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Lebensweisheit

von
Arthur Schopenhauer



B. Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend

  1. Wie der Arbeiter, welcher ein Gebäude aufführen hilft, den Plan des Ganzen entweder nicht kennt, oder doch nicht immer gegenwärtig hat; so verhält der Mensch, indem er die einzelnen Tage und Stunden seines Lebens abspinnt, sich zum Ganzen seines Lebenslaufs und des Charakters desselben. Je würdiger, bedeutender, planvoller und individueller dieser ist; desto mehr ist es nötig und wohltätig, daß der verkleinerte Grundriß desselben, der Plan, ihm bisweilen vor die Augen komme. Freilich gehört auch dazu, daß er einen kleinen Anfang in dem γνωϑι σαυτον gemacht habe, also wisse, was er eigentlich, hauptsächlich und vor allem andern will, was also für sein Glück das Wesentlichste ist, sodann was die zweite und dritte Stelle nach diesem einnimmt; wie auch, daß er erkenne, welches, im ganzen, sein Beruf, sein Rolle und sein Verhältnis zur Welt sei. Ist nun dieses bedeutender und gandioser Art; so wird der Anblick des Planes seines Lebens, im verjüngten Maßstabe, ihn mehr als irgend etwas, stärken, aufrichten, erheben, zur Tätigkeit ermuntern und von Abwegen zurückhalten.

    Wie der Wanderer erst, wenn er auf einer Höhe angekommen ist, den zurückgelegten Weg, mit allen seinen Wendungen und Krümmungen, im Zusammenhange überblickt und erkennt; so erkenne wir erst am Ende einer Periode unsers Lebens, oder gar des ganzen, den wahren Zusammenhang unserer Taten, Leistungen und Werke, die genaue Konsequenz undVerkettung, ja, auch den Wert derselben. Denn, solange wir darin begriffen sind, handeln wir nur immer nach den feststehenden Eigenschaften unsers Cahrakters, unter dem Einfluß der Motive, und nach dem Maße unserer Fähigkeiten, also durchweg mit Notwendigkeit, indem wir in jedem Augenblicke bloß tun, was uns jetzt eben das Rechte und Angemessene dünkt. Erst der Erfolg zeigt, was dabei herausgekommen, und der Rückblick auf den ganzen Zusammenhang das Wie und Wodurch. Daher eben auch sind wir, während wir die größten Taten vollbringen, oder unsterbliche Werke schaffen, uns derselben nicht als solcher bewußt, sondern bloß als des unsern gegenwärtigen Zwecken Angemessenen, unsern dermaligen Absichten Entsprechenden, also jetzt gerade Rechten: aber erst aus dem Ganzen, in seinem Zusammenhang, leuchtet nachher unser Charakter und unsere Fähigkeiten hervor: und im einzelnen sehn wir dann, wie wir, als wäre es durch Inspiration geschehen, den einzig richtigen Weg, unter tausend Abwegen, eingeschlagen haben, - von unserm Genius geleitet. Dies alles gilt vom Theoretischen, wie vom Praktischen, und im umgekehrten sinne vom Schlechten und Verfehlten.


  2. Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit besteht in dem richtigen Verhältnis, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit teils der Gegenwart, teils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere verderbe. Viele leben zu sehr in der Gegenwart: die Leichtsinnigen; andere zu sehr in der Zukunft: die Aengstlichen und Besorglichen. Selten wird einer genau das rechte Maß halten. Die, welche, mittelst Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer vorwärts sehn und mit Unduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche allererst das wahre Glück bringen sollen, inzwischen aber die Gegenwart unbeachtet und ungenossen vorbeiziehn lassen, sind, trotz ihren altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren Schritt dadurch beschleunigt wird, daß an einem, ihrem Kopf angehefteten Stock ein Bündel Heu hängt, welches sie daher stets vor sich sehn und zu erreichen hoffen. Denn sie betrügen sich selbst um ihr Dasein, indem sie stets nur ad interim leben, - bis sie tot sind. - Statt also mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausschließlich und immerdar beschäftigt zu sein, oder aber uns der Sehnsucht nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, daß die Gegenwart allein real und allein gewiß ist; hingegen die Zukunft fast immer anders ausfällt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit anders war; und zwar so, daß es mit beiden, im ganzen, weniger auf sich hat, als es uns scheint. Denn die Ferne, welche dem Auge die Gegenstände verkleinert, vergrößert sie dem Gedanken. Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein. Aber sollten wir sie stets einer heitern Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche und von unmittelbaren Widerwärtigkeiten, oder Schmerzen, freie Stunde mit Bewußtsein als solche genießen, d. h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Besorgnisse für die Zukunft. Denn es ist durchaus töricht, eine gute gegenwärtige Stunde von sich zu stoßen, oder sie sich mutwillig zu verderben, aus Verdruß über das Vergangene, oder Besorgnis wegen des Kommenden. Der Sorge, ja selbst der Reue, sei ihre bestimmte Zeit gewidmet: danach aber soll man über das Geschehene denken:

    Αλλα τα μεν προτετυγϑαι ςασομεν αχνυμενοι πςρ,
    Θυμον ενι στηϑεσσ𰎹 φιλον δαμαντεϛ αναγϗϰ,

    und über das Künftige:

    Ητοι ταυτα ϑεων εν γουνασι ϰειται,

    hingegen über die Gegenwart: Singulas dies singulas vitas puta (Sen.) und diese allein reale Zeit sich so angenehm wie möglich machen.

    Uns zu beunruhigen sind bloß solche künftige Uebel berechtigt, welche gewiß sind und deren Eintrittszeit ebenfalls gewiß ist. Dies werden aber sehr wenige sein: denn die Uebel sind entweder bloß möglich, allenfalls wahrscheinlich; oder sie sind zwar gewiß; allein ihre Eintrittszeit ist völlig ungewiß. Läßt man nun auf diese beiden Arten sich ein; so hat man keinen ruhigen Augenblick mehr. Um also nicht der Ruhe unsers Lebens durch ungewisse, oder unbestimmte Uebel verlustig zu werden, müssen wir uns gewöhnen, jene anzusehn, als kämen sie nie; diese, als kämen sie gewiß nicht so bald.

    Je mehr nun aber einem die Furcht Ruhe läßt, desto mehr beunruhigen ihn die Wünsche, die Begierden und Ansprüche. Goethes so beliebtes Lied: "Ich hab' mein' Sach' auf nichts gestellt", besagt eigentlich, daß erst, nachdem der Mensch aus allen möglichen Ansprüchen herausgetrieben und auf das nackte, kahle Dasein zurückgewiesen ist, er derjenigen Geistesruhe teilhaft wird, welche die Grundlage des menschlichen Glückes ausmacht, indem sie nötig ist, um die Gegenwart, und somit das ganze Leben, genießbar zu finden. Zu ebendiesem Zwecke sollten wir stets eingedenk sein, daß der heutige Tag nur einmal kommt und nimmer wieder. Aber wir wähnen, er komme morgen wieder: morgen ist jedoch ein anderer Tag, der auch nur einmal kommt. Wir aber vergessen, daß jeder Tag ein integrierender und daher unersetzlicher Teil des Lebens ist, und betrachten ihn vielmehr als unter demselben so enthalten, wie die Indivduen unter dem Gemeinbegriff. - Ebenfalls würden wir die Gegenwart besser würdigen und genießen, wenn wir, in guten und gesunden Tagen, uns stets bewußt wären, wie, in Krankheiten, oder Betrübnissen, die Erinnerung uns jede schmerz- und entbehrungslose Stunde als unendlich beneidenswert, als ein verlorenes Paradies, als einen verkannten Freund vorhält. Aber wir verleben unsre schönen Tage, ohne sie zu bemerken: erst wann die schlimmen kommen, wünschen wir jene zurück. Tausend heitere, angenehme Stunden lassen wir, mit verdrießlichem Gesicht, ungenossen an uns vorüberziehn, um nachher, zur trüben Zeit, mit vergeblicher Sehnsucht ihnen nachzuseufzen. Statt dessen sollten wir jede erträgliche Gegenwart, auch die alltägliche, welche wir jetzt so gleichgültig vorüberziehn lassen, und wohl gar noch ungeduldig nachschieben, - in Ehren halten, stets eingedenk, daß sie eben jetzt hinüberwallt in jene Apotheose der Vergangenheit, woselbst sie fortan, vom Lichte der Unvergänglichkeit umstrahlt, vom Gedächtnisse aufbewahrt wird, um, wann dieses einst, besonders zur schlimmen Stunde, den Vorhang lüftet, als ein Gegenstand unsrer innigen Sehnsucht sich darzustellen


  3. Alle Beschränkung beglückt. Je enger unser Gesichts-, Wirkungs- und Berührungskreis, desto glücklicher sind wir: je weiter, desto öfter fühlen wir uns gequält, oder geängstigt. Denn mit ihm vermehren und vergrößern sich die Sorgen, Wünsche und Schrecknisse. Darum sind sogar Blinde nicht so unglücklich, wie es uns a prioi scheinen muß: dies bezeugt die sanfte, fast heitere Ruhe in ihren Gesichtszügen. Auch beruht es zum Teil auf dieser Regel, daß die zweite Hälfte des Lebens trauriger ausfällt, als die erste. Denn im Laufe des Lebens wird der Horizont unsrer Zwecke und Beziehungen immer weiter. In der Kindheit ist er auf die nächste Umgebung und die engsten Verhältnisse beschränkt; im Jünglingsalter reicht er schon bedeutend weiter; im Mannesalter umfaßt er unsern ganzen Lebenslauf, ja, erstreckt sich oft auf die entferntesten Verhältnisse, auf Staaten und Völker; im Greisenalter umfaßt er die Nachkommen. - Jede Beschränkung hingegen, sogar die geistige, ist unserm Glücke förderlich. Denn je weniger Erregung des Willens, desto weniger Leiden: und wir wissen, daß das Leiden das Positive, das Glück bloß negativ ist. Beschränktheit des Wirkungskreises benimmt dem Willen die äußeren Veranlassungen zur Erregunng; Beschränktheit des Geistes die innern. Nur hat letztere den Nachteil, daß sie der Langenweile die Tür öffnet, welche mittelbar die Quelle unzähliger Leiden wird, indem man, um nur sie zu bannen, nach allem greift, also Zerstreuung, Gesellschaft, Luxus, Spiel, Trunk usw. versucht, welche jedoch Schaden, Ruin und Unglück jeder Art herbeiziehn. Difficilis in otio quies. Wie sehr hingegen die äußere Beschränkung dem menschlichen Glücke, soweit es gehen kann, förderlich, ja, notwendig sei, ist daran ersichtlich, daß die einzige Dichtungsart, welche glückliche Menschen zu schildern unternimmt, das Idyll, sie stets und wesentlich in höchst beschränkter Lage und Umgebung darstellt. Das Gefühl der Sache liegt auch unserm Wohlgefallen an den sogenannten Genrebildern zum Grunde. - Demgemäß wird die möglichste Einfachheit unserer Verhältnisse und sogar die Einförmigkeit der Lebensweise, solange sie nicht Langeweile erzeugt, beglücken; weil sie das Leben selbst, folglich auch die ihm wesentliche Last, am wenigsten spüren läßt: es fließt dahin, wie ein Bach, ohne Wellen und Strudel.


