redete. Fräulein v. Knebel berichtet einmal an ihren Bruder: "Er sprach so reich, reif und mild, daß ich wirklich noch nie so habe sprechen hören. Ich wünschte, er hätte die Rede aufgeschrieben; mich dünkt, sie allein müßte ihm den Ruhm eines seltenen Menschen machen." Mit gutem Grunde widmete Goethe seine 'Farbenlehre' der Herzoging Luise und sein 'Leben Hackerts' der Herzogin Amalie. Zu seinen fürstlichen Schülerinnen gehörte auch die junge kranke Kaiserin von Österreich, Maria Ludowika (ai). Goethe betont auch hier sein Streben nach eigenem Vorteil. "Ich hielt niemals einen Vortrag, ohne daß ich dabei gewonnen hätte" erzählte er in der 'Kampagne in Frankreich': "gewöhnlich gingen mir unter'm Sprechen neue Lichter auf." Und Zelter schrieb er (ai) Maria Ludwika, Marie Louise Kaiserin von Frankreich, geb. Wien 1791, gest. Parma 1847; Tochter Kaiser Franz II., gegen ihren Willen 1810 mit Napoleon verheiratet. |
1805 über die erwähnten Mittwochsvorträge: "Ich werde bei dieser Gelegenheit erst gewahr, was ich besitze und nicht besitze." Als die 'Farbenlehre' nicht reckt rücken wollte, meinte er zu Knebel: "Wenn ich genötigt wäre, diese Lehre nur zwei halbe Jahre öffentlich zu lesen, so wäre Alles getan. Aber die Gelehrsamkeit auf dem Papiere und zum Papiere hat gar zu wenig Reiz für mich." * * * Das beständige Lernen führt Menschen, selbst wenn er durch das Verwenden zum eigenen Vortrag Richtung behält, nur zur Vielwisserei, zum Ansammeln von Einzelheiten und Kleinigkeiten. "Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band!" Goethe war zur Vielgelehrsamkeit nach Böttiger (ai) Art zu sehr Dichter, zu wenig Kleinigkeitsphilister. Er suchte stets im Einzelnen das Allgemeine, in der "zufälligen" Erscheinung das Gesetz, im Wechselnden das Bleibende. "Wir befinden uns in einem Chaos von Kenntnissen, und Keiner ordnet es; die Masse liegt da, und man schüttet zu; aber ich möchte es machen, daß man wie mit einem Griff hineingriffe und Alles klar würde." Die Natur läßt sich zwar ihre letzten Geheimnisse nicht abzwingen, aber dann und wann gelingt es uns, den Schöpfergedanken näher zu kommen. Und eben Das war sein Streben bei aller gelehrten Arbeit. Andere wieder verlieren sich, um zu großen Wahrheiten zu gelangen, in methaphysischen Phantasien, im Aufbauen philosophischer Systeme oder in okkultistischen (ai) Böttiger, Johann Friedrich, geb. Schleiz 1682, gest. Dresden 1719, Apotheker und Alchimist; musste wegen "Goldmacherei" aus Preußen fliehen und wurde von August dem Starken deshalb gefangen gehalten. Es gelang ihm die Herstellung des roten Böttgersteinzeugs und 1708/09 des weißen Porzellans; daraus resultiert Gründung der Meißener Porzellan-Manufaktur. |
Träumereien. Dazu war Goethe wieder zu sehr Naturforscher: Erfahrung, Beobachtung, Versuch sollten ihm zur Erkenntnis verhelfen. Vor dem Okkultismus hütete er sich, obwohl er manche seiner Lehren durchaus nicht leugnete.
