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Goethes Lebenskunst

von Wilhelm Bode,
E. S. Mittler & Sohn
Berlin 1922
8. Auflage, 26. - 29. Tausend

XIV. Kapitel



Als Goethe im Alter die Lebensgeschichte des englischen Dichters Sterne (ai) las, fiel ihm darinder Ausdruck the ruling passion auf. Unter unsern Trieben reißt einer die Führung an sich und bestimmt dann vor den andern unser Handeln und Erleben. Menschen, die eigentlich die gleichen Anlagen haben, entwickeln sich sehr verschieden, je nach der Eigenschaft, die zur Herrschaft gelangt: im Ersten waltet der Ehrgeiz vor, im Zweiten die Vorsicht, im Dritten das Verlangen nach Genüssen, im Vierten der Drang zur Tätigkeit usw. Wenn wir die Summe von Goethes langem Leben ziehen, so müssen wir als sein größtes geistiges Bedürfnis: das Lernen nennen.

Zuerst zeigte sich dieser Trieb, wie bei uns allen, als kindliche Wißbegier und sehr bald auch als Stolz auf die zu Tage tretende große Begabung und seine ungewöhnlichen Kenntnisse. Zeitweilig erscheint der Jüngling als ein eingebildeter junger Gelehrter: man sieht ihn auf dem Wege zum hochberühmten Professor. Aber das vom Vater ihm auferlegte Fach sagte ihm wenig zu, und von sich aus erwählt er auch keine andere Wissenschaft mit Entschiedenheit. Sein Wissen und Können ist ein zerstreutes; er ist ein Liebhaber in allerlei Gebieten; den Doktorgrad, genauer den Lizentiatengrad, erwirbt er nur auf die bequemste Weise und ohne Ehre.




(ai) Sterne, Laurence, englischer Schriftsteller, geb Clonmel 1713, gest. London 1768; entstammte einer dem angloirischen Landadel angehörenden mittellosen Familie; nach Theologiestudium in Cambridge, ab 1741 Pfarrer, später Domherr in Yorkshire.




Die gelehrten Pedanten haßt Jeder, der vor ihnen nicht bestehen kann, aber freilich hatte Goethe ein angeborenes Recht, sich für einen Besseren zu halten. Er ward sich des "Genies" bewußt, eines höheren, wo nicht göttlichen Geistes, der kürzere oder längere Zeit bei oder in uns wohnt, uns ungewöhnliche, unbegreifliche Kräfte gibt und uns höhere Erkenntnisse vermittelt. Dies Genie braucht der damit Begglückte nur walten zu lassen; er braucht nur die Vorbedingungen zu schaffen, daß dieser Anhauch Gottes ungestört, ungehemmt stattfinden kann. Er wird also seine Kraft nicht verzehren, seinen Geist nicht verdummen mit beständigem Lesen und Schreiben.

Das Pergament, ist Das der heil'ge Bronnen,
Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt?
Erquickung hast du nicht gewonnen,
Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.

Es ist kein Zufall, daß gerade Goethe von allen Dichtern uns am eindringlichsten den Drang nach Erkenntnis vor die Sinne und Seele gebracht hat: Faust in den ersten Szenen des großen Dramas ist durch ihn die persönliche Gestaltung des stärksten und höchsten Lernenwollens geworden. Diesen faustischen Drang fühlte Goethe selber:

Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau' alle Wirkenskraft und Samen.

In seinen jüngeren Jahren nannten ihn die Leute oft ehrgeizig; aber was sie für Ehrgeiz hielten, war sein Bedürfnis, ein großes Stück Welt erkennend in sich auf-





zunehmen, es zu verarbeiten, es zu durchleuchten, sich mit der Welt zu vereinigen.

Sein Leben wurde freilich durchaus kein faustisches.

"Ich bin nur durch die Welt gerannt" sagt Faust, auf Jahrzehnte zurückschauend;

Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und abermals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durchgestürmt: erst groß und mächtig,
Nun aber geht es weise, geht bedächtig . . .

Goethe resignierte schon in jungen Jahren. Er hatte zwar stets Ursache, das Genie zu verehren und die goldnen Gaben dankbar hinzunehmen, die den Sonntagskindern von oben zufallen; aber er ehrte auch den Fleiß und sammelte die Groschen und Pfennige, die die Tagesarbeit uns einbringt. Er hätte gern die höchsten Erkenntnisse vom Himmel heruntergeholt und mit Gott selber über die Geheimnisse der Schöpfung geredet; aber er begnügte sich und freute sich, wenn er die "Urphänomene" fand, die Haupt- und Grunderscheinungen in allem Weltgeschehen, das Letzte, was vor Gott steht.

Durch sein ganzes Leben betrieb Goethe dies bewußte Lernen. "Die Sachen anzusehen, so gut wir können" riet er schon bei Vollendung seines einundzwanzigsten Jahres einem noch jüngeren Bekannten, "sie in unser Gedächtnis schreiben, aufmerksam zu sein und keinen Tag, ohne etwas zu sammeln, vorbeigehen zu lassen. . . . Dabei müssen wir nichts sein, sondern alles werden wollen."





Und die gleiche Lernlust zeigt noch der Vierundsiebzigjährige, wenn er dem jungen Bonner Mineralogen Nöggerath (ai) bestellen läßt: "Wie gern durchzög' ich die Eifel mit ihm zu klarem Schauen Dessen, was immer noch als Problem vor mir steht! Warum bin ich nicht mehr so leicht auf den Füßen als zur Zeit, wo ich die unnützen Reisen in die Schweiz tat, da man glaubte, es sei was Großes getan, wenn man Berge erklettert und angestaunt hätte!"

Goethe forschte und lernte bis zum letzten gesunden Tage; in seiner Arbeitsstube zeigt man heute noch ein Häuschen Gartenerde, das der Alte sich heraufholen ließ, um daran etwas Neues zu beobachten.

* * *

Diese Lernlust zeigte sich namentlich als Aufmerksamkeit auf alles Belehrende. Die Aufmerksamkeit nannte Goethe "das Höchste aller Fertigkeiten und Tugenden" und er meinte, Nichts sei so leicht zu erreichen und so wohlfeil zu erhandeln als Kenntnis und Wissen: "Die ganze Arbeit ist ruhig sein, und die Ausgabe Zeit, die wir nicht retten, ohne sie auszugeben." Goethe ermahnte sich und Andere zwar immer wieder, nur an Dem Interesse zu nehmen, worin man praktisch etwas leisten könne, aber es lag doch in seiner innersten Natur, daß er an unzähligen Dingen der Welt teilnahm.

Da Goethe sich den Besuch so vieler Menschen gefallen lassen mußte, unter denen auch viele Unbeholfene waren, die von sich aus nichts Anregendes vorbrachten, so machte er es sich selber zur Regel, derartige Gäste




(ai) Johann Jacob Nöggerath, (1788-1877), Mineraloge, Geologe und Bergbaufachmannbesuchte Goethe am 19./20. Oktober 1828 in Weimar




als Lehrer oder Lehrmittel zu benutzen. Es kam etwa ein bayrischer Verwaltungsbeamter, um ihn anzuglotzen und nachher seine Bemerkungen über den berühmten Mann zu machen; Goethe zwang ihn, alle Einzelheiten des Feuerlöschwesens in seiner Heimat vorzutragen. Ein ander Mal erschien ein vornehmer Engländer, der früher Gouverneur von Jamaika gewesen war, Sir Michael Clare. Am Abend stand dann in seinem Tagebuche: "Sehr erfreut der Bekanntschaft mit Lord und Lady N. N.; sie gab mir erwünschte Gelegenheit, meine Kenntnisse der Zustände von Jamaika ziemlich vollständig zu rekapitulieren."

Allerdings glückte dies Verfahren nicht immer. so wurde eines Tages Goethe von seinem Sohne gebeten, einen Jenaer Studenten namens Rumpf, den August vom Burgkeller her kannte, anzunehmen und auch zum Essen dazubehalten. Der junge Mann wurde freundlich empfangen. Er möge weiter erzählen:

Bald saß ich ihm in seinem einfachen Studierstübchen gegenüber, während er beschäftigt war, still ein mäßiges Blatt Papier zurechtzuschneiden, und betrachtete voll Aufmerksamkeit ihn selber, soweit seine Umgebung, seine Bücher und umherliegende Steine. August hatte mich sogleich verlassen und war zu den Hausgenossen gegangen.