  4. In Hinsicht auf unser Wohl und Wehe kommt es in letzter Instanz darauf an, womit das Bewußtsein erfüllt und beschäftigt sei. Hier wird nun im ganzen jede rein intellektuelle Beschäftigung dem ihrer fähigen Geiste viel mehr leisten, als das wirkliche Leben, mit seinem beständigen Wechsel des Gelingens und Mißlingens, nebst seinen Erschütterungen und Plagen. Nur sind dazu freilich son überwiegende geistige Anlagen erfordert. Sodann ist hiebei zu bemerken, daß, wie das nach ausßen tätige Leben von uns von den Studien zerstreut und ablenkt, auch dem Geiste die dazu erforderliche Ruhe und Sammlung benimmt; ebenso andrerseits die anhaltende Geistesbeschäftigung zum Treiben und Tummeln des wirklichen Lebens, mehr oder weniger, untüchtig macht: daher ist es ratsam, dieselbe auf eine Weile ganz einzustellen, wann Umstände eintreten, die irgendwie eine energische praktische Tätigkeit erfordern.


  5. Um mit vollkommener Besonnenheit zu leben und aus der eigenen Erfahrung alle Belehrung, die sie enthält, herauszuziehn, ist erfordert, daß man oft zurückdenke und, was man erlebt, getan, erfahren und dabei empfunden hat, rekapituliere, auch seine ehemaliges Urteil mit seinem gegenwärtigen, seinen Vorsatz und Streben mit dem Erfolg und der Befriedigung durch denselben vergleiche. Dies ist die Repitition des Privatissimums, welches jedem die Erfahrung liest. Auch läßt die eigene Erfahrung sich ansehn als der Text; Nachdenken und Kenntnisse als der Kommentar dazu. Viel Nachdenken und Kenntnisse, bei wenig Erfahrung, gleicht den Ausgaben, deren Seiten zwei Zeilen Text und vierzig Zeilen Kommentar darbieten. Viel Erfahrung, bei wenig nachdenken und geringen Kenntnissen, gleicht den bipontinischen Ausgaben, ohne Noten, welche vieles unverstanden lassen.

    Auf die hier gegebene Anempfehlung zielt auch die Regel des Pythagoras, daß man abends, vor dem Einschlafen, durchmustern solle, was man den Tag über getan hat. Wer im Getümmel der Geschäfte, oder Vergnügungen, dahinlebt, ohne je seine Vergangenheit zu ruminieren, vielmehr nur immerfort sein Lebens abhaspelt, dem geht die klare Besonnenheit verloren: sein Gemüt wird ein Chaos, und eine gewisse Verworrenheit kommt in seine Gedanken, von welcher alsbald das Abrupte, Fragmentarische, gleichsam Kleingehackte seiner Konversation zeugt. Dies ist um so mehr der Fall, je größer die äußere Unruhe, die Menge der Eindrücke, und je geringer die innere Tätigkeit seines Geistes ist.

    Hieher gehört die Bemerkung, daß, nach längerer Zeit und nachdem die Verhältnisse und Umgebungen, welche auf uns einwirkten, vorübergegangen sind, wir nicht vermögen, unsere damals durch sie erregte Stimmung und Empfindung uns zurückzurufen und zu erneuern: wohl aber können wir unserer eigenen, damals von ihnen hervorgerufenen Aeußerungen uns erinnern. Diese nun sind das Resultat, der Ausdruck und der Maßstab jener. Daher sollte das Gedächtnis, oder das Papier, dergleichen, aus denkwürdigen Zeitpunkten, sorgfältig aufbewahren. Hiezu sind Tagebücher sehr nützlich.


  6. Sich selber genügen, sich selber alles in alem sein, und sagen können omnia mea mecum porto, ist gewiß für unser Glück die förderlichste Eigenschaft: daher der Ausspruch des Aristoteles ή ευδαιμονια των αυταρϰων εστι (felicitas sibi sufficientium est. Eth. Eud. 7,2) nicht zu oft wiederholt werden kann. (Auch ist es im wesentlichen derselbe Gedanke, den, in einer überaus artigen Wendung, die Sentenz Chamforts ausdrückt, welche ich dieser Abhandlung als Motto vorgesetzt habe.) Denn teils darf man, mit einiger Sicherheit, auf niemand zählen, als auf sich selbst, und teils sind die Beschwerden und Nachteile, die Gefahr und der Verdruß, welche die Gesellschaft mit sich führt, unzählig und unausweichbar.

    Kein verkehrterer Weg zum Glück, als das Leben in der großen Welt, in Saus und Braus (high life): denn es bezweckt, unser elendes Dasein in eine Sukzession von Freude, Genuß, Vergnügen zu verwandeln, wobei die Enttäuschung nicht ausbleiben kann; so wenig, wie bei der Obligaten Begleitung dazu, dem gegenseitigen Belügen *).

    Anmerkung *) Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen verhüllt. Unser Reden, Tun, unser ganzes Wesen, ist lügenhaft: und erst durch diese Hülle hindurch kann man bisweilen unsere wahre Gesinnung erraten, wie durch die Gewänder hindurch die Gestalt des Leibes

    Zunächst erfordert jede Gesellschaft notwendig eine gegenseitige Akkommodation und Temperatur: daher wird sie, je größer, desto fader. Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn nur wann man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität ist. Demgemäß wird jeder in genauer Proportion zum Werte seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen, oder lieben. Denn in ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine ganze Größe, kurz, jeder sich als was er ist. Ferner, je höher einer auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar wesentlich und unvermeidlich. Dann aber ist es eine Wohltat für ihn, wenn die physische Einsamkeit der geistigen entspricht: widrigenfalls dringt die häufige Umgebung heterogener Wesen störend, ja, feindlich auf ihn ein, raubt ihm sein Selbst und hat nichts als Ersatz dafür zu geben. Sodann, während die Natur zwischen menschen die weiteste Verschiedenheit, im Moralischen und Intellektuellen, gesetzt hat, stellt die Gesellschaft, diese für nichts achtend, sie alle gleich, oder vielmehr sie setzt an ihre Stelle die künstlichen Unterschiede und Stufen des Standes und Ranges, welche der Rangliste der Natur sehr oft diametral entgegenlaufen. Bei dieser Anordnung stehen sich die, welche die Natur niedrig gestellt, sehr gut; die wenigen aber, welche sie hoch stellte, kommen dabei zu kurz; daher diese sich der Gesellschaft zu entziehn pflegen und in jeder, sobald sie zahlreich ist, das Gemeine vorherrscht. Was den großen Geistern die Gesellschaft verleidet, ist die Gleichheit der Rechte, folglich der Ansprüche, bei der Ungleichheit der Fähigkeiten, folglich der (gesellschaftlichen) Leistungen, der andern. Die sogenannte gute Sozietät läßt Vorzüge aller Art gelten, nur nicht die geistigen, diese sind sogar Konterbande. Sie verpflichten uns, gegen jede Torheit, Narrheit, Verkehrtheit, Stumpfheit genzenlose Geduld zu beweisen; persönliche Vorzüge hingegen sollen sich Verzeihung erbetteln, oder sich verbergen; denn die geistige Ueberlegenheit verletzt durch ihre bloße Existenz, ohne alles Zutun des Willens. Demnach hat die Gesellschaft, welche man die gute nennt, nicht nur den Nachteil, daß sie uns Menschen darbietet, die wir nicht loben und lieben könen, sondern sie läßt auch nicht zu, daß wir selbst seien, wie es unsrer natur angemessen ist; vielmehr nötigt sie uns, des Einklanges mit den anderen wegen, einzuschrumpfen, oder gar uns selbst zu verunstalten. Geistreiche Reden oder einfälle gehören nur vor geistreiche Gesellschaft: in der gewöhnlichen sind sie geradezu verhaßt; denn um in dieser zu gefallen, ist durchaus notwendig, daß man platt und borniert sei. In solcher Gesellschaft müssen wir daher, mit schwerer Selbstverleugnung, drei Viertel unsrer selbst aufgeben, um uns den andern zu verähnlichen. Dafür haben wir dann freilich die andern: aber je mehr eigenen Wert einer hat, desto mehr wird er finden, daß hier der Gewinn den Verlust nicht deckt ud das Geschäft zu seinem Nachteil ausschlägt; weil die Leute, in der Regel, insolvent sind, d. h, in ihrem Umgang nichts haben, das für die Langweiligkeit, die Beschwerden und Unannehmlichkeiten desselben und fpr die Selbstverleugnung, die er auflegt, schadlos hielte: demnach ist die allermeiste Gesellschaft so beschaffen, daß, wer sie gegen die Einsamkeit vertauscht, einen guten Handel macht. Dazu kommt noch, daß die Gesellschaft, um die echte, d. i, die geistige Ueberlegenheit, welche sie nicht verträgt, und die auch schwer zu finden ist, zu ersetzen, eine falsche, konventionelle, auf willkürlichen Satzungen beruhende und traditionell unter den höhern Ständen sich fortpflanzende, auch, wie die Parole, veränderliche Ueberlegenheit, beliebig angenommen hat: diese ist, was der gute ton, bon ton, fashionableness genannt wird. Wann sie jedoch einmal mit der echten in Kollision gerät, zeigt sich ihre Schwäche. - Zudem, quand le bon ton arrive, le bon sens se retire.