Aber er mochte doch nie eine Somnambule (ai) sehen, auch dann nicht, als der Ruhm der Seherin von Prevorst (bi) seine Umgebung sehr beschäftigte. Er kannte die Gefahr solcher Studien. "Man wird selbst zum Traum, zur Niete, wenn man sich mit diesen Phantomen beschäftigt" schrieb er schon 1788 an Herder, der, wie seine Gattin, recht abergläubisch war. Und 1830 meinte er auch zum Kanzler:
Gegen die Philosophen und ihre "Ideen" war er gleichfalls sehr mißtrauisch. Schiller hatte ihn zuerst durch sein wüstes Jugenddrama abgestoßen; als dann der Dichter der 'Räuber' auch noch Kantianer (bi) wurde, (ai) Somnambule, Schlafwandlerin, Schlafwandler |
empfand ihn Goethe erst recht als Geistes-Gegenfüßler, mit dem ein Verkehr unmöglich sei. Aber ihr beiderseitiges Suchen nach großen Anschauungen mußte sie dennoch zusammenführen. Sie hörten in Jena einmal einen naturwissenschaftlichen Vortrag; beim Hinausgehen kamen sie in ein Gespräch, wobei Schiller bemerkte, daß eine so zerstückelte Art, die Natur zu behandeln, den Laien nicht anmuten könne. Goethe horchte auf. Auch dem Eingeweihten bleibe bleibe diese zerstückelte Art vielleicht unheimlich, war seine Antwort, und vielleicht könne man es auch anders machen. Man brauche nicht die Natur gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern könne sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend, darstellen. Schiller sah ihn ungläubig an, denn Dergleichen glaubte er den Philosophen vorbehalten, zu denen doch Goethe nicht gehören wollte. So schritten sie weiter, bis an Schillers Haus, bis in sein Zimmer, und dort trug dann Goethe die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor, indem er mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor Schillers Augen entstehen ließ. Dieser hörte mit lebhafter Teilnahme zu; aber als Goethe geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: "Das ist keine Erfahrung, Das ist eine Idee!" Nun stutzte Goethe, einigermaßen verdrießlich. Sein alter Groll gegen die Philosophierei wollte sich wieder regen, aber er nahm sich zusammen und antwortete: "Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe." Und die nächsten Tage trug er sich mit der Frage: Wenn er Das für eine Idee hält, was ich als |
Erfahrung anspreche, so muß doch zwischen beiden eine Vermittelung sein? - So begann ein zehnjähriger Umgang; Beide waren Lehrer und Schüler; Goethe entwickelte die philosophischen Anlagen, die seine Natur enthielt, und eignete sich noch recht ansehnliche Kenntnisse auf diesem Gebiete an. Aber 1829 konnte er jedoch ohne viel Übertreibung zu Eckermann sagen: "Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei gehalten; der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige." * * * Das fruchtbarste Lernen ist die Überwindung des eigenen Irrtums. Wer keinen Irrtum eingestehen will, kann ein großer Gelehrter sein, aber er ist kein großer Lerner. Wer sich des Irrtums schämt, der sträubt sich, ihn zu erkennen und zuzugeben; d. h. er sträubt sich vor einem besten innerlichen Gewinn. Da Jedermann irrt, da die Weisesten geirrt haben, so haben wir keinen Grund, unsern Irrtum als etwas Schändliches zu empfinden.
"Irrend lernt man!" rief Goethe seinem Sohne August zu, als Dieser Einkäufe bei der Frankfurter Anti- |
quaren machen sollte und sich vor dem Betrogenwerden fürchtete. Und als Frau Grüner in Eger (ai) klagte, ihr Mann, den Goethe mit mineralogischen Neigungen angesteckt hatte, bringe so viele gemeine Steine mit nach Hause, neben den wenigen schönen, und verkratze die Tischplate damit, da erwiderte Goethe: "Machen Sie sich nichts daraus! Ich habe auch manche Fuhre zur Verbesserung der Wege wieder hinausgeschafft. Die Sache läutert sich und macht uns Vergnügen, wenn wir eines Besseren belehrt werden." Schon 1804 sprach Goethe in einem Briefe an Eichstädt (bi) den kühnen Gedanken aus, daß man sogar am offenbaren Irrtum Wohlgefallen haben dürfe:
Das Erkennen eines eigenen Irrtums oder einer eigenen Schwäche macht uns namentlich auch duldsam und freundlich gegen andere Irrende. "Eigener Fehler enthält Demut und billigen Sinn" steht von Goethes Hand im Stammbuche seines Schülers Fritz v. Stein. (ai) Der erste Gelehrte, welcher sich mit dem Felslabyrinth der Luisenburg (Luxburg - Luisenburg - nach Königin Luise von Preußen, Granit-Blockmeer) im Fichtelgebirge näher beschäftigte, war Goethe. Im Jahre 1785 reiste Goethe mit Karl Ludwig v. Knebel zu naturwissenschaftlichen Studien ins Fichtelgebirge. Diesem Entschluß vorausgegangen war sein in Karlsbad und Eger (heute Cheb) erwachtes Interesse für Meterologie, Botanik und Landschaftsgeologie. Goethes dritte und letzte Reise 1822 ins Fichtelgebirge war geprägt durch seinen Besuch bei Wolfgang Caspar Fikentscher, dem Besitzer der ältesten europäischen chemischen Fabrik, die ihren Sitz in Marktredwitz hatte. Goethe erhoffte sich, durch ihn spezielle Gläser für das Naturalienkabinett in Jena erwerben zu können. Begleitet wurde Goethe von Joseph Sebastian Grüner, einem Polizeirat aus Eger und zugleich gutem Freund des Fabrikanten. |
Trotzdem gibt Goethe zu, daß es nicht so ganz leicht sei, sich von einem Irrtum zu trennen; "Man zaudert und zweifelt und kann sich nicht entschließen, so wie es schwer hält, sich von einem geliebten Mädchen loszumachen, von deren Untreue man längst wiederholte Beweise hat." Aber es bleibt dabei: der Fehler nützt uns erst, wenn wir ihn erkennen. * * * |