So war ich mit Goethe ganz allein. Wie pries ich mich glücklich! Jetzt war er mit seinem Papierschneiden fertig und wandte sich zu mir: "mein August schreibt mir, daß Sie ein Oldenburger wären?"

"Ein Oldenburer, Exzellenz."
"Gut. Was brennen Sie da?"
"Fast nur Torf."
"Wie in Ostfriesland, nicht wahr?"





"Ich glaube, Exzellenz" war meine Antwort.
"Wie wird der Torf dort gewonnen?"
"Er wird - er wird aus der Erde gegraben."

Das wußt' ich schon, daß er nicht von den Bäumen gepflückt wird! Ich will zunächst genau wissen, mit welcher Art von Instrumenten er aus dem Boden gehoben wird? Wann gräbt man ihn? Wie lange läßt man ihn trocknen? Wie lange Zeit bedarf er dazu? Und wie ich schon eben sagte, wie ist solch ein Werkzeug gestaltet, womit man den Torf bei Ihnen gräbt? Nun sagen Sie mir und zeichnen sie mir doch einmal die Form genau hier auf das Papier. Hier haben Sie einen Bleistift dazu."

"Nun, können Sie Das nicht zeichnen?" fuhr er dann fort, da ich noch verblüfft schwieg. "So beschreiben Sie es mir wenigstens, Sie sehen ja, daß ich mich dafür interessiere."

Ich beharrte in festem Schweigen. So einen Torfsoden hatte ich zwar oft genug gesehen und sogar in der Hand gehabt, beim Ofenheizen. Aber da ich aus der einen echten Marsch stammte, so war mir doch die eigentliche Gewinnung des Torfes völlig fremd.

"Sie brennen also den Torf täglich und wissen dennoch nichts davon wie er gewonnen wird? Junger Mann, Das mögen sie offen gestehen?"

Mit durchdringendem Blicke sah Goethe mich an, und ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopfe stieg. - ein eisiges Schweigen folgte! Mir ward es immer ungemütlicher. Goethe nahm ein Buch zur Hand und blätterte darin, bis der Diener kam und meldete, daß das Essen bereit sei. Bei Tische waren noch Frau Christiane v. Goethe und August zugegen. Den zog der Vater ins Gespräch und unterhielt sich sehr lebhaft mit ihm. Mich ignorierte er völlig.

Goethe hatte durch dieses Ausfragen viele Freuden; zum Beispiel machte er auf solche bequeme Weise große Reisen. Als der Berliner Parthey (ai) bei ihm zu Tische war und von seinem Aufenthalte im Morgenlande




(ai) Daniel Friedrich Parthey, (1798-1872), in Berlin ansässiges Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Sein Vater Gustav Parthey (1745-1822) war 1774 Hauslehrer im Hause Medem in Mitau und Hofrat im Generalfinanzministerium in Berlin. Er war der einzig überlebende Enkel und Nachfolger des einst von Goethe so sehr angefeindeten Friedrich Nicolai. "Daß lange leben so viel heißt, als viele überleben'', hatte Goethe am 26. März 1816 an Zelter geschrieben, aber sein langes Leben löste in Harmonie manche Dissonanzen seiner jungen Jahre auf. Er überlebte seine alten Berliner Gegner und trat in freundschaftliche Beziehungen zu manchen ihrer Nachkommen. Nun trat er auch zu Nicolais Nachkommen in freundschaftliche Berührung. Parthey war der einzig überlebende Enkel der großen Nicolaischen Nachkommenschaft und seit 1825 der Nachfolger in der Buchhandlung. Nachdem er weite Reisen durch Europa und den nahen Orient gemacht hatte, besuchte er Goethe im August 1827 mit Empfehlung von Zelter. Goethe interessierte sich sehr für die besuchten Länder und ließ sich ausführlich darüber berichten. Parthey hat diesen Besuch bei Goethe in einem Privatdruck an seine Freunde verewigt: "Ein verfehlter und ein gelungener Besuch bei Goethe 1819 und 1827. Berlin 1862.'' Schon vorher, am 23. Juli 1823 hatte seine Mutter mit seiner Schwester Lili und einer Tante Goethe in Marienbad besucht.




sprach, da wollten die Andern nur hübsche Leckerbissen von ihm haben, abenteuerliche und rührende Anekdoten hören; aber der alte Meister wehrte sie ab, und Parthey mußte ihm drei Tage hindurch seine ganze Reise Schritt für Schritt schildern.

Der Architekt Wilhelm Zahn (ai) kam 1827 nach Weimar mit den schreckhaftesten Vorstellungen über des Dichters Unzugänglichkeit; trotzdem wagte er sich in das Haus.

Auf dem Flure trat mir ein Diener entgegen, dem ich meinen Namen nannte: "Zahn, Maler und Architekt."
"Maler und Architekt!" wiederholte mechanisch der Diener, indem er mich zweifelhaft musterte.
"Sagen Sie Sr. Exzellenz: Aus Italien kommend."
"Aus Italien kommend" wiederholte Jener und entfernte sich, worauf er alsbald zurückkehrte und mich bat, ihm zu folgen.

Bald saß Zahn dem Gefürchteten gegenüber.

"Waren also in Italien?"
"Drei Jahre, Exzellenz."
"Haben vielleicht auch die unterirdischen Stätten bei Neapel besucht?"
"Das war der eigentliche Zweck meiner Reise. Ich hatte mich in einem antiken Hause zu Pompeji behaglich eingerichtet, und während zweier Sommer geschahen alle Ausgrabungen unter meinen Augen."
"Freut mich! Höre das gern" sagte Goethe, der eine gedrungene Redeweise liebte und gern die Pronomina wegließ. Er rückte mit seinem Stuhle mir näher und fuhr dann lebhaft fort: "Habe den Akademien zu Wien und Berlin mehrere Male geraten, junge Künstler zum Studium der antiken Malereien nach jenen unterirdischen Herrlichkeiten zu schicken; um so schöner, wenn Sie Das auf eigene Hand ge-




(ai) Im September 1827 kam der junge Maler und Archäologe Johann Karl Wilhelm Zahn nach Weimar und verbrachte dort einige Abende im Gespräch mit Goethe. Zahn zeichnete diese Gespräche auf.




tan. Ja, ja! das Antike muß jedem Künstler das Vorbild bleiben. Doch vergessen wir das Beste nicht! Haben wohl einige Zeichnungen in Ihrem Reisekoffer?"
"Ich habe die schönsten der antiken Wandgemälde meist gleich nach der Entdeckung durchgezeichnet und farbig nachzubilden gesucht. Wünschen Exzellenz vielleicht einige davon zu sehen?"
"O gewiß, gewiß!" fiel Goethe ein, "mit freudigem Danke. Kommen Sie nur zum Essen wieder. Speisen gegen zwei Uhr. Werden noch einige Kunstfreunde finden. Sehne mich ordentlich nach Ihren Bildern. Auf Wiedersehen, mein junger Freund!" - -

So ergriff er auch jede Gelegenheit, sich zum Erfassen der besten Musik zu bilden. Er richtete sich während der napoleonischen Zeit einen eigenen bescheidenen Singechor ein; von ihm hörte er mit seinen Hausgenossen jeden Sonntagmorgen geistliche und weltliche Gesänge. Als Goethe im Winter 1818 auf 19 drei Wochen in Berka (ai) zubrachte, mußte ihm der Organist Schütz dort täglich drei bis vier Stunden vorspielen, und zwar in historischer Reihenfolge Sebastian Bach bis zu Beethoven durch Philipp Emanuel Bach, Händel, Haydn, Mozart, auch Dussek (bi) und dergleichen mehr. Zugleich studierte er musiktheoretische Schriften. Und noch, als den Achtzigjährigen das Spiel des jungen Felix Mendelssohn entzückte, mußte ihm der Knabe die ganze Entwicklung der Musik vordozieren und vorspielen.