    Ueberhaupt kann jeder im vollkommensten Einklange nur mit sich selbst stehn; nicht mit seinem Freunde, nicht mit seiner Geliebten: denn die Unterschiede der Individualität und Stimmung führen allemal eine, wenn auch geringe, Dissonanz herbei. Daher ist der wahre, tiefe Friede des Herzens und die vollkommene Gemütsruhe, dieses, nächst der Gesundheit, höchste irdische Gut, allein in der Einsamkeit zu finden und als dauernde Stimmung nur in der tiefsten Zurückgezoogenheit. Ist dann das eigene Selbst groß und reich; so genießt man den glücklichsten Zustnd, der auf dieser amren Erde gefunden werden mag. Ja, es sei herausgesagt: so eng auch Freundschaft, Liebe und Ehe Menschen verbinden; ganz ehrlich meint jeder es am Ende doch nur mit sich selbst und höchstens noch mit seinem Kinde. - Je weniger einer, infolge objektiver oder subjektiver Bedingungen, nötig hat, mit den menschen in Berührung zu kommen, desto besser ist er daran. Die Einsamkeit und Oede läßt alle ihre Uebel auf einmal, wenn auch nicht empfinden, doch übersehn: hingegen die Gesellschaft ist insidiös: sie verbirgt hinter dem Scheine der Kurzweil, der Mitteilung, des geselligen Genusses usw. große, oft unheilbare Uebel. Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen; weil sie eine Quelle des Glückes, der Gemütsruhe ist. - Aus diesem allen nun folgt, daß der am besten daran ist, der nur auf sich selbst gerechnet hat und sich selber alles in allem sein kann; sogar sagt Cicero: Nemo potest non beatissimus esse, qui est totus aptus ex sese, quique in se uno ponit omnia. (Paradox. II.) Zudem, je mehr einer an sich selber hat, desto weniger können andere ihm sein. Ein gewisses Gefühl von Allgenugsamkeit ist es, welches die Leute von innerm Wert und Reichtum abhält, der Gemeinschaft mit andern die bedeutenden Opfer, welche sie verlangt, zu bringen, geschweige dieselbe, mit merklicher Selbstverleugnung, zu suchen. Das Gegenteil hievon macht die gewöhnlichen Leute so gesellig und akkommodant: es wird ihnen nämlich leichter, andere zu ertragen, als sich selbst. Noch kommt hinzu, daß, was wirklichen Wert hat in der Welt, nicht geachtet wird, und was geachtet wird, keinen Wert hat. Hievon ist die Zurückgezogenheit jedes Würdigen und Ausgezeichneten der Beweis und die Folge. Diesem allen nach wird es in dem, der etwas Rechtes an sich selber hat, echte Lebensweisheit sein, wenn er, erforderlichenfalls, seine Bedürfnisse einschränkt, um nur seine Freiheit zu wahren, oder zu erweitern, und demnach mit seiner Person, da sie unvermeidliche Verhältnisse zur Menschenwelt hat, so kurz wie möglich sich abfindet.

    Was nun andrerseits die Menschen gesellig macht, ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und in dieser sich selbst zu ertragen. Innere Leere und Ueberdruß sind es, von denen sie sowohl in die Gesellschaft, wie in die Fremde und auf Reisen getrieben werden. Ihrem Geiste mangelt es an Federkraft, sich eigene Bewegung zu erteilen: daher suchen sie Erhöhung derselben durch Weein und werden viele auf diesem Wege zu Trunkenbolden. Ebendaher bedürfen sie der steten Erregung von außen und zwar der stärkesten, d. i. der durch Wesen ihresgleichen. Ohne diese sinkt ihr Geist, unter seiner eigenen Schwere, zusammen und verfällt in eine drückende Lethargie *).

    Anmerkung *) Bekanntlich werden Uebel dadurch erleichtert, daß man sie gemeinschaftlich erträgt: zu diesen scheinen die Leute die Langeweile zu zählen; daher sie sich zusammensetzen, um sich gemeinschaftlich zu langweilen. Wie die Liebe zum Leben im Grunde nur Furcht vor dem Tode ist, so ist auch der Geselligkeitstrieb der Menschen im Grunde kein direkter, beruht nämlich nicht auf Liebe zur Gesellschaft, sondern auf Furcht vor der Einsamkeit, indem es nicht sowohl die holdselige Gegenwart der andern ist, die gesucht, als vielmehr die Oede und Beklommenheit des Alleinseins, nebst der Monotonie des eigenen Bewußtseins, die geflohen wird; welche zu entgehn man daher auch mit schlechter Gesellschaft vorlieb nimmt, imgleichen das Lastige und den Zwang, den jede notwendig mit sich bringt, sich gefallen läßt. - Hat hingegen der Widerwille gegen dieses alles gesiegt und ist, infolge davon, die Gewohnheit der Einsamkeit und die Abhärtung gegen ihren unmittelbaren Eindruck eingetreten, so daß sie die oben bezeichneten Wirkungen nicht mehr hervorbringt; dann kann man mit größter Behaglichkeit immerfort allein sein, ohne sich nach Gesellschaft zu sehnen, eben weil das Bedürfnis derselben kein direktes ist und man andrerseits sich jetzt die wohltätigen Eigenschaften der Einsamkeit gewöhnt hat.

    Imgleichen ließe sich sagen, daß jeder von ihnen nur ein kleiner Bruch der Idee der Menschheit sei, daher er vieler Ergänzungen durch andere bedarf, damit einigermaßen ein volles menschliches Bewußtsein herauskomme: hingegen wer ein ganzer Mensch ist, ein Mensch par exellence, der stellt eine Einheit und keinen Bruch dar, hat daher an sich selbst genug. Man kann, in diesem Sinne, die gewöhnliche Gesellschaft jener russischen Hornmusik vergleichen, bei der jedes Horn nur einen Ton hat, und bloß durch das pünkliche Zusammentreffen aller eine Musik herauskommt. Denn monoton, wie ein solches eintöniges Horn, ist der Sinn und Geist der allermeisten Menschen: sehn doch viele von ihnen schon aus, als hätten sie immerfort nur einen und denselben Gedanken, unfähig, irgendeinen andern zu denken. Hieraus also erklärt sich nicht nur, warum sie so langweilig, sondern auch, warum sie so gesellig sind und am liebsten herdenweise einhergehn: The gregariousness of mankind. Die Monotonie seines eigenen Wesens ist es, die jedem von ihnen unerträglich wird: - omnis stutitia laborat fastidio sui: - nur zusammen und durch die Vereinigung sind sie irgend etwas, - wie jene Hornbläser. Dagegen ist der geistvolle Mensch einem Virtuosen zu vergleich, der sein Konzert allein ausführt; oder auch dem Klavier. Wie nämlich dieses, für sich allein, ein kleines Orchester, so ist er eine kleine Welt, und was jene alle erst durch das Zusammenwirken sind, stellt er dar in der Einheit eines Bewußtseins. Wie das Klavier, ist er kein Teil der Symphonie, sondern für das Solo und die Einsamkeit geeignet: soll er mit ihnen zusammenwirken; so kann er es nur sein als Prinzipalstimme mit Begleitung, wie das Klavier; oder zum Tonangeben, bei Vokalmusik, wie das Klavier. - Wer inzwischen Gesellschaft liebt, kann sich aus diesem Gleichnis die Regel abstrahieren, daß, was den Personen seines Umgangs an Qualität abgeht, durch die Quantität einigermaßen ersetzt werden muß. An einem einzigen geistvollen Menschen kann er Umgang genug haben: ist aber nichts als die gewöhnliche Sorte zu finden; so ist es gut, von dieser recht viele zu haben, damit durch die Mannigfaltigkeit und das Zusammenwirken etwas herauskomme, - nach Analogie der besagten Hornmusik: und der Himmel schenke ihm dazu Geduld.

    Jener innern Leere aber und Dürftigkeit der Menschen ist auch dieses zuzuschreiben, daß, wenn einmal, irgendeinen edelen, idealen Zweck beabsichtigend, Menschen besserer Art zu einem Verein zusammentreten, alsdann der Ausgang fast immer dieser ist, daß aus jenem plebs der Menschheit, welcher, in zahlloser Menge, wie Ungeziefer, überall alles erfüllt und bedeckt, und stets bereit ist, jedes, ohne Unterschied, zu ergreifen, um damit seiner Langenweile, wie unter andern Umständen seinem Mangel, zu Hilfe zu kommen, - auch dort einige sich einschleichen, oder eindrängen und dann bald entweder die ganze Sache zerstören, oder sie so verändern, daß sie ziemlich das Gegenteil der ernsten Absicht wird. -

    Uebrigens kann man die Geselligkeit auch betrachten als ein geistiges Erwärmen der Menschen aneinander, gleich jenem körperlichen, welches sie, bei großer Kälte, durch Zusammendrängen hervorbringen. Allein wer selbst viel geistige Wärme hat, bedarf solcher Gruppierung nicht. Eine in diesem Sinne von mir erdachte Fabel wird man im zweiten Teile der Parerga und Paralipomena finden, im letzten Kapitel. Diesem allen zufolge, steht die Geselligkeit eines jeden ungefähr im umgekehrten Verhältnisse seines intellktuellen Wertes, und "er ist sehr ungesellig" sagt beinahe schon "er ist ein Mann von großen Eigenschaften".

    Dem intellektuell hochstehenden Menschen gewährt nämlich die Einsamkeit einen zwiefachen Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu sein, und zweitens den, nicht mit andern zu sein. Diesen letzteren wird man hoch anschlagen, wenn man bedenkt, wieviel Zwang, Bescherde und selbst Gefahr jeder Umgang mit sich bringt. Tout notre mal vient de ne pouvoir être seoul, sagt Labruyére. Geselligkeit gehört zu den gefährlichen, ja verderblichen Neigungen, da sie uns in kontakt bringt mit Wesen, deren große Mehrheit moralisch schlecht und intellektuell stumpf oder verkehrt ist. Der Ungesellige ist einer, der ihrer nicht bedarf. An sich selber so viel zu haben, daß man der Gesellschaft nicht bedarf, ist schon deshalb ein großes Glück, weil fast alle unsere Leiden aus der Gesellschaft entspringen, und die Geistesruhe, welche nächst der Gesundheit, das wesentlichste Element unseres Glückes ausmacht, durch jede Gesellschaft gefährdet wird und daher ohne ein bedeutendes Maß von Einsamkeit nicht besthen kann. Um des Glückes der Geistesruhe teilhaftig zu werden, entsagten die Kyniker jedem Besitz: wer in gleicher Absicht der Gesellschaft entsagt, hat das weiseste Mittel erwählt. Denn so treffend, wie schön, ist was Bernadin de St. Pierre sagt: La dieète des alimens nous rend la santé du corps, et celle des Hommes la tranquillité de l'âme. Sonach hat wer sich zeitig mit der Einsamkeit befreundet, ja, sie lieb gewinnt, eine Goldmine erworben. Aber keineswegs vermag dies jeder. Denn, wie ursprünglich die Not, so treibt nach Beseitigung dieser, die Langeweile die Menschen zusammen. Ohne beide bliebe jeder allein; schon weil nur in der Einsamkeit die Umgebung der ausschließlichen Wichtigkeit, Ja Einzigkeit entspricht, die jeder in seinen eigenen Augen hat, und welche vom Weltgedränge zu nichts verkleinert wird; als wo sie, bei jedem Schritt, ein schmerzliches démenti erhält. In diesem Sinne ist die einsamkeit sogar der natürliche Zustand eines jeden: sie setzt ihn wieder ein, als ersten Adam, in das ursprüngliche, seiner Natur angemessene Glück.

