internetloge.de - internetloge.org - Hamburg, Deutschland -
Freimaurerei, Freimaurerlogen, Freimaurer





Lebensweisheit

von
Arthur Schopenhauer



C. Unser Verhalten gegen andere betreffend

  1. Um durch die Welt zu kommen, ist es zweckmäßig, einen großen Vorrat von Vorsicht und Nachsicht mitzunehmen: durch erstere wird man vor Schaden und Verlust, durch letztere vor Streit und Händel geschützt.

    Wer unter Menschen zu leben hat, darf keine Individualität, sofern sie doch einmal von der Natur gesetzt und gegeben ist, unbedingt verwerfen; auch nicht die schlechteste, erbärmlichst, oder lächerlichste. Er hat sie vielmehr zu nehmen, als ein Unabänderliches, welches, infolge eines ewigen und metaphysischen Prinzips, so sein muß, wie es ist, und in den argen Fällen soll er denken: "Es muß auch solche Käuze geben." Hält er es anders; si tut er unrecht und fordert den andern heraus, zum Kriege auf Tod und Leben. Denn seine eigentliche Individualität, d. h. seinen moralischen Charakter, seine Erkenntniskräfte, sein Temperament, seine Physiognomie usw. kann keiner ändern. Verdammen wir nun sein Wesen ganz und gar; so bleibt ihm nichts übrig, als in uns einen Todfeind zu bekämpfen: denn wir wollen