Und das sitzt er in einer dunkeln Ecke wie ein Jupiter tonans (ci) und blitzt mit den alten Augen. - -

So hielt er es in Allem. Fuhr er mit Eckermann spazieren, so mußte Dieser ihm lange Vorträge über




(ai) Kurstadt Bad Berka in Thüringen
(bi) Johann Dussek (1761 - 1812) Böhmischer Komponist und Klaviervirtuose
(ci) Jupiter, römischer Mythos: höchster römischer Gott, Herr des lichten Himmels = Jupiter Lucetius, des Blitzes und Donners = Jupiter Tonans, sowie Regenspender = Jupiter Pluvialis.



die Lebensweise seiner geliebten Vögel halten, und im Garten nahmen sie einmal die ganze Lehre vom Bogenbau und Bogenschießen sehr gründlich durch, weil Das auch ein Steckenpferd Eckermanns war. Und der Sechsundsiebzigjährige suchte auch dieser Übung noch Herr zu werden:

Goethe schob die Kerbe des Pfeils in die Sehne, auch faßte er den Bogen richtig, doch dauerte es ein Weilchen, bis er damit zurecht kam. Nun zielte er nach oben und zog die Sehne. Er stand da wie ein Apoll, mit unverwüstlicher innerer Jugend, doch alt an Körper.

Schon als Student schaute er auf seinen Wanderungen nicht bloß nach schönen Mädchen und guten Weinen aus, sondern kümmerte sich recht sorgsam z. B. um den Gewerbefleiß an der Saar oder die Altertümer bei Niederbronn. Im Alter schreibt er einmal an seinen August, er treibe in Böhmen seinen alten Spaß noch immer fort: in jeder Mühle nachzufragen, wo sie ihre Mühlsteine hernehmen. In Wiesbaden richtete er seine Spaziergänge gern zu Steinbrüchen und auf Bauplätze; so bekam er nämlich eine schnellere Übersicht über den Grundbau der Gegned, als der Laie vermutet. Und an jedem Orte fragte er nach kundigen Leuten, die ihn belehren konnten. Jena liebte er auch darum, weil er dort so viele kenntnisreiche Männer fand. An die dortigen Professoren dachte er besonders, als er 1818 zum Kanzler v. Müller und zur Julie v. Egloffstein (ai) sagte: "Seht, liebe Kinder, was wäre ich denn, wenn ich nicht immer mit klugen Leuten umgegangen wäre und von ihnen gelernt hätte? Nicht aus Büchern, sondern




(ai) Julie Gräfin von Egloffstein.(1792-1869).




durch lebendigen Ideenaustausch, durch heitere Geselligkeit müßt ihr lernen."

Er selber lernte freilich auch aus Büchern und will hier im Ernste nichts gegen Bücher sagen; nur zog er eigene Anschauung und mündliches Ausfragen vor. Und da nahm er als Lehrer nicht nur Männer an wie die Humboldts, Schiller, Friedrich August Wolf (ai), Voß, Fichte, Schelling, sondern der schlichteste Bergmann oder Seidenweber oder Hafenarbeiter oder Gärtner war ihm ebenso recht. Und wenn so ein Mann aus dem Volke bescheiden meinte, daß er mit seinen einfältigen Worten den berühmten Herrn nicht aufhalten dürfe, antwortete er: "Erzählen Sie! es gibt nichts Unbedeutendes in der Welt. Es kommt nur auf die Anschauungsweise an."

Einmal machte er ein halbes Kind zu seinem Lehrer. In Ziegenhain bei Jena zeichnete sich nämlich eine Familie Dietrich durch botanische Kenntnisse aus; sie sammelte Arneikräuter und besorgte für die botanischen Vorträge in Jena die nötigen Pflanzen. Den jüngsten dieser bäurischen Fachgelehrten nahm Goethe 1785 nach Karlsbad mit; schon unterwegs brachte der Jüngling mit eifrigem Spürsinn alles Blühende zusammen und reichte es Goethen in den Wagen, "dabei nach Art eines Herolds die Linnéischen Bezeichnungen, Geschlecht und Art, mit froher Überzeugung, manchmal wohl mit falscher Betonung" ausrufend. In Karlsbad war der Knabe schon mit Sonnenaufgang im Gebirge und, ehe Goethe noch seine Becherzahl geleert hatte, war er mit seinem Bündel am Brunnen, und manche




(ai) Friedrich August Wolf, klassischer Philologe und Pädagoge, geb. Haynrode, Kreis Eichsfeld, 1759, gest. Marseille 1824; legte den Grund zu einer umfassenden Altertumswissenschaft.




Kurgäste nahmen neben dem Dichter an dem seltsamen Unterrichte teil. "Sie sahen ihre Kenntnisse auf das anmutigste angeregt, wenn ein schmucker Landknabe im kurzen Westchen daherlief, große Bündel von Kräutern und Blumen vorweisend, sie alle mit Namen, griechischen, lateinischen, barbarischen Ursprungs, bezeichnend." Der junge Mensch studierte später und stand an Goethes alten Tagen den großherzoglichen Gärten in Eisenach mit Ehre vor.

So aufmerksam und lernbegierig war Goethe jeden Tag. Die Wolke am Himmel, das Tier am Wege, die Form des Berges, der Lichtschein durch ein Glas: nichts entging ihm. Er konnte mit einem Freunde über Land fahren und plötzlich halten lassen. "Ei, wo kommst denn du hieher?" redete er dann wohl einen Stein an, und der nächste Bauer mußte ihm sagen, wo mehr solche Steine zu finden seien. Von einem seiner Kutscher, Barth aus Troistedt, wird berichtet, daß er, angesteckt von der Liebhaberei seines Herrn, von seinem hohen Sitze aus gleichfalls scharf ausblickte und zuweilen, die Perde anhaltend, in den Wagen rief: "Herr Geheemrat, ich globe, da is was für uns!"

* * *

Manchmal gab es wirklich hübsche Entdeckungen. Als Goethe 1785 nach Karlsbad fuhr, achtete er, wie eben erzählt ist, besonders auf Pflanzen, und da entging ihm im Fichtelgebirge der Sonnentau (Drosera rotundifolia) nicht, und er beobachtete, wie die Blätter ihre Purpurhaare, wenn ein Insekt darauf





kommt, zusammenlegen und das Insekt töten. Diese Tatsache war damals zwar bereits beschrieben, 1779 durch Dr. Roth in Bremen, aber doch erst Wenigen bekannt. Erst Darwin hat weitere Kreise darauf aufmerksam gemacht.

Als er 1790 auf den Dünen des Lido, welche die venetianischen Lagunen vom Adriatischen Meere trennen, spazieren ging, hob sein Diener einen geborstenen Schafschädel auf und scherzte, es sei ein Judenschädel, denn an jener Stätte wurden früher Juden beerdigt. Goethe aber sah sofort etwas Neues, eine Förderung der Wissenschaft. Daß der Schädel der Säugetiere aus Wirbelknochen früherer Tierstufen entstanden sei, wußte er schon; hier an diesem zerschlagenen Schöpfenkopf gewahrte er augenblicklich, daß die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seien, indem er den Übergang vom ersten Flügelbeine zum Siebbeine und den Muscheln ganz deutlich vor Augen hatte. (1)

Im Sommer 1802 fiel ihm auf, daß in jenem Jahre die Wolfsmilchraupe besonders häufig und kräftig ausgebildet war, und sofort studierte er an vielen Exemplaren ihr Wachstum sowie den Übergang zur Puppe. "Auch hier ward ich mancher trivialen Vorstellungen und Begriffe los" bemerkt er in seinen Annalen.

Goethe selber hat uns anmutig erzählt, wie er zu seinen botanischen Studien kam: mit Abendgesprächen nach den Jagden im Thüringer Walde fing es an; der Verkehr mit dem weimarischen Apotheker Dr. Buch-




(1) Bedeutende Fördernis d. e. g. W. 1823.




holz und die Garten- und Parkanlagen des Herzogs reizten zur Fortsetzung; das Lesen Linnés und Rousseaus Schriften erregte Widerspruch oder Zustimmung; und so ging es weiter, bis der Dichter eigene große Wahrheiten den gelehrten Botanikern, die ihn mißtrauisch in ihr Fach eindringen sahen, verkünden konnte, und bis keiner von ihnen an seiner 'Metamorphose der Pflanzen' mehr vorübergehen durfte.