    Aber hatte doch auch Adam weder Vater, noch Mutter! Daher wieder ist, in einem andern Sinne, die Einsamkeit dem Menschen nicht natürlich; sofern nämlich er, bei seinem Eintritt in die Welt, sich nicht allein, sondern zwischen Eltern und Geschwistern, also in Gemeinschaft, gefunden hat. Demzufolge kann die Liebe zur Einsamkeit nicht als ursprünglicher Hang dasein, sondern erst infolge der Erfahrung und des Nachdenkens entstehn: und dies wird statthaben, nach Maßgabe der Entwickelung eigener geistiger Kraft, zugleich aber auch mit der Zunahme der Lebensjahre; wonach denn, im ganzen genommen, der Gesellsigkeitstrieb eines jeden im umgekehrten Verhältnisse seines Alters stehn wird. Das kleine Kind erhebt ein Angst und Jammergeschrei, sobald es nur einige Minuten allein gelassen wird. Dem Kanben ist das Alleinsein eine große Pönitenz. Jünglinge gesellen sich leicht zueinander: nur die edleren und hochgesinnten unter ihnen suchen schon bisweilen die Einsamkeit: jedoch einen Tag allein zuzubringen wird ihnen noch schwer. Dem Manne hingegen ist dies leicht: er kann schon viel allein sein, und desto mehr, je älter er wird. Der Greis, welcher aus verschwundenen Generationen allein übrig geblieben und dazu den Lebensgenüssen teils entwachsen, teils abgestorben ist, findet an der Einsamkeit sein eigentliches Element. Immer aber wird hiebei, in den einzelnen, die Zunahme der Neigung zur Absonderung und Einsamkeit nach Maßgabe ihres intellektuellen Wertes erfolgen. Denn dieselbe ist, wie gesagt, keine rein natürliche, direkt durch die Bedürfnisse hervorgerufene, vielmehr bloß eine Wirkung gemachter Erfahrung und der Reflexion über solche, namentlich der erlangten Einsicht in die moralisch und intellektuell elende Beschaffenheit der allermeisten Menschen, bei welcher das schlimmste ist, daß, im Individuo, die moralischen und die intellektuellen Unvollkommenheiten desselben konspirieren und sich gegenseitig in die Hände arbeiten, woraus dann allerlei höchst widerwärtige Phänomene hervorgehn, welche den Umgang der meisten Menschen ungenießbar, ja unerträglich machen. So kommt es denn, daß, obwohl in dieser Welt gar vieles recht schlecht ist, doch das Schlechteste darin die Gesellschaft bleibt; so daß selbst Voltaire, der gesellige Franzose, hat sagen müssen: La terre est vouverte de gens qui ne méritent pas qu'on leur parle. Denselben Grund gibt auch der die Einsamkeit so stark und beharrlich liebende, sanftmütige Petrarca für diese Neigung an:

    Cercato ho sempre solitaria vita
             (Le rive il sanno, e le campagne e i boschi),
    Per fuggir quest' ingegni storti e loschi,
             Che la strada del ciel' hanno smarita.

    In gleichem Sinne führt er die Sache aus, in seinem schönen Buche De vita solitaria, welches Zimmermanns Vorbild zu seinem berühmten Werke über die Einsamkeit gewesen zu sein scheint. Ebendiesen bloß sekundären und mittelbaren Ursprung der Ungeselligkeit drückt, in seiner sarkastischen Weise, Cahmfort aus, wenn er sagt: On dit quelquefois d'un homme qui vit seul, il n'aime pas la société. C'est souvent comme si on disait d'un homme, qu'il n'aime pas la promenade, sous le prétexte qu'il ne se promène pas volontiers le soir dans la forêt de Bondy. Aber auch der sanfte und christliche Angelus Silesius sagt, in seiner Weise und mythischen Sprache, ganz dasselbe:

    "Herodes ist ein Feind; der Joseph der Verstand,
    Dem macht Gott die Gefahr im Traum (Geist) bekannt,
    Die Welt ist Bethlehem, Aegypten Einsamkeit:
    Fleuch, meine Seele! Fleuch, sonst stirbest du vor Leid."

    In gleichem Sinne läßt sich Jordanus Brunus vernehmen: Tanti uomini, che in terra hanno voluto gustare vita celeste, dissero con una voce: "ecce elongavi fugienes, et mansi in solitudine." In gleichem Sinne berichtet Sadi, der Perser, im gulistan, von siich selbst: "Meiner Freunde in Damaskus überdrüssig, zog ich mich in die Wüste bei Jerusalem zurücl, die Gesellschaft der Tiere aufzusuchen *)."

    Anmerkung *) Im selben Sinne sagt Sadi im Gulistan (s. die Uebersetzung von Graf S. 65): "Seit dieser Zeit haben wir von der Gesellschaft Abschied genommen und uns den Weg der Absonderung vorgenommen: denn die Sicherheit ist in der Einsamkeit."

    Kurz, in gleichem Sinne haben alle geredet, die Prometheus aus besserem Tone geformet hatte. Welchen Genuß kann ihnen der Umgang mit Wesen gewähren, zu denen sie nur vermittelst des Niedristen und Unedelsten in ihrer eigenen natur, nämlich des Alltäglichen, Trivialen und Gemeinen darin, irgend Beziehungen haben, die eine Gemeinschaft begründen, und denen, weil sie nicht zu ihrem niveau sich erheben können, nichts übrigbleibt, als sie zu dem ihrigen herabzuziehn, was demnach ihr Trachten wird? Sonach ist es ein aristokratisches Gefühl, welches den Hang zur Absonderung und Einsamkeit nährt. Alle Lumpe sind gesellig, zum Erbarmen: daß hingegen ein Mensch edlerer Art sei, zeigt sich zunächst daran, daß er kein Wohlgefallen an den übrigen hat, sondern mehr und mehr die einsamkeit ihrer Gesellschaft vorzieht und dann allmählich, mit den jahren, zu der Einsicht gelangt, daß es, seltene Ausnahmen abgerechnet, in der Welt nur die Wahl gibt zwischen Einsamkeit und Gemeinheit. Sogar auch dieses, so hart es klingt, hat selbst Angelus Silesius, seiner christlichen Milde und Liebe ungeachtet, nicht ungesagt lassen können:

    "Die Einsamkeit ist not; doch sei nur nicht gemein:
    So kannst du überall in einer Wüste sein."

    Was nun aber gar die großen Geister betrifft, so ist es wohl natürlich, daß diese eigentlichen Erzieher des ganzen Menschengeschlechtes zu häufiger Gemeinschaft mit den übrigen so wenig Neigung fühlen, als den Pädagogen anwandelt, sich in das Spiel der ihn umlärmenden Kinderherde zu mischen. Denn sie, die auf die Welt gekommen sind, um sie auf dem Meer ihrer Irrtümer der Wahrheit zuzulenken und aus dem finstern Abgrund ihrer Roheit und Gemeinheit nach oben, dem Lichte zu, der Bildung und Veredlung entgegenzuziehn, - sie müssen zwar unter ihnen leben, ohne jedoch eigentlich zu ihnen zu gehören, fühlen sich daher, von Jugend auf, als merklich von den andern verschiedene Wesen, kommen aber erst allmählich, mit den Jahren, zur deutlichen Erkenntnis der Sache, wonach sie dann sorge tragen, daß zu ihrer geistigen Entfernung von den andern auch die physische komme, und keiner ihnen nahe rücken darf, er sei denn schon selbst ein mehr oder weniger Eximierter von der allgemeinen Gemeinheit.

    Aus diesem allen ergibt sich alos, daß die Liebe zur Einsamkeit nicht direkt und als ursprünglicher Trieb auftritt, sondern sich indirekt, vorzüglich bei edleren Geistern und erst nach und nach entwickelt, nicht ohne Ueberwindung des natürlichen Geselligkeitstriebes, ja, unter gelegentlicher Opposition mephistiphelischer Einflüsterung:

    "Hör auf, mit deinem Gram zu spielen,
    Der, wie ein Geier, dir am Leben frißt:
    Die schlechteste Gesellschaft läßt sich dich fühlen,
    Daß du ein Mensch mit Menschen bist."

    Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden Geister: sie werden solche bisweilen beseufzen; aber stets sie als das kleinere von zwei Uebeln erwählen. Mit zunehmendem Alter wird jedoch das sapere aude in diesem Stücke immer leichter und natürlicher, und in den sechziger Jahren ist der Trieb zur einsamkeit ein wirklich naturgemäßer, ja instinktartiger. Denn jetzt vereinigt sich alles, ihn zu befördern. Der stärkste Zug zur Geselligkeit, Weiberliebe und Geschlechtstrieb, wirkt nicht mehr; ja, die Geschlechtslosigkeit des Alters legt den Grund zu einer gewissen Selbstgenugsamkeit, die allmählich den Geselligkeitstrieb überhaupt absorbiert. Von tausend Täuschungen und torheiten ist man zurückgekommen; das aktive Leben ist meistens abgetan, man hat nichts mehr zu erwarten, hat keine Pläne und Absichten mehr; die Generation, der man eigentlich angehört, lebt nicht mehr; von einem fremden Geschlecht umgeben, steht man schon objektiv und wesentlich allein. Dabei hat der Flug der Zeit sich beschleunigt, und geistig möchte man sie noch benutzen. Denn, wenn nur der Kopf seine Kraft behalten hat; so machen jetzt die vielen erlangten Kenntnisse und Erfahrungen, die allmählich vollendete Durcharbeitung aller Gedanken und die große Uebungsfertigkeit aller Kräfte das Studium jeder Art interessanter und leichter, als jemals. Man sieht klar in tausend Dingen, die früher noch wie im Nebel lagen: man gelangt zu Resultaten und fühlt seine ganze Ueberlegenheit. Infolge langer Erfahrung hat man aufgehört, von den Menschen viel zu erwarten; da sie, im ganzen genommenen, nicht zu den Leuten gehören, welche bei näherer Bekanntschaft gewinnen: vielmehr weiß man, daß, von seltenen Glücksfällen abgesehn, man nichts antreffen wird, als sehr defekte Exemplare der menschlichen Natur, welche es besser ist, unberührt zu lassen. Man ist daher den gewöhnlichen Täuschungen nicht mehr ausgesetzt, merkt jedem bald an, was er ist, und wird selten den Wunsch fühlen, nähere Verbindung mit ihm einzugehn. Endlich ist auch, zumal wenn man an der Einsamkeit eine Jugendfreundin erkennt, die Gewohnheit der Isolation und des Umgangs mit sich selbst hinzugekommen und zur zweiten natur geworden. Demnach ist jetzt die Liebe zur einsamkeit, welche früher dem Geselligkeitstriebe erst abgerungen werden mußte, eine ganz natürliche und einfache: man ist in der Einsamkeit, wie der Fisch im Wasser. Daher fühlt jede vorzügliche, folglich den übrigen unähnliche, mithin alleinstehende Individualität sich, durch diese ihr wesentliche Isolation, zwar in der Jugend gedrückt, aber im Alter erleichter.

    Denn freilich wird dieses wirklichen Vorzugs des Alters jeder immer nur nach Maßgabe seiner intellektuellen Kräfte teilhaft, also der eminente Kopf vor allem; jedoch in geringerem Grade wohl jeder. Nur höchst dürftige und gemeine Naturen werden im Alter noch so gesellig sein, wie ehedem: sie sind der Gesellschaft, zu der sie nicht mehr passen, beschwerlich, und bringen es höchstens dahin, toleriert zu werden; während sie ehemals gesucht wurden.

    An dem dargelegten, entgegengesetzten Verhältnisse zwischen der Zahl unsrer Lebensjahre und dem Grade unsrer Geselligkeit läßt sich auch noch eine teleologische Seite herausfinden. Je jünger der Mensch ist, desto mehr hat er noch, in jeder Beziehung, zu lernen; nun hat ihn die Natur auf den wechselseitigen Unterricht verwiesen, welchen jeder im Umgange mit seinesgleichen empfängt und in Hinsicht auf welchen die menschliche Gesellschaft eine große Bell-Lancastersche Erziehungsanstalt genannt werden kann; da Büchr und Schulen künstliche, weil vom Plane der Natur abliegende Anstalten sind. Sehr zweckmäßig also besucht er die natürliche Unterrichtsanstalt desto fleißiger, je jünger er ist.

    Nihil est ab omni parte beatum sagt Horaz, und "Kein Lotus ohne Stengel" lautet ein indisches Sprichwort: so hat denn auch die Einsamkeit, neben so vielen Vorteilen, ihre kleinen Nachteile und Beschwerden, die jedoch, im Vergleich mit denen der Gesellschaft, gering sind; daher, wer etwas Rechtes an sich selber hat, es immer leichter finden wird, ohne die Menschen auszukommen, als mit ihnen. - Unter jenen Nachteilen ist übrigens einer, der nicht so leicht, wie die übrigen, zum Bewußtsein gebracht wird, nämlich dieser: wie durch anhaltend fortgesetztes Zuhausebleiben unser Leib so empfindlich gegen äußere Einflüsse wird, daß jedes kühle Lüftchen ihn krankhaft affiziert; so wird, durch anhaltende Zurückgezogenheit und Einsamkeit, unser Gemüt so empfindlich, daß wir durch die unbedeutendesten Vorfälle, Worte, wohl gar durch bloße Mienen, uns beunruhigt, oder gekränkt, oder verletzt fühlen; während der, welcher stets im Getümmel bleibt, dergleichen gar nicht beachtet.

    Wer nun aber, zumal in jüngeren Jahren, so oft ihn auch schon gerechtes Mißfallen an den Menschen in die Einsamkeit zurrückgescheucht hat, doch die Oede derselben, auf die Länge, zu ertragen nicht vermag, dem rate ich, daß er sich gewöhne, einen Teil seiner Einsamkeit in die Gesellschaft mitzunehmen, also daß er lerne, auch in der Gesellschaft in gewissem Grade, allein zu sein, demnach, was der denkt, nicht sofort den andern mitzuteilen, und andrerseits mit dem, was sie sagen, es nicht genau zu nehmen, vielmehr, moralisch wie intellektuell, nicht viel davon zu erwarten und daher, hinsichtlich ihrer Meinungen, diejenige Gleichgültigkeit in sich zu befestigen, die das sicherste Mittel ist, um stets eine lobenswerte Toleranz zu üben. Er wird alsdann, obwohl mitten unter ihnen, doch nicht so ganz in ihrer Gesellschaft sein. sondern hinsichtlich ihrer sich mehr rein objektiv verhalten: dies wird ihn vor zu genauer Berührung mit der Gesellschaft, und dadurch vor jeder Besudelung, oder gar Verletzung, schützen. Sogar eine lesenswerte dramatische Schilderung dieser restringierten, oder verschanzten Gesellschaft besitzen wir am Lustspiel "El Café o sea el comedia nueva" von Moratin, und zwar im Charakter des D. Pedro daselbst, zumal in der zweiten und dritten Szene des ersten Akts. In diesem Sinne kann man auch die Gesellschaft einem Feuer vergleichen, an welchem der Kluge sich in gehöriger Entfernung wärmt, nicht aber hineingreift, wie der Tor, der dann, nachdem er sich verbrannt hat, in die Kälte der Einsamkeit flieht und jammert, daß das Feuer brennt.


  7. Neid ist dem Menschen natürlich: dennoch ist er ein Laster und ein Unglück zugleich *).

    Anmerkung *) Der Neid der Menschen zeigt an, wie unglücklich sie sich fühlen; ihre beständige Aufmerksamkeit auf fremdes Tun und Lassen, wie sehr sie sich langweilen.

    Wir sollen daher ihn als den Feind unsers Glückes betrachten und als einen bösen Dämon zu ersticken suchen. Hiezu leitet uns Seneca an, mit den schönen Worten: nostra nos sine compartione delectent: nunquam erit felix quem torquebit felicor (De ira III, 30), und wiederum: quum adspexeris quot te antecedant, cogita quot sequantur (ep. 15): also wir sollen öfter die betrachten, welche schlimmer daran sind, als wir, denn die, welche besser daran zu sein scheinen. Sogar wird, bei eingetretenen, wirklichen Uebeln, uns den wirksamsten, wiewohl aus derselben Quelle mit dem Neide fließenden Trost die Betrachtung größerer Leiden, als die unsrigen sind, gewähren, und nächstdem der Umgang mit solchen, die mit uns im selben Falle sich befinden, mit den sociis malorum.

    So viel von der aktiven Seite des Neides. Von der passiven ist zu erwägen, daß kein Haß so unversöhnlich ist, wie der Neid; daher wir nicht unablässig und eifrig bemüht siein sollten, ihn zu erregen; vielmehr besser täten, diesen Genuß, wie manchen andern, der gefährlichen Folgen wegen, uns zu versagen. - Es gibt drei Aristokratien: 1. die der Geburt und des Ranges, 2. die Geldaristokratie, 3. die geistige Aristokratie. Letztere ist eigentlich die vornehmste, wird auch dafür anerkannt, wenn man ihr nur Zeit läßt: hat doch sch Friedrich der Große gesagt: les âmes privilègiées rangent à l'égal des souverains, und zwar zu seinem Hofmarschall, der Anstoß daran nahm, daß, während Minister und Generäle an der Marschallstafel aßen, Voltaire an einer Tafel Platz nehmen sollte, an welcher bloß regierende Herren und ihre Prinzen saßen. - Jede dieser Aristokratien ist umgeben von einem Heer ihrer Neider, welche gegen jeden ihr Angehörigen heimlich erbittert und, wenn sie ihn nicht zu fürchten haben, bemüht sind, ihm auf mannigfaltige Weise zu verstehn zu geben, "du bist nichts mehr, als wir!" Aber gerade diese Bemühungen verraten ihre Ueberzeugung vom Gegenteil. Das von den Beneideten dagegen anzuwendende Verfahren besteht im Fernhalten aller dieser Schar Angehörigen und im möglichsten Vermeiden jeder Berührung mit ihnen, so daß sie durch eine weite Kluft abgetrennt bleiben; wo aber dies nicht angeht, im höchst gelassenen Ertragen ihrer Bemühungen, deren Quelle sie ja neutralisiert: - auch sehn wir dasselbe durchgängig angewandt. Hingegen werde die der einen Aristokratie Angehörigen sich mit denen einer der beiden andern meistens gut und ohne Neid vertragen; weil jeder seinen Vorzug gegen den andern in die Wage legt.


  8. Man überlege ein Vorhaben reiflich und wiederholt, ehe man dasselbe ins Werk setzt, und selbst nachdem man alles auf das gründlichste durchdacht hat, räume man noch der Unzulänglichkeit aller menschlichen Erkenntnis etwas ein, infolge welcher es immer noch Umstände geben kann, die zu erforschen oder vorherzusehn unmöglich ist und welche die ganze Berechnung unrichtig machen könnten. Dieses Bedenken wird stets ein Gewicht auf die negative Schale legen und uns anraten, in wichtigen Dingen, ohne Not, nichts zu rühren: quieta non movere. Ist man aber einmal zum Entschluß gekommen und hat Hand ans Werk gelegt, so daß jetzt alles seinen Verlauf zu nehmen hat und nur noch der Ausgang abzuwarten steht; dann ängstige man sich nicht durch stets erneuerte Ueberlegung des bereits Vollzogenen und durch wiederholtes Bedenken der möglichen Gefahr; vielmehr entschlage man der Sache sich jetzt gänzlich, halte das ganze Gedankenfach derselben verschlossen, sich mit der Ueberzeugung beruhigend, daß man alles zu seiner Zeit reiflich erwogen habe. diesen Rat erteilte auch das italienische Sprichwort legala bene, e poi lascia la andare, welches Goethe übersetzt "du, sattle gut und reite getrost"; - wie denn, beiläufig gesagt, ein großer Teil seiner unter der Rubrik "Sprichwörtlich" gegebenen Gnomen übersetzte italienische Sprichwörter sind. - Kommt dennoch ein schlimmer Ausgang; so ist es, weil alle menschlichen Angelegenheiten dem Zufall und dem Irrtum unterliegen. Daß Sokrates, der weiseste Menschen, um nur in seinen eigenen, persönlichen Angelegenheiten das Richtige zu treffen, oder wenigstens Fehltritte zu vermeiden, eines warnenden Dämonions bedurfte, beweist, daß hiezu kein menschlicher Verstand ausreicht. Daher ist jener, angeblich von einem Papste herrührende Ausspruch, daß von jedem Unglück, das uns trifft, wir selbst, wenigstens in irgend etwas, die Schuld tragen, nicht unbedingt und in allen Fällen wahr: wiewohl bei weitem in den meisten. Sogar scheint das Gefühl hievon viel Anteil daran zu haben, daß die Leute ihr Unglück möglichst zu verbergen suchen und, soweit es gelingen will, eine zufriedene Miene aufsetzen. Sie besorgen, daß man vom Leiden auf die Schuld schließen werde.