* * *

Er erwähnt in der Geschichte seines botanischen Studiums ein vorzügliches Mittel, die uns so sehr belehrende Aufmerksamkeit zu steigern: das Reisen. Unsere gewöhnliche Umgebung sehen wir fast gar nicht mehr; sie reizt uns wenig zum Nachdenken; die wunderbarsten Dinge erscheinen uns gemein und leer, wenn wir sie täglich haben:

Dagegen finden wir, daß neue Gegenstände in auffallender Mannigfaltigkeit, indem sie den Geist erregen, uns erfahren lassen, daß wir eines reinen Enthusiasmus fähig sind; sie deuten auf ein Höheres, welches zu erlangen von uns wohl gegönnt sein dürfte. Dies ist der eigentliche Gewinn der Reisen, und Jeder hat nach seiner Art und Weise genugsamen Vorteil davon. Das Bekannte wird neu durch unerwartete Bezüge und erregt, mit neuen Gegenständen verknüpft, Aufmerksamkeit, Nachdenken und Urteil.

So erging es Goethen in Italien. Schon in den Alpen fiel ihm die Pflanzenwelt mehr auf als daheim, und im botanischen Garten zu Padua sprach eine Fächerpalme deutlicher zu ihm, als die heimische Birke etwa vermocht hätte. Und nun ließ ihn im Süden die





Pflanzenwelt nicht wieder los, obwohl er doch nicht ihretwegen gekommen war.

Das Beobachten unterwegs hat Goethe zu einer wahren Kunst ausgebildet. Er schalt wohl zuweilen auf das Reisen, weil es so sehr zerstreue und verwirre, neue Bedürfnisse errege und andere Fragen beantworte, als man stelle; aber er verstand es doch, vielerlei mit nach Haus zu bringen. Er legte sich stets Aktenfaszikel (ai) an, in denen er außer seinen eigenen Notizen Zeitungen, Theaterzettel, Preislisten der Märkte, Rechnungen der Gasthöfe und dergleichen zusammentrug. Sein Auge war auf das Sehen des Eigenartigen außerordentlich eingeübt, weil er sich sein ganzes Leben des Zeichnens befleißigte. Er mochte sein Landschaften-Zeichnen, da er es zu hohen Leistungen nicht brachte, wohl als einen bloßen Zeitvertreib entschuldigen, das für ihn Dasselbe sei wie für Andere das Tabakrauchen, aber zu anderen Zeiten rühmte er es als vortreffliches Bildungsmittel. "Es entwickelt und nötigt zur Aufmerksamkeit", und: "Meine eigenen Versuche im Zeichnen haben mir doch den großen Vorteil gebracht, die Naturgegenstände schärfer aufzufassen: ich kann mir ihre verschiedensten Formen jeden Augenblick mit Bestimmtheit zurückrufen." Das half ihm dann auch wieder, die Malereien Anderer richtig zu werten. Er sah es sofort, wenn ein Maler die Natur nicht kannte, wenn er z. B. einen Baum in eine Umgebung brachte, die in der Wirklichkeit zu einem Baume dieser Art und dieses Wachstums nicht vorkommt.

* * *




(ai) Aktenfaszikel, Aktenbündel




Diese Sachlichkeit war Goethes beständiger Vorsatz, und seine Größe als Mensch rührt namentlich von seinem täglichen Bestreben her: alle Dinge und alle Personen ohne Leidenschaft und Vorurteil zu betrachten, sich selbst zu vergessen, alles Neue ruhig auf sich einwirken zu lassen. Das hielt er auch als Reisender so. Seit Sterne (ai) seine berühmte 'Empfindsame Reise' herausgegeben hatte, waren alle Reisebeschreibungen in der Hauptsache den Gefühlen, Ansichten und kleinen Erlebnissen der Reisenden gewidmet. Zuweilen artete Das zu recht eitlem Prangen mit dem lieben Ich aus, z. B. bei Kotzebue (bi). Über dessen Berichte aus seinem Leben spottete Goethe einmal scharf:

Ich bin gewiß, wenn einer von uns im Frühling über die Wiesen von Oberweimar herauf nach Belvedere geht, daß ihm tausendmal Merkwürdigeres in der Natur zum Wiedererzählen oder zum Aufzeichnen in sein Tagebuch begegnet, als dem Kotzebue auf seiner ganzen Reise bis an's Ende der Welt zugestoßen ist. Kommt er wohin, so läßt ihn Himmel und Erde, Luft und Wasser, Tier- und Pflanzenreich völlig unbekümmert; überall findet er nur sich selbst, sein Wirken und sein Treiben wieder; und wenn er in Tobolsk (ci) wäre, so ist man gewiß damit beschäftigt, entweder seine Stücke zu übersetzen, einzustudieren, zu spielen.

Goethe dagegen hatte längst die Maxime ergriffen, sich bei Reisen und ihren Beschreibungen "so viel als möglich zu verleugnen und das Objekt so rein, als nur zu tun wäre, in sich aufzunehmen." Diesen Grundsatz befolgte er z. B., als er dem römischen Karneval beiwohnte. Durch die mündliche Schilderung dieses Karnevals und durch seine im Druck erschienene Be-




(ai) Laurence Sterne, geb. in Clonmel, Süd-Irland, 1713 als Sohn eines Offiziers, gest.1768 in London an einem Brustleiden. Studierte 1733 in Cambridge Theologie; 1738 wurde er Vikar zu Sutton-in-the-Forset; 1759 begann er seinen "Tristram Shandy" zu schreiben. 1762 machte er eine Reise nach Frankreich, 1764 reiste er nach Südfrankreich und besuchte auch Italien. Die "Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien" erschien bald danach.
(bi) Kotzebue, August von, geb. Weimar 1761, ermordet von dem Studenten K. L. Sand 1819 in Mannheim, Dramatiker; war 1781 - 1795 im russischen Staatsdienst. Seit 1817 russischer Kulturattaché und politischer Beobachter in Deutschland; verspottete die liberalen Ideen und patriotischen Ideale der Burschenschaften u. a. in seinem 1818 gegründeten "Literarischen Wochenblatt".
(ci) Tobolsk, Stadt im Gebiet Tjumen, Russland.




schreibung hat er vielen Lesern und Zuhörern Freude gemacht. Und dabei gestand er dem Engländer Robinson (ai): "Nichts kann langweiliger sein als dieser Karneval! Ich habe meine Beschreibung wirklich nur gemacht, um davon loszukommen. Meine Wohnung lag am Korso; ich stand auf dem Balkon und schrieb Alles auf, was ich sah. Nicht die kleinste Kleinigkeit habe ich hinzugedichtet."

Ein einfaches Mittel, aus den persönlichen Schranken zur Sachlichkeit zu gelangen, ist: die Wahrnehmungen und Auffassungen Anderer zu benutzen. Gern nahm Goethe auf einem Ausfluge einen Knaben mit, teils um dessen Freude mitzugenießen, teils um die Dinge gewissermaßen von zwei Seiten zugleich zu sehen. Als er 1796 eine neue Reise nach Italien vorhatte, hätte er gern seinen früheren Zögling Fritz v. Stein (bi) zum Begleiter gehabt; Dieser mußte jedoch seine Verhinderung anzeigen, und nun erwiderte Goethe:

Ich verliere dabei sehr viel, denn da ich schon in früherer Zeit so gern und mit so vielem Nutzen durch Dein Organ sah, so würde es mir jetzt auf alle Weise wünschenswert sein, da Du gebildet und in Vergleichung der Dinge durch viele Kenntnisse geübt bist, ich hingegen älter und einseitiger werde.

Einen jungen Musiker Christian Lobe (ci), der von Weimar nach Berlin ging, forderte er auf, ihm über das dortige Theater zu berichten, aber, damit der Bericht sachlich werde, nach einem Schema: Stück - Dichter - Schauspieler - Aufnahme im Publikum - Wir-




(ai) Henry Crabb Robinson, 1775-1867, englischer Tagebuchschreiber (Lebenserinnerungen), Journalist, arbeitete nur gelegentlich als Rechtsanwalt; 1808 - 1809 war er Korrespondent für die London Times.
(bi) Fritz von Stein (1772-1844), der jüngste Sohn von Charlotte von Stein.
(ci) Johann Christian Lobe, 1797-1881




kung auf mich - Wirkung auf die Nachbarn und Bekannten: A., B., C. usw.