  9. Bei einem unglücklichen Ereignis, welches bereits eingetreten, also nicht mehr zu ändern ist, soll man sich nicht einmal den Gedanken, daß dem anders sein könnte, noch weniger den, wodurch es hätte abgewendet werden können, erlauben: denn gerade er steigert den Schmerz ins Unerträgliche: so daß man damit zum έαυτοντιμωρουμενο wird. Vielmehr mache man es wie der König David, der, solange sein Sohn krank darniederlag, den Jehovah unablässig mit Bitten und Flehen bestürmte; als er aber gestorben war, ein Schnippchen schlug und nicht weiter daran dachtge. Wer aber dazu nicht leichtsinnig genug ist, flüchte sich auf den fatalistischen Standpunkt, indem er sich die große Wahrheit verdeutlicht, daß alles, was geschieht, notwendig eintritt, also unabwendbar ist.

    Bei allen dem ist diese Regel einseitig. sie taugt zwar zu unserer unmittelbaren Erleichterung und Beruhigung bei Unglücksfällen: allein wenn an diesen, wie doch meistens unsere eigene Nachlässigkeit, oder Verwegenheit, wenigstens zum Teil, schuld ist; so ist die wiederholte, schmerzliche Ueberlegung, wie dem hätte vorgebeugt werden können, zu unserer Witzigung und Besserung, also für die Zukunft, eine heilsame Selbstzüchtigung. Und gar offenbar begangene Fehler sollen wir nicht, wie wir doch pflegen, oder zu verkleiner suchen, sondern sie uns eingestehn und in ihrer ganzen Größe deutlich uns vor Augen bringen, um den Vorsatz, sie künftig zu vermeiden, fest fassen zu können. Freilich hat man sich dabei den großen Schmerz der Unzufriedenheit mit sich selbst anzutun: aber δ μη δαρεις ανϑρωπος ου παιδευεται.


  10. In allem, was unser Wohl und Wehe betrifft, sollen wir die Phantasie im Zügel halten: also zuvörderst keine Luftschlösser bauen; weil diese zu kostspielig sind, indem wir, gleich darauf, sie, unter Seufzern, wieder einzureißen haben. Aber noch mehr sollen wir uns hüten, durch das Ausmalen bloß möglicher Unglücksfälle unser Herz zu ängstigen. Wenn nämlich diese ganz aus der Luft gegriffen, oder doch sehr weit hergeholt wären; so würden wir, beim Erwachen aus einem solchen Traume, gleich wissen, daß alles nur Gaukelei gewesen, daher uns der bessern Wirklichkeit um so mehr freuen und allenfalls eine Warnung gegen ganz entfernt, wiewohl mögliche Unglücksfälle daraus entnehmen. Allein mit dergleichen spielt unsere Phantasie nicht leicht: ganz müßigerweise baut sie höchstens heitere Luftschlösser. Der Stoff zu ihren finstern Träumen sind Unglücksflle, die uns, wenn auch aus der Ferne, doch einigermaßen wirklich bedrohen: diese vergrößert sie, bringt ihre Möglichkeit viel näher, als sie in Wahrheit ist und malt sie auf das fürchterlichste aus. Einen solchen Traum können wir, beim Erwachen, nicht sogleich abschütteln, wie den heitern: denn diesen widerlegt alsbald die Wirklichkeit und läßt höchstens eine schwache Hoffnung im Schoße der Möglichkeit übrig. Aber haben wir uns den schwarzen Phantasien (blue devils) überlassen; so haben sie uns Bilder nahegebracht, die nicht so leicht wieder weichen: denn die Möglichkeit der Sache, im allgemeinen, steht fest, und den Maßstab des Grades derselben vermögen wir nicht jederzeit anzulegen: sie wird nun leicht zur Wahrscheinlichkeit, und wir haben uns der Angst in die Hände geliefert. Daher also sollen wir die Dinge, welche unser Wohl und Wehe betreffen, bloß mit dem Auge der Vernunft und der Urteilskraft betrachten, folglich trockener und kalter Ueberlegung, mit bloßen Begriffen und in abtracto operieren. Die Phantasie soll dabei aus dem Spiele bleiben: denn urteilen kann sie nicht; sondern bringt bloße Bilder vor die Augen, welche das Gemüt unnützer- und oft sehr peinlicherweise bewegen. Am strengsten sollte diese Regel abends beobachtet werden. Denn wie die Dunkelheit uns furchtsam macht und uns überall Schreckensgestalten erblicken läßt, so wirkt, ihr analog, die Undeutlichkeit der Gedanken; weil jede Ungewißheit Unsicherheit gebiert: deshalb nehmen des Abends, wann die Abspannung Verstand und Urteilskraft mit einer subjektiven Dunkelheit überzogen hat, der Intellekt müde und ϑορυβουμενος ist und den Dingen nicht auf den Grund zu kommen vermag, die Gegenstände unsrer Meditation, wenn sie unsere persönlichen Verhältnisse betreffen, leicht ein gefährliches Ansehn an und werden zu Schreckbildern. Am meisten ist dies der Fall nachts, im Bette, als wo der Geist völlig abgespannt und daher die Urteilskraft ihrem Geschäfte gar nicht mehr gewachsen, die Phantasie aber noch rege ist. Da gibt die Nacht allem und jedem ihren schwarzen Anstrich. Daher sind unsere Gedanken vor dem Einschlafen, oder gar beim nächtlichen Erwachen, meistens fast ebenso arge Verzerrungen und Verkehrungen der Dinge, wie die Träume es sind, und dazu, wenn sie persönliche Angelegenheiten betreffen, gewöhnlich pechschwarz, ja, entsetzlich. Am Morgen sind dann alle solche Schreckbilder, so gut wie die Träume, verschwunden: dies bedeutet das spanische Sprichwort: noche tinta, blanco el dia (die Nacht ist gefärbt, weiß ist der Tag). Aber auch schon abends, sobald das Licht brennt, sieht der Verstand, wie das Auge, nicht so klar wie bei Tage: daher diese Zeit nicht zur Meditation ernster, zumal unangenehmer Angelegenheiten geeignet ist. Hiezu ist der Morgen die rechte Zeit; wie er es denn überhaupt zu allen Leistungen, ohne Ausnahme, sowohl den geistigen, wie den körperlichen, ist. Denn der Morgen ist die Jugend des Tages: alles ist heiter, frisch und leicht: wir fühlen uns kräftig und haben alle unsere Fähigkeiten zu völliger Disposition. Man soll ihn nicht durch spätes Aufstehn verkürzen, noch auch an unwürdige Beschäftigungen, oder Gespräche verschwenden, sondern ihn als die Quintessenz des Lebens betrachten und gewissermaßen heilig halten. Hingegen ist der Abend das Alter des Tages: wir sind abends matt, geschwätzig und leichtsinnig. - Jeder Tag ist ein kleines Leben, - jede Erwachen und Aufstehn eine kleine Geburt, jeder frische Morgen eine kleine Jugend, und jedes Zu-Bettegehn und Einschlaften ein kleiner Tod.

    Ueberhaupt aber hat Gesundheitszustand, Schlaf, Nahrung, Temperatur, Wetter, Umgebung und noch viel anderes Aeußerliches auf unsere Stimmung, und diese auf unsere Gedanken, einen mächtigen Einfluß. Daher ist, wie unsere Ansicht einer Angelegenheit, so auch unsere Fähigkeit zu einer Leistung so sehr der Zeit und selbst dem Orte unterworfen. Darum also

    "Nehmt die gute Stimmung wahr,
    Denn sie kommt so selten."
          G.

    Nicht etwa bloß objektive Konzeptionen und Originalgedanken muß man abwarten, ob und wann es ihnen zu kommen beliebt; sondern selbst die gründliche Ueberlegung einer persönlichen Angelegenheit gelingt nicht immer zu der Zeit, die man zum voraus für sie bestimmt und wann man sich dazu zurechtgesetzt hat; sondern auch sie wählt sich ihre Zeit selbst; wo alsdann der ihr angemessene Gedankengang unaufgefordert rege wird und wir mit vollem Antiel ihn verfolgen.

    Zur anempfohlenen Zügelung der Phantasie gehört auch noch, daß wir ihr nicht gestatten, ehemals erlittenes Unrecht, Schaden, Verlus, Beleidigungen, Zurücksetzungen, Kränkungen u. dgl. uns wieder zu vergegenwärtigen und auszumalen; weil wir dadurch den längst schlummernden Unwillen, Zorn und alle gehässigen Leidenschaften wieder aufregen, wodurch unser Gemüt verunreinigt wird. Denn, nach einem schönen, vom Neuplatoniker Proklos beigebrachten Gleichnis, ist, wie in jeder Stadt, neben den Edelen und Ausgezeichneten, auch der Pöbel jeder Art (οχλος) wohnt, so in jedem, auch dem edelsten und erhabensten Menschen das Niedrige und Gemeine der menschlichen Natur, der Anlage nach, vorhanden. Dieser Pöbel darf nicht zum Tumult aufgeregt werden, noch darf er aus den Fenstern schauen; da er sich häßlich ausnimmt: die bezeichneten Phantasiestücke sind aber die Demagogen desselben. Hierher gehört auch, daß die kleinste Widerwärtigkeit, sei sie von den Menschen oder Dingen ausgegangen, durch fortgesetztes Brüten darüber und Ausmalen mit grellen Farben und nach vergrößertem Maßstabe, zu einem Ungeheuer anschwellen kann, darüber man außer sich gerät. Alles Unangenehme soll man vielmehr höchst prosaisch und nüchtern auffassen, damit man es möglichst leicht nehmen könne.

    Wie kleine Gegenstände, dem Auge nahe gehalten, unser Gesichtsfeld beschränkend, die Welt verdecken, - so werden oft die Menschen und Dinge unserer nächsten Umgebung, so höchst unbedeutend und gleichgültig sie auch seien, unsere Aufmerksamkeit und Gedanken über die Gebühr beschäftigen, dazu noch auf unerfreuliche Weise, und werden wichtige Gedanken und Angelegenheiten verdrängen. Dem soll man entgegenarbeiten.


  11. Beim Anblick dessen, was wir nicht besitzen, steigt gar leicht in uns der Gedanke auf: "Wie, wenn das mein wäre?" und er macht uns die Entbehrung fühlbar. Statt dessen sollten wir öfter fragen: "Wie, wenn das nicht mein wäre?" ich meine, wir sollten das, was wir besitzen, bisweisen so anzusehn uns bemühen, wie es uns vorschweben würde, nachdem wir es verloren hätten; und zwar jedes, was es auch sei: Eigentum, Gesundheit, Freunde, Geliebte, Weib, Kind, Pferd und Hund: denn meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge. Hingegen infolge der anempfohlenen Betrachtungsweise derselben wird erstlich ihr Besitz uns unmittelbar mehr, als zuvor, beglücken, und zweitens werden wir auf alle Weise dem Verlust vorbeugen, also das Eigentum nicht in Gefahr bringen, die Freunde nicht erzürnen, die Treue des Weibes nicht der Versuchung aussetzen, die Gesundheit der Kinder bewachen usf. - Oft suchen wir das Trübe der Gegenwart aufzuhellen durch Spekulation auf günstige Möglichkeiten und ersinnen vielerlei schimärische Hoffnungen, von denen jede mit einer Enttäuschung schwanger ist, die nicht ausbleibt, wann jene an der harten Wirklichkeit zerschellt. Besser wäre es, die vielen schlimmen Möglichkeiten zum Gegenstand unserer Spekulation zu machen, als welches teils Vorkehrungen zu ihrer Abwehr, teils angenehme Ueberraschungen, wenn sie sich nicht verwirklichen, veranlassen würde. Sind wir doch, nach etwas ausgestandener Angst, stets merklich heiter. Ja, es ist sogar gut, große Unglücksfälle, die uns möglicherweise treffen könnten, uns bisweilen zu vergegenwärtigen; um nämlich die uns nachher wirklich treffenden viel kleineren leichter zu ertragen, indem wir dann durch den Rückblick auf jene großen, nicht eingetroffenen, uns trösten. Ueber diese Regel ist jedoch die ihr vorhergegangene nicht zu vernachlässigen.


  12. Weil die uns betreffenden Angelegenheiten und Begebenheiten ganz vereinzelt, ohne Ordnung und ohne Beziehung aufeinander, im grellsten Kontrast und ohne irgend etwas Gemeinsames, als eben daß sie unsere Angelegenheiten sind, auftreten und durcheinanderlaufen; so muß unser Denken und Sorgen um sie ebenso abrupt sein, damit es ihnen entspreche. - Sonach müssen wir, wenn wir eines vornehmen, von allem andern abstrahieren und uns der Sache entschlagen, um jedes zu seiner Zeit zu besorgen, zu genießen, zu erdulden, ganz unbekümmert um das übrige; wir müssen also gleichsam Schiebfächer unserer Gedanken haben, von denen wir durch eines öffnen, derweilen alle andern geschlossen bleiben. Dadurch erlangen wir, daß nicht eine schwer lastende Sorge jeden kleinen Genuß der Gegenwart verkümmere und uns alle Ruhe raube; daß nicht eine Ueberlegung die andere verdränge; daß nicht die Sorge für eine wichtige Angelegenheit die Vernachlässigung vieler geringen herbeiführe usf. Zumal aber soll, wer hoher und edeler Betrachtungen fähig ist, seinen Geist durch persönliche Angelegenheiten und niedrige Sorgen nie so ganz einnehmen und erfüllen lassen, daß sie jenen den Zugang versperren: denn das wäre recht eigentlich propter vitam vivendi perdere causas. - Freilich ist zu dieser Lenkung und Ablenkung unsrer selbst, wie zu so viel anderm, Selbstzwang erfordert: zu diesem aber sollte uns die Ueberlegung stärken, daß jeder Mensch gar vielen und großen Zwang von außen zu erdulden hat, ohne welchen es in keinem Leben abgeht; daß jedoch ein kleiner, an der rechten Stelle angebrachter Selbstzwang nachmals vielem Zwange von außen vorbeugt; wie ein kleiner Abschnitt des Kreises zunächst dem Zentro einem oft hundertmal größern an der Peripherie entspricht. Durch nichts entziehn wir uns o sehr dem Zwange von außen, wie durch Selbstzwang: das besagt Senecas Auspruch: si tibi vis omnia sujicere, te subjice rationi (ep. 37). Auch haben wir den Selbstzwang noch immer in der Gewalt, und können, im äußersten Fall, oder wo er unsere empfindlichste Stelle trifft, etwas nachlassen: hingegen der Zwang von außen ist ohne Rücksicht, ohne Schonung und unbarmherzig. Daher ist es weise, diesem durch jenen zuvorzukommen.


  13. Unsern Wünschen ein Ziel stecken, unsere Begierden im Zaume halten, unsern Zorn bändigen, stets eingedenk, daß dem einzelnen nur ein unendlicher kleiner Teil alles Wünschenswerten erreichbar ist, hingegen viele Uebel jeden treffen müssen, also, mit einem Worte απεχειν ϰαι ανεχειν, abstinere et sustinere, - ist eine Regel, ohne deren Beobachtung weder Reichtum, noch Macht verhindern können, daß wir uns armselig fühlen. Dahin zielt Horaz:

    Inter cuncta leges, et percontabere doctos
    Qua ratione queas traducere leniter aevum;
    Ne te semper inops agitet agitet vexetque cupido,
    Ne pavor, et rerum mediocriter utilium spes.


  14. Ό βιος έν τη ϰινησει έστι (vita motu constat) sagt Aristoteles, mit offenbarem Recht: und wie demnach unser physisches Leben nur in und durch eine unaufhörliche Bewegung besteht; so verlangt auch unser inneres, geistiges Leben fortwährend Beschäftigung, Beschäftigung mit irgend etwas, durch Tun oder Denken; einen Beweis hievon gibt schon das Trommeln mit den händen oder irgendeinem Gerät, zu welchem unbeschäftigte und gedankenlose Menschen sogleich greifen. Unser Dasein nämlich ist ein wesentlich rastloses: daher wird die gänzliche Untätigkeit uns bald unerträglich, indem sie die entsetzlichste Langeweile herbeiführt. Diesen Trieb nun soll man regeln, um ihn methodisch und dadurch besser zu befriedigen. Daher also ist Tätigkeit, etwas treiben, womöglich etwas machen, wenigstens aber etwas lernen, - zum Glück des Menschen unerläßlich: seine Kräfte verlangen nach ihrem Gebrauch, und er möchte den Erfolg desselben irgendwie wahrnehmen. Die größte Befriedigung jedoch, in dieser Hinsicht, gewährt es, etwas zu machen, zu verfertigen, sei es ein Korb, sei es ein Buch; aber daß man ein Werk unter seinen Händen täglich wachsen und endlich seine Vollendung erreichen sehe, beglückt unmittelbar. Dies leistet ein Kunstwerk, eine Schrift, ja selbst eine bloße Handarbeit; freilich, je edlerer Art das Werk, desto höher der Genuß. Am glücklichsten sind, in diesem Betracht, die Hochbegabten, welche sich der Fähigkeit zur Hervorbringung bedeutsamer, großer und zusammenhängender Werke bewußt sind. Denn dadurch verbreitet ein Interesse höherer Art sich über ihr ganzes Dasein und erteilt ihm eine Würze, welche dem der übrigen abgeht, welches demnach, mit jenen verglichen, gar schal ist. Für sie nämlich hat das Leben und die Welt, neben dem allen gemeinsamen, materiellen, noch ein zweites und höheres, ein formales Interesse, indem es den Stoff zu ihren Werken enthält, mit dessen Einsammlung sie, ihr Leben hindurch, emsig beschäftigt sind, sobald nur die persönliche Not sie irgend atmen läßt. Auch ist ihr Intellekt gewissermaßen ein doppelter: teils einer für die gewöhnlichen Beziehungen (Angelegenheiten des Willens), gleich dem aller andern: teils einer für die rein objektive Auffassung der Dinge. So leben sie zwiefach, sind Zuschauer und Schauspieler zugleich, während die übrigen letzeres allein sind. - Inzwischen treibe jeder etwas, nach Maßgabe seiner Fähigkeiten. Denn wie nachteilig der Mangel an planmäßiger Tätigkeit, an irgendeiner Arbeit, auf uns wirke, merkt man auf langen Vergügungsreisen, als wo man, dann und wann, sich recht unglücklich fühlt; weil man, ohne eigentliche Beschäftigung, gleichsam aus seinem natürlichen Elementen gerissen ist. Sich zu mühen und mit dem Widerstande zu kämpfen ist dem Menschen Bedürfnis, wie dem Maulwurf das Graben. Der Stillstand, den die Allgenugsamkeit eines bleibenden Genusses herbeiführte, wäre ihm unerträglich. Hindernisse überwinden ist der Vollgenuß seines Daseins; sie mögen materieller Art, wie beim Lernen und Forschen: der Kampf mit ihnen und der Sieg beglückt. Fehlt ihm die Gelegenheit dazu, so macht er sie sich, wie er kann: je nachdem seine Individualität es mit sich bringt, wird er jagen, oder Bilboquet spielen, oder, vom unbewußten Zuge seiner Natur geleitet, Händel suchen, oder Intrigen anspinnen, oder sich auf Betrügereien und allerlei Schlechtigkeiten einlassen, um nur dem ihm unerträglichen Zustande der Ruhe ein Ende zu machen. Difficilis in otio quies.


  15. Zum Leitstern seiner Bestrebungen soll man nicht Bilder der Phantasie nehmen, sondern deutlich gedachte Begriffe. Meistens aber geschieht das Umgekehrte. Man wird nämlich, bei genauerer Untersuchung, finden, daß, was bei unsern Entschließungen, in letzter Instanz, den Ausschlag gibt, meistens nicht die Begriffe und Urteile sind, sondern ein Phantasiebild, welches die eine der Alternativen repräsentiert und vertritt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Romane von Voltaire, oder Diderot, dem Helden, als er ein Jüngling und Herkules am Scheideweg war, die Tugend sich stets darstellte in Gestalt seines alten Hofmeisters, in der Linken die Tabaksdose, in der Rechten eine Prise haltend und so moralisieren; das Laster hingegen in Gestalt der Kammerjunfer seiner Mutter. - Besonders in der Jugend fixiert sich das Ziel unsers Glückes in Gestalt einiger Bilder, die uns vorschweben und oft das halbe, ja, das ganze Leben hindurch verharren. Sie sind eigentlich neckende Gespenster: denn, haben wir sie erreicht, so zerrinen sie in nichts, indem wir die Erfahrung machen, daß sie gar nichts, von dem, was sie verhießen, leisten. Dieser Art sind einzelen Szenen des häuslichen, bürgerlichen, gesellschaftlichen, ländlichen Lebens, Bilder der Wohnung, Umgebung, der Ehrenzeichen, Respektbezeugungen usw. usw. chaque fou a sa marotte: auch das Bild der Geliebten gehört of dahin. Daß es uns so ergehe, ist wohl natürlich: denn das Anschauliche wirkt, weil es das Unmittelbare ist, auch unmittelbarer auf unsern Willen, als der Begriff, der abstrakte Gedanke, der bloß das Allgemeine gibt, ohne das einzelne, welches doch gerade die Realität erhält: er kann daher nur mittelbar auf unsern Willen wirken. Und doch ist es nur der Begriff, der Wort hält: daher ist es Bildung, nur ihm zu trauen. Freilich wird er wohl mitunger der Erläuterung und Paraphrase durch einige bilder bedürfen: nur cum grano salis.