Diese Sachlichkeit verlangte er immer. Sobald er merkte, daß Jemand ihn beeinflussen, von vornherein die Dinge in der erwünschten Beleuchtung erscheinen lassen wollte, konnt er ihn wohl andonnern: "Die Sache! die Sache; wie ist die?" - So wollte er es haben, wie Sulpiz Boisserée (ai) es machte, als er den alten Meister wieder zur Gotik zurückbekehren wollte: statt irgendwie dafür zu schwärmen oder nach Art eines Anwalts Beweise beizubringen, legte Boisserée ruhig eine sprechende Zeichnung nach der andern vor, bis sich Goethe gefangen erkärte.

* * *

Goethe war sich Dessen bewußt, wieviel er diesem fleißigen und sachlichen Betrachten verdankte. Als er nach Italien reiste, schreibt er an die Freundin Charlotte v. Stein:

Wie glücklich mich meine Art, die Welt anzusehen, macht, ist unsäglich, und was ich täglich lerne! Und wie mir doch fast keine Existenz ein Rätsel ist! Es spricht eben Alles zu mir und zeigt sich mir an.

So aus Regensburg am 4. September 1786. Und einige Wochen danach wiederholt er in Vicenza seine Freude, daß er falsche Ansprüche der Reisenden überwunden habe.

Jeder denkt doch eigentlich für sein Geld auf der Reise zu genießen. Er erwartet aber die Gegenstände, von denen er so Vieles hat reden hören, nicht zu finden, wie der Himmel und die Umstände wollen, sondern so rein, wie




(ai) Johann Sulpiz Melchior Dominikus Boisserée, geb. 1783 in Köln; gest. 1854 in Bonn, war Architekt und ein bedeutender Förderer des Dombaus in Köln.




sie in seiner Imagination stehen: und fast Nichts findet er so, fast Nichts kann er so genießen! Hier ist was zerstört - hier was angekleckt - hier stinkt's - hier raucht's - hier ist Schmutz usw. So in den Wirtshäusern, mit den Menschen usw.

Der Genuß auf einer Reise ist, wenn man ihn rein haben will, ein abstrakter Genuß. Ich muß die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten, Das, was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte: Alles muß ich bei Seite bringen, in dem Kunstwerk nur den Gedanken des Künstlers, die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit, da das Werk entstand, heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von Allem, was die Zeit, der Alles unterworfen ist, ud der Wechsel der Dinge darauf gewirkt haben. Dann hab' ich einen reinen, bleibenden Genuß, und um dessentwillen bin ich gereist, nicht um des augenblicklichen Wohlseins oder Spaßes willen. Mit der Betrachtung und dem Genuß der Natur ist's eben Das. Trifft's dann aber auch einmal zusammen, daß Alles paßt, dann ist's ein großes Geschenk! Ich habe solche Augenblicke gehabt.

Wenn man in alten Tagen Goethes Genialität rühmte, führte er sie wohl auf seine erworbene Sachlichkeit zurück:

Ich lasse die Gegenstände ruhig auf mich einwirken, beobachte dann diese Wirkung und bemühe mich, sie treu und unverfälscht wiederzugeben. Dies ist das ganze Geheimnis was man Genialität zu nennen beliebt.

So sagt er zum Kanzler v. Müller, und ähnlich zum Prinzenerzieher Soret:

Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kind-





heit und Jugend wie das reife Alter: alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinne sei, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie sich gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu tun als zuzugreifen und Das zu ernten, was Andere für mich gesäet hatten.

* * *

Da wir Goethe zuerst und vornehmlich den Dichter sehen, so will es uns schwer in den Sinn, daß das poetische Schaffen und alles Betätigen überhaupt Goethes stärkster Trieb nicht war, daß seine "Werke" mehr nur als Folge seiner eigentlichen Leidenschaft, des eindringenden Beschauens, angesehen werden müssen. Er las einmal folgende Zeilen über sich: "Zeigt nicht jedes Blatt, daß er ein weit höheres Bedürfnis fühlt, in das innerste Wesen des Menschen und der Dinge einzudringen, als seine Gedanken poetisch auszusprechen?" Dies ungewöhnliche Urteil setzte ihn in Verwunderung; es erschien ihm aber richtig, und er wollte nur hinzugesetzt haben: "als sprechend, überliefernd, lehrend oder handelnd sich zu äußern."

Wenn der Ofen geheizt wird, erwärmt er das Zimmer; was der Schriftsteller lernt, wird alsbald weitergegeben.

Ich habe immer nur dahin getrachtet, mich selbst einsichtiger und besser zu machen, den Gehalt meiner eigenen Persönlichkeit zu steigern und dann immer nur auszusprechen, was ich als gut und wahr erkannt hatte.

So sprach er zu Eckermann, und er konnte hinzufügen:





Dieses hat freilich, wie ich nicht leugnen will, in einem großen Kreise gewirkt und genützt; aber es war nicht Zweck, sondern ganz notwendige Folge.

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Wie sehr Goethe durch bloßes Sehen und Hören, namentlich durch bloßes Sehen, lernte, können wir Heutigen, die wir unser Wissen meist vom Papier her erlangen oder vom Auswendiglernen für die Schule zurückbehielten, uns nur schwer vorstellen. Eine Folge dieser Art des Lernens ist die besondere goethische Sprache. "Ich habe die Gegenstände ruhig auf mich einwirken lassen" antwortete er selber, als man ihn nach der Ursache seines schönen Stils fragte.

Um die ihn belehrenden Gegenstände nach Wunsch sehen zu können, wurde er ein großer Sammler; von allen Reisen brachte er Schönes und Merkwürdiges heim; mit andern Sammlern tauschte er Entbehrliches aus; die Freunde regte er zu Beihilfe an, und auch Fremde wußten, daß ein Geschenk dieser Art das sicherste Mittel war, ihm Freude zu bereiten und ein freundliches Wort von ihm zu erhalten. Öffentliche Museen gab es noch sehr wenige; es lag selbst dem Landmanne, der beim Pflügen etwas Seltsames fand, der Gedanke nahe, es Goethen zu schicken. Der Dichter selber aber fahndete beständig auf wertvolle Büsten, Gemmen (ai), Münzen, Medaillen, Kuperstiche u. dgl.

So ward zum Pantheon dies enge Haus
Und schmückte sich mit Götterbildern aus.




(ai) Gemme, lat., Schmuckstein mit vertieft oder erhaben eingeschnittenen Figuren.




Gemächer, Säle, Winkelchen und Gänge -
Sie faßten kaum der Kostbarkeiten Menge. (1)

Allein seine Mineraliensammlung umfaßte mehr als 18 000 Stücke!

Selbst die Staaten- und Fürstengeschichte sah er in seinen Stuben mit Augen: wenn er nämlich seine Medaillen und Münzen nach Ländern und Zeiten ordnete und betrachtete; z. B. konnte er jeden Papst seit dem fünfzehnten Jahrhundert vorweisen und wußte unzählige Einzelheiten über die Veranlassung der einzelnen Denkmünzen. Und oft konnten Kupferstiche herbeigeholt werden, die noch genauer die Länder und Zeiten anschaulich machten. Immer strebte Goethe zuerst nach dieser Erkenntnis durch die Augen; nachher erst rief er das belehrende Buch zur Hülfe. So nahm er einmal 1400 Schwefelpasten (ai) antiker Münzen vor. "Ich habe sie so lange angesehen" schrieb er an Wilhelm v. Humboldt, "und von allen Seiten betrachtet, bis ich fremder Hülfe bedurfte: dann nahm ich Eckhels (bi) fürtreffliches Werk vor."