  16. Die vorhergegangene Regel läßt sich der allgemeineren subsumieren, daß man überall Herr werden soll über den Eindruck des Gegenwärtigen und Anschaulichen überhaupt. Dieser ist gegen das bloß Gedachte und Gewußte unverhältnismäßig stark, nicht vermöge seiner Materie und Gehalt, die oft sehr gering sind; sondern vermöge seiner Form, der Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit, als welche auf das Gemüt eindringt und desen Ruhe stört, oder seine Vorsätze erschüttert. Denn das Vorhandene, das Anschauliche wirkt, als leicht übersehbar, stets mit seiner ganzen Gewalt auf einmal: hingegen Gedanken und Gründe verlangen Zeit und Ruhe, um stückweise durchdacht zu werden; daher man sie nicht jeden Augenblick ganz gegenwärtig haben kann. Demzufolge reizt das Angenehmen, welchem wir, infolge der Ueberlegung, entsagt haben, uns doch bei seinem Anblick: ebenso kränkt uns ein Urteil, dessen gänzliche Inkompetenz wir kennen; erzürnt uns eine Beleidigung, deren Verächtlichkeit wir einsehn; ebenso werden zehn Gründe gegen das Vorhandensein einer Gefahr überwogen vom falschen Schein ihrer wirklichen Gegenwart, usf. In allem diesen macht sich die ursprüngliche Unvernünftigkeit unsers Wesens geltend. Auch werden einem derartigen Eindruck die Weiber oft erliegen, und wenige Männer haben ein solches Uebergewicht der Vernunft, daß sie von dessen Wirkungen nicht zu leiden hätten. Wo wir nun denselben nicht ganz überwältigen können, mittelst bloßer Gedanken, da ist das beste, einen Eindruck durch den entgegengesetzten zu neutralisieren, z. B. den Eindruck der Beleidigung durch Aufsuchen derer, die uns hochschätzen; den Eindruck einer drohenden Gefahr durch wirkliches Betrachten des ihr Entgegenwirkenden. Konnte doch der Italiener, von dem Leibniz (in den Noveaux essais, Liv. I. c. 2, § 11) erzählt, sogar den Schmerzen der Folter dadurch widerstehn, daß er, während derselben, wie er sich vorgesetzt, das Bild des Galgens, an welchen sein Geständnis ihn gebracht haben würde, nicht einen Augenblick aus der Phantasie entweichen ließ; weshalb er von Zeit zu Zeit io ti vedo rief: welche Worte er später dahin erklärt hat. - Eben aus dem hier betrachteten Grunde ist es ein schweres Ding, wenn alle, die uns umgeben, anderer Meinung sind, als wir, und danach sich benehmen, selbst wenn wir von ihrem Irrtum überzeugt sind, nicht durch sie wankend gemacht zu werden. Einem flüchtigen, verfolgten, ernstlich inkognito reisenden Könige muß das unter vier Augen beobachtete Unterwürfigkeitszeremoniell seines vertrauten Begleiters eine fast notwendige Herzenstärkung sein, damit er nicht am Ende sich selbst bezweifle.


  17. Nachdem ich schon im zweiten Kapitel den hohen Wert der Gesundheit, als welche für unser Glück das Erste und Wichtigste ist, hervorgehoben habe, will ich hier ein paar ganz allgemeiner Verhaltungsmaßregeln zu ihrer Befestigung und Bewahrung angeben.

    Man härte sich dadurch ab, daß man dem Körper, sowohl im ganzen, wie in jedem Teile, solange man gesund ist, recht viel Anstrengung und Beschwerde auflege und sich gewöhne, widrigen Einflüssen jeder Art zu widerstehn. Sobald hingegen ein krankhafter Zustand, sei es des Ganzen, oder eines Teiles sich kundgibt, ist sogleich das entgegengesetzte Verfahren zu ergreifen und der kranke Leib, oder Teil desselben, auf alle Weise zu schonen und zu pflegen: denn das Leidende und Geschwächte ist keiner Abhärtung fähig.

    Der Muskel wird durch starken Gebrauch gestärkt; der Nerv hingegen dadurch geschwächt. Also übe man seine Muskeln durch jene angemessene Anstrengung, hüte hingegen die Nerven vor jeder; also die Augen vor zu hellem, besonders reflektiertem Lichte, vor jeder Anstrengung in der Dämmerung, wie auch vor anhaltendem Betrachten zu kleiner Gegenstände; ebenso die Ohren vor zu starkem Geräusch; vorzüglich aber das Gehirn vor gezwungener, zu anhaltender, oder unzeitiger Anstrengung: demnach lasse man es ruhen, während der Verdauung; weil dann eben dieselbe Lebenskraft, welche im Gehirn Gedanken bildet, im Magen und den Eingeweiden angestrengt arbeitet, Chymus und Chylus zu bereiten; ebenfalls während, oder auch nach, bedeutender Muskelanstrengung. Denn, es verhält sich mit den motorischen, wie mit den sensiblen Nerven, und wie der Schmerz, den wir in verletzten Gliedern empfinden, seinen wahren Sitz im Gehirn hat; so sind es auch eigentlich nicht die Beine und Arme, welche gehn und arbeiten, sondern das Gehirn, nämlich der Teil desselben, welcher, mittelst des verlängerten und des Rückenmarks, die Nerven jener Glieder erregt und dadurch diese in Bewegung setzt. Demgemäß hat auch die Ermüdung, welche wir in den Beinen oder Armen fühlen, ihren wahren Sitz im Gehirn; wehalb eben bloß die Muskeln ermüden, deren Bewegung willkürlich ist, d. h. vom Gehirn ausgeht, hingegen nicht die ohne Willkür arbeitenden, wie das Herz. Offenbar also wird das Gehirn beeinträchtigt, wenn man ihm starke Muskeltätigkeit und geistige Anspannung zugleich, oder auch nur dicht hintereinander abzwingt. Hiemit streitet es nicht, daß man im Anfang eines Spaziergangs, oder überhaupt auf kurzen Gängen, oft erhöhte Geistestätigkeit spürt: denn da ist noch kein Ermüden besagter Gehirnteile eingetreten und andrerseits befördert eine solche leichte Muskeltätigkeit und die durch sie vermehrte Respiration das Aufsteigen des arteriellen, nunmehr auch besser oxydierten Blutes zum Gehirn. - Besonders aber gebe man dem Gehirn das zu seiner Resektion nötige, volle Maß des Schlafes; denn der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das Aufziehn für die Uhr. (Vergl. Ergänzungen zur "Welt als Wille und Vorstellung", 217.) Dieses Maß wird um so größer sein, je entwickelter und tätiger das Gehirn ist; es jedoch zu überschreiten, wäre bloßer Zeitverlust, weil dann der Schlaf an Intension verliert was er an Extension gewinnt. (Vergl. Ergänzungen zur "Welt als Wille und Vorstellung", 247.) *)

    Anmerkung *) Der Schlaf ist ein Stück Tod, welches wir anticipando borgen und dafür das durch einen Tag erschöpfte Leben wiedererhalten und erneuern. Le sommeil es un emprunt fait à la mort. Oder: er ist der einstweilige Zins des Todes, welcher selbst die Kapitalabzahlung ist. Diese wird um so später eingefordert, je reichlichere Zinsen und je regelmäßiger sie gezahlt werden.

    Ueberhaupt begreife man wohl, daß unser Denken nichts anderes ist, als die organische Funktion des Gehirns, und sonach jeder andern organischen Tätigkeit, in Hinsicht auf Anstrengung und Ruhe, sich analog verhält. Wie übermäßige Anstrengung die Augen verdirbt, ebenso das Gehirn. Mit Recht ist gesagt worden: das Gehirn denkt, wie der Magen verdaut. Der Wahn von einer immateriellen, einfachen, wesentlich und immer denkenden, folglich unermüdlichen Seele, die da im Gehirn bloß logiertem und nichts auf der Welt bedürfte, hat gewiß manchen zu unsinnigem Verfahren und Abstumpfung seiner Geisteskräfte verleitet, wie denn z. B. Friedrich der Große einmal versucht hat, sich das Schlafen ganz abzugewöhnen. Die Philosophieprofessoren würden wohl tun, einen solchen, sogar praktisch verderblichen Wahn nicht durch ihre katechismusgerechtseinwollende Rockenphilosophie zu befördern. - Man soll sich gewöhnen, seine Geisteskräfte durchaus als physiologische Funktionen zu betrachten, um danach sie zu behandeln, zu schonen, anzustrengen usw., und zu bedenken, daß jedes körperliche Leiden, Beschwerde, Unordnung, in welchem Teil es auch sei, den Geist affiziert. Am besten befähigt hiezu Cabanis, Des Raports du pysique et du moral de l'homme.

    Die Vernachlässigung des hier gegebenen Rats ist die Ursache, aus welcher manche große Geister, wie auch große Gelehrte, im Alter schwachsinnig, kindisch und selbst wahnsinnig geworden sind. Das z. B. die gefeierten englischen Dichter dieses Jahrhunderts, wie Walter Schott, Wordsworth, Southey u. a. m. im Alter, ja, schon in den sechziger Jahren, geistig stumpf und unfähig geworden, ja, zu Imbezillität herabgesunken sind, ist ohne Zweifel daraus zu erklären, daß sie sämtlich, vom hohen Honorar verlockt, die Schriftstellerei als Gewerbe getrieben, alos des Geldes wegen geschrieben haben. Dies verführt zu widernatürlicher Anstrengung, und wer seinen Pegasus ins Joch spannt und seine Muse mit der Peitsche antreibt, wird es auf analoge Weise büßen, wie der, welcher der Venus Zwangsdienst geleistet hat. Ich argwöhne, daß auch Kant, in seinen späten Jahren, nachdem er endlich berühmt geworden war, sich überarbeitet und dadurch die zweite Kindheit seiner viel letzten Jahre veranlaßt hat. -

    Jeder Monat des Jahres hat einen eigentümlichen und unmittelbaren, d. h. vom Wetter unabhängigen, Einfluß auf unsere Gesundheit, unsere körperlichen Zustände überhaupt, ja, auch auf die geistigen.