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(1) Paul Heyse (ci). - Mehre Freunde klagten sogar, daß Goethe sich naturwissenschaftliche oder künstlerische Merkwürdigkeiten von ihnen angeeignet habe, die sie nicht als Geschenk gemeint hatten. Sich selbst bereichern wollte er nicht,denn der Geldwert seines Museums kam ihm selten in den Sinn: erst 1831 dachte er einmal daran, es an die Großherzogin Marie zu verkaufen; vielmehr waren diese Sammlungen, die jedem Liebhaber zugänglich waren, ein Opfer von ihm für die Gemeinschaft. In seinem Testamente von 1831 erklärte er, daß er seit 60 Jahren wenigstens 100 Dukaten jährlich (960 M.) für den Ankauf von Kunstwerken und Seltenheiten verwandt habe.
(ai) Münzkopien: Bei Abgüssen wird Gips, Blei oder Kunststoff, früher auch Schwefelpaste verwendet.
(bi) Joseph Hilarius Eckhel, geb. 1732 im niederösterreichischen Enzesfeld, gest. 1798 in Wien, war zunächst Lehrer am Theresianum in Wien, 1774 wurde der damalige Jesuitenpater zum Direktor des Wiener antiken Münzkabinetts und außerdem zum Professor der "Alterthumskunde" an der Wiener Universität ernannt; veröffentlichte nicht nur die antiken Münzen der kaiserlichen Sammlung, sondern schuf mit seiner "Doctrina Nummorum Veterum", ein 8-bändiges Grundlagenwerk (erste Auflage Wien 1792-1798), eine Grundlage für die wissenschaftliche Numismatik.
(ci) Paul Heyse, geb. 1830 Berlin, gest. 1914 München, Dichter, konnte sich eine herausragende Stellung als literarische Autorität aufbauen und sie über Jahrzehnte als Hofpoet und Dichterfürst in der Nachfolge Goethes behaupten.




Da der Tag "grenzenlos lang ist", so fand Goethe aber auch unzählige Stunden zum Lesen. Er hat einmal darüber gescherzt, wieviel Zeit und Mühe ihm das Lesenlernen gekostet habe und daß er kaum mit achtzig Jahren es richtig könne. Wir wissen, wie er im Februar 1828 die Biographie Napoleons von Walter Scott (ai) durcharbeitete. Nach jedem Kapitel fragte er sich, was er Neues empfangen, was ihm die Erinnerung zurückgerufen ward; dann fügte er Selbsterlebtes zu Walter Scotts Berichten hinzu, so daß er bald selber nicht mehr wußte, was er im Buche gefunden und was er hineingetragen habe.

Genug, mir ist der lange, immer bedeutende und mitunter beschwerliche Zeitraum von 1789 an, wo nach meiner Rückkunft aus Italien der revolutionäre Alp mich zu drücken anfing, bis jetzt ganz klar, deutlich und zusammenhängend geworden; ich mag auch die Einzelheiten dieser Epoche jetzt wieder leiden, weil ich sie in einer gewissen Folge sehe. Hier hast Du also wieder ein Beispiel meiner egoistischen Leseweise; was ein Buch sei, bekümmert mich immer weniger; was es mir bringt, was es mir aufregt, Das ist die Hauptsache.

Das ist ganz im Einklang mit seiner Lehre: "Jedes gute Buch versteht und genießt Niemand, als der supplieren (bi) kann. Wer etwas weiß, findet unendlich mehr, als der erst lernen will." Man muß freilich auch supplieren und dem Verfasser gelehrter Werke ebenso wie dem Künstler nachhelfen wollen! Goethes langjähriger Mitarbeiter Riemer (ci) urteilte von seinem Meister, er sei einer von den gutwilligen Lesern gewesen, die das Brot des Autors mit der Butter guten Willens überstreichen und so die Lücken zukleben, wenn sie nicht gar zu groß




(ai) Sir Walter Scott, geb 1771 Edinburgh; gest. 1832 in Abbotsford; war ein europaweit bekannter schottischer Schriftsteller, der Historienromane schrieb.
(bi) supplieren, lat.: ergänzen, hinzufügen.
(ci) Friedrich Wilhelm Riemer, 1774 - 1845; Philologe, Weimarer Gymnasialprofessor, der Großherzoglich Sächsische Bibliothekar, wird 1803 als Hauslehrer für Goethes Sohn August angestellt und steigt bald zum Sekretär Goethes auf. Bis zum Tode Goethes bleibt Riemer dessen Vertrauter, Sekretär, Redakteur, Korrektor und philologischer Freund.




sind; dagegen habe Goethe von seinem Freunde Reinhard (ai) gesagt; "Der ißt das Brot trocken; da kann er freilich sonderbare Dinge erzählen von Dem, wie es ihm geschmeckt!"

Ein gewöhnlicher Fehler der Lesenden ist, daß sie bei Eintritt in ein neues geistiges Gebiet in falschem Stolze die Schülerbücher meiden und sogleich die höchsten Probleme erfassen möchten. "Ist Das nicht ein starker Beweis von Unwissenheit?", fragte Soret, und Goethe antwortete: "Jawohl, mein Freund; ich bin auch der Ansicht; daran erkennt man die Esel. Das sind die Spitzen ihrer Ohren!"

Die üblichsten Verirrungen der Lesenden ist jedoch ihr Bestreben oder Versuch, Alles zu lesen, was von altersher berühmt ist und wovon jetzt gerade die Leute reden oder was der Zufall vor die Augen schiebt.

Man bildet sich vergebens ein, daß man allen literarischen Erscheinungen face machen (ihnen gegenüber Stellung nehmen) könnte. Es geht einmal nicht: man tappt in allen Jahrhunderten, in allen Weltteilden herum und ist doch nicht überall zu Hause, stumpft sich Sinn und Urteil ab, verliert Zeit und Kraft. Man liest Folianten und Quartanten (bi) durch und wird um nichts klüger, als wenn man alle Tage in der Bibel läse. . . .

Man liest viel zu viel geringe Sachen, womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat . . . .

Seit ich keine Zeitungen mehr lese, bin ich ordentlich wohler und geistesfreier. Man kümmert sich doch nur um Das, was Andere tun und treiben und versäumt, was einem zunächst obliegt.


Nicht das Neuigkeits-Verschlingen, sondern das fleißige, treuliche Umgehen mit dem uns gemäßen



(ai) Karl Friedrich Graf von Reinhard, 1761 - 1837, Schriftsteller, Staatsmann.
(bi) Foliant, lat., Buch Format in der Größe eines halben Bogens (gewöhnlich mehr als 35 cm); großes, unhandliches altes Buch;
Quartant, lat., Buch in Viertelbogengröße




Großen bildet uns in die Höhe. Wenn Goethe die Kupfer nach den berühmtesten italienischen Malern betrachtete, so bekannte sogar er:

Wir kleinen Menschen sind nicht fähig, die Größe solcher Dinge in uns zu bewahren, und wir müssen daher von Zeit zu Zeit immer dahin zurückkehren, um solche Eindrücke in uns aufzufrischen.

Immer wieder Raffael (ai) zu betrachten, mahnte er auch Eckermann, damit er im Verkehr mit dem Besten bleibe und sich immerfort übe, die Gedanken eines hochen Menschen nachzudenken.

Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten. Ich zeige Ihnen daher nur das Allerbeste, und wenn Sie sich darin befestigen, haben Sie einen Maßstab für das Übrige.

So hielt er es auch mit den Dichtern. Bei Homer und den griechischen Dramatikern ging er immer wieder in die Schule; ja sogar von dem Romane 'Daphnis und Chloe' des Longos (bi) urteilte er: "Man tut wohl, dies Gedicht alle Jahre einmal zu lesen und immer wieder daran zu lernen den Eindruck seiner großen Schönheit auf's neue zu empfinden." Ebenso konnte er über Shakespeare oder Byron urteilen, und wenn man wegen des Letzteren Einwendungen machte, so erwiderte er: "Alles Große bildet, nicht etwa bloß das entschieden Reine und Sittliche; an Byron ist auch seine Kühnheit, Keckheit, Grandiosität bildend." Von Molière bekannte er 1827: "Ich kenne und liebe ihn seit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich von ihm




(ai) Raffael, ital. Raffaello Santi, lat. Raphael Urbinas, Raphael Sanctius, italianisiert: Raffaello Sanzio; geb. 1483 in Urbino; gest.1520 in Rom; italienischer Maler und Architekt.
(bi) Longo ist ein Dichter, von dem wir nur den Namen und sein Jahrhundert kennen. Er hat den schönsten Liebesroman der ganzen alten Welt geschrieben. Goethe nennt die kurze Prosaerzählung ein Gedicht und sagt, es sei "so schön, daß man den Eindruck davon, bei den schlechten Zuständen, in denen man lebt, nicht in sich behalten kann, und daß man immer von neuem erstaunt, wenn man es wieder liest. Es ist darin der helleste Tag ...". Paul Louis Courier de Méré, geb. in Paris 1772; gest. 1825; Schriftsteller, ging nach einer militärischen Laufbahn 1809 nach Italien, um seine philologischen Forschungen fortzusetzen. Er entdeckte in Florenz ein vollständiges Exemplar des Romans "Daphnis und Chloe" von Longos, das er 1810 herausgab. Inhalt des Romans 'Daphnis und Chloe': In der von Raub und Seeraub beherrschten antiken Mittelmeerwelt finden sich ein Junge und ein Mädchen aus vornehmen Hause als arme Hirten auf der Insel Lesbos wieder. In einer Welt, in der nur ihre Tiere, der eine oder andere alte Schäfer und die Götter der Fluren ihre Gesellschaft sind, entdecken sie die Liebe schrittweise und ahnungsvoll, glücklich und schmerzlich.
(ci) Molière, eigentlich Jean-Baptiste Poquelin, französischer Dramatiker, Schauspieler und Theaterdirektor, getauft Paris 1622, gest. ebenda 1673; Sohn eines wohlhabenden Tapezierers, der auch königlicher Hofbeamter war; studierte die Rechte in Orléans und erwarb dort die Lizenziatenwürde; gründete 1643 die Schauspielertruppe des "L'illustre Théâtre".



einige Stücke zu lesen, um mich im Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten." Einmal meinte er: "Man sollte eigentlich immer nur Das lesen, was man bewundert," und an einem andern Tage: "Es kommt immer darauf an, daß Derjenige, von dem wir lernen wollen, unserer Natur gemäß sei. - - Überall lernt man nur von Dem, den man liebt."

Ein sehr wertvoller Rat Goethes war schließlich:

Der Mensch mache sich nur irgend eine würdige Gewohnheit zu eigen, an der er sich die Lust in heiteren Tagen erhöhen und in trüben Tagen aufrichten kann. Er gewöhne sich z. B., täglich in der Bibel oder im Homer zu lesen oder Medaillien oder schöne Bilder zu schauen oder gute Musik zu hören. Aber es muß etwas Treffliches, Würdiges sein, woran er sich gewöhnt, damit ihm stets und in jeder Lage der Respekt dafür bleibe.

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Das Lernen und Unterrichten war zu Goethes Zeit viel freier, freiwilliger und ungeregelter als heute; Goethe nutzte diese schöne Freiheit auch dadurch aus, daß er zeitlebens ebenso Lehrer war wie Schüler. Schon als Kind verriet er seine lehrhafte Natur: als ihm 1759 ein sechsjähriges Brüderchen starb und er darüber nicht weinte, fragte in seine Mutter, ob er denn den kleinen Hermann Jakob nicht lieb gehabt habe; da eilte Wolfgang in seine Kammer, zerrte unter dem Bette eine Menge Papiere hervor, die er mit Lektionen und Geschichten vollgeschrieben hatte. "Dies alles hab ich gemacht, um es den Bruder zu lehren!"

Später belehrte er die Schwester und bald auch alle Freunde und Freundinnen, die sich ihm lernlustig





nahten. Zuweilen auch Heranwachsende: Die Schüler der Zeichenschule, seinen Pflegesohn Fritz v. Stein, seinen Sohn August, jugendliche Schauspieler und Schauspielerinnen, aus denen er eine Theaterschule bildete. Die verschiedensten Fächer lehrte er: Zeichnen, Malen, Englisch, Botanik, Farbenlehre, Anatomie, Deklamation, deutsche Literatur. Manches Jahr waren den Winter über die weimarischen Fürstinnen, ihre Hofdamen und nächste Freundinnen, wie Charlotte v. Stein und Charlotte v. Schiller, seine Schülerinnen; sie kamen einmal die Woche, z. B. im Winter 1805/06 Mittwochs vormittags von elf bis ein Uhr, und Goethe hatte dann immer etwas für sie zum Vorzeigen zurechtgelegt und zum Vortragen überdacht. Er sprach frei nach Stichworten, manchmal mit der Hand über die Stirn fahrend, während er denkend redete. Fräulein v. Knebel berichtet einmal an ihren Bruder: "Er sprach so reich, reif und mild, daß ich wirklich noch nie so habe sprechen hören. Ich wünschte, er hätte die Rede aufgeschrieben; mich dünkt, sie allein müßte ihm den Ruhm eines seltenen Menschen machen." Mit gutem Grunde widmete Goethe seine 'Farbenlehre' der Herzoging Luise und sein 'Leben Hackerts' der Herzogin Amalie. Zu seinen fürstlichen Schülerinnen gehörte auch die junge kranke Kaiserin von Österreich, Maria Ludowika (ai).

Goethe betont auch hier sein Streben nach eigenem Vorteil. "Ich hielt niemals einen Vortrag, ohne daß ich dabei gewonnen hätte" erzählte er in der 'Kampagne in Frankreich': "gewöhnlich gingen mir unter'm Sprechen neue Lichter auf." Und Zelter schrieb er




(ai) Maria Ludwika, Marie Louise Kaiserin von Frankreich, geb. Wien 1791, gest. Parma 1847; Tochter Kaiser Franz II., gegen ihren Willen 1810 mit Napoleon verheiratet.




1805 über die erwähnten Mittwochsvorträge: "Ich werde bei dieser Gelegenheit erst gewahr, was ich besitze und nicht besitze." Als die 'Farbenlehre' nicht reckt rücken wollte, meinte er zu Knebel: "Wenn ich genötigt wäre, diese Lehre nur zwei halbe Jahre öffentlich zu lesen, so wäre Alles getan. Aber die Gelehrsamkeit auf dem Papiere und zum Papiere hat gar zu wenig Reiz für mich."

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Das beständige Lernen führt Menschen, selbst wenn er durch das Verwenden zum eigenen Vortrag Richtung behält, nur zur Vielwisserei, zum Ansammeln von Einzelheiten und Kleinigkeiten. "Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band!" Goethe war zur Vielgelehrsamkeit nach Böttiger (ai) Art zu sehr Dichter, zu wenig Kleinigkeitsphilister. Er suchte stets im Einzelnen das Allgemeine, in der "zufälligen" Erscheinung das Gesetz, im Wechselnden das Bleibende. "Wir befinden uns in einem Chaos von Kenntnissen, und Keiner ordnet es; die Masse liegt da, und man schüttet zu; aber ich möchte es machen, daß man wie mit einem Griff hineingriffe und Alles klar würde." Die Natur läßt sich zwar ihre letzten Geheimnisse nicht abzwingen, aber dann und wann gelingt es uns, den Schöpfergedanken näher zu kommen. Und eben Das war sein Streben bei aller gelehrten Arbeit.

Andere wieder verlieren sich, um zu großen Wahrheiten zu gelangen, in methaphysischen Phantasien, im Aufbauen philosophischer Systeme oder in okkultistischen




(ai) Böttiger, Johann Friedrich, geb. Schleiz 1682, gest. Dresden 1719, Apotheker und Alchimist; musste wegen "Goldmacherei" aus Preußen fliehen und wurde von August dem Starken deshalb gefangen gehalten. Es gelang ihm die Herstellung des roten Böttgersteinzeugs und 1708/09 des weißen Porzellans; daraus resultiert Gründung der Meißener Porzellan-Manufaktur.




Träumereien. Dazu war Goethe wieder zu sehr Naturforscher: Erfahrung, Beobachtung, Versuch sollten ihm zur Erkenntnis verhelfen. Vor dem Okkultismus hütete er sich, obwohl er manche seiner Lehren durchaus nicht leugnete.

Wir wandeln alle in Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich alles in ihr regt und wie es mit unserem Geiste in Verbindung steht. So viel ist wohl gewiß, daß in besonderen Zuständen die Fühlfäden unserer Seele über ihre körperlichen Grenzen hinausreichen können und ihr ein Vorgefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die Zukunft gestattet ist.

Aber er mochte doch nie eine Somnambule (ai) sehen, auch dann nicht, als der Ruhm der Seherin von Prevorst (bi) seine Umgebung sehr beschäftigte. Er kannte die Gefahr solcher Studien. "Man wird selbst zum Traum, zur Niete, wenn man sich mit diesen Phantomen beschäftigt" schrieb er schon 1788 an Herder, der, wie seine Gattin, recht abergläubisch war. Und 1830 meinte er auch zum Kanzler:

Ich habe mich immer von Jugend auf vor diesen Dingen gehütet, sie nur parallel an mir vorüberlaufen lassen. Zwar zweifle ich nicht, daß diese wundersamen Kräfte in der Natur des Menschen liegen; aber man ruft sie auf falsche, oft frevelhafte Weise hervor. Wo ich nicht klar sehen, nicht mit Bestimmtheit wirken kann, da ist ein Kreis, für den ich nicht berufen bin.

Gegen die Philosophen und ihre "Ideen" war er gleichfalls sehr mißtrauisch. Schiller hatte ihn zuerst durch sein wüstes Jugenddrama abgestoßen; als dann der Dichter der 'Räuber' auch noch Kantianer (bi) wurde,




(ai) Somnambule, Schlafwandlerin, Schlafwandler
(bi) "Die Seherin von Prevorst": Friederike Hauffe - Justinus Kerner, (Arzt und Dichter, 1786 - 1862) war seit 1819 Oberamtsarzt in Weinsberg. Hier pflegte er Friederike Hauffe, deren Lebensgeschichte in seinen Roman "Die Seherin von Prevorst" (2 Bände 1829) einging.
(bi) Kantianer: Anhänger des Philosophen Kant (1724 - 1804). Kant weist nach, dass Metaphysik als Wissenschaft im traditionellen Sinn als Lehre von Gott, Welt und Seele unmöglich ist, da in metaphysischen Sätzen der "Bereich möglicher Erfahrung" überschritten wird.




empfand ihn Goethe erst recht als Geistes-Gegenfüßler, mit dem ein Verkehr unmöglich sei. Aber ihr beiderseitiges Suchen nach großen Anschauungen mußte sie dennoch zusammenführen. Sie hörten in Jena einmal einen naturwissenschaftlichen Vortrag; beim Hinausgehen kamen sie in ein Gespräch, wobei Schiller bemerkte, daß eine so zerstückelte Art, die Natur zu behandeln, den Laien nicht anmuten könne. Goethe horchte auf. Auch dem Eingeweihten bleibe bleibe diese zerstückelte Art vielleicht unheimlich, war seine Antwort, und vielleicht könne man es auch anders machen. Man brauche nicht die Natur gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern könne sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend, darstellen. Schiller sah ihn ungläubig an, denn Dergleichen glaubte er den Philosophen vorbehalten, zu denen doch Goethe nicht gehören wollte. So schritten sie weiter, bis an Schillers Haus, bis in sein Zimmer, und dort trug dann Goethe die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor, indem er mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor Schillers Augen entstehen ließ. Dieser hörte mit lebhafter Teilnahme zu; aber als Goethe geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: "Das ist keine Erfahrung, Das ist eine Idee!" Nun stutzte Goethe, einigermaßen verdrießlich. Sein alter Groll gegen die Philosophierei wollte sich wieder regen, aber er nahm sich zusammen und antwortete: "Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe." Und die nächsten Tage trug er sich mit der Frage: Wenn er Das für eine Idee hält, was ich als





Erfahrung anspreche, so muß doch zwischen beiden eine Vermittelung sein? -

So begann ein zehnjähriger Umgang; Beide waren Lehrer und Schüler; Goethe entwickelte die philosophischen Anlagen, die seine Natur enthielt, und eignete sich noch recht ansehnliche Kenntnisse auf diesem Gebiete an.

Aber 1829 konnte er jedoch ohne viel Übertreibung zu Eckermann sagen: "Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei gehalten; der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige."

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Das fruchtbarste Lernen ist die Überwindung des eigenen Irrtums. Wer keinen Irrtum eingestehen will, kann ein großer Gelehrter sein, aber er ist kein großer Lerner. Wer sich des Irrtums schämt, der sträubt sich, ihn zu erkennen und zuzugeben; d. h. er sträubt sich vor einem besten innerlichen Gewinn. Da Jedermann irrt, da die Weisesten geirrt haben, so haben wir keinen Grund, unsern Irrtum als etwas Schändliches zu empfinden.

Wenn wir Dasjenige aussprechen, was wir im Augenblick für wahr halten, so bezeichnen wir eine Stufe der allgemeinen Kultur und unserer besonderen. Ob ich mich selbst (berichtige) oder durch Andere zurechtweisen lasse, ist für die Sache selbst gleichviel; je geschwinder es geschieht, desto besser.

"Irrend lernt man!" rief Goethe seinem Sohne August zu, als Dieser Einkäufe bei der Frankfurter Anti-





quaren machen sollte und sich vor dem Betrogenwerden fürchtete. Und als Frau Grüner in Eger (ai) klagte, ihr Mann, den Goethe mit mineralogischen Neigungen angesteckt hatte, bringe so viele gemeine Steine mit nach Hause, neben den wenigen schönen, und verkratze die Tischplate damit, da erwiderte Goethe: "Machen Sie sich nichts daraus! Ich habe auch manche Fuhre zur Verbesserung der Wege wieder hinausgeschafft. Die Sache läutert sich und macht uns Vergnügen, wenn wir eines Besseren belehrt werden."

Schon 1804 sprach Goethe in einem Briefe an Eichstädt (bi) den kühnen Gedanken aus, daß man sogar am offenbaren Irrtum Wohlgefallen haben dürfe:

Bei strenger Prüfung meines eigenen und fremden Ganges in Leben und Kunst fand ich oft, daß Das, was man mit Recht ein falsches Streben nennen kann, für das Individuum ein ganz unentbehrlicher Umweg zum Ziele sei. Jede Rückkehr vom Irrtum bildet mächtig den Menschen im Einzelnen und Ganzen aus, so daß man wohl begreifen kann, wie dem Herzensforscher ein reuiger Sünder lieber sein kann als neunundneunzig Gerechte. Ja, man strebt oft mit Bewußtsein zu einem scheinbar falschen Ziel, wie der Fährmann gegen den Fluß arbeitet, da ihm doch darum zu tun ist, gerade auf dem entgegengesetzten Ufer anzulanden.

Das Erkennen eines eigenen Irrtums oder einer eigenen Schwäche macht uns namentlich auch duldsam und freundlich gegen andere Irrende. "Eigener Fehler enthält Demut und billigen Sinn" steht von Goethes Hand im Stammbuche seines Schülers Fritz v. Stein.




(ai) Der erste Gelehrte, welcher sich mit dem Felslabyrinth der Luisenburg (Luxburg - Luisenburg - nach Königin Luise von Preußen, Granit-Blockmeer) im Fichtelgebirge näher beschäftigte, war Goethe. Im Jahre 1785 reiste Goethe mit Karl Ludwig v. Knebel zu naturwissenschaftlichen Studien ins Fichtelgebirge. Diesem Entschluß vorausgegangen war sein in Karlsbad und Eger (heute Cheb) erwachtes Interesse für Meterologie, Botanik und Landschaftsgeologie. Goethes dritte und letzte Reise 1822 ins Fichtelgebirge war geprägt durch seinen Besuch bei Wolfgang Caspar Fikentscher, dem Besitzer der ältesten europäischen chemischen Fabrik, die ihren Sitz in Marktredwitz hatte. Goethe erhoffte sich, durch ihn spezielle Gläser für das Naturalienkabinett in Jena erwerben zu können. Begleitet wurde Goethe von Joseph Sebastian Grüner, einem Polizeirat aus Eger und zugleich gutem Freund des Fabrikanten.
(bi) Karl Heinrich Abraham Eichstädt, 1772 - 1848, Altphilologe; ab 1804 Professor für Poesie und Beredsamkeit; Mitarbeiter der "Allgemeinen Literatur-Zeitung" und Gründer der "Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung".




Trotzdem gibt Goethe zu, daß es nicht so ganz leicht sei, sich von einem Irrtum zu trennen; "Man zaudert und zweifelt und kann sich nicht entschließen, so wie es schwer hält, sich von einem geliebten Mädchen loszumachen, von deren Untreue man längst wiederholte Beweise hat."

Aber es bleibt dabei: der Fehler nützt uns erst, wenn wir ihn erkennen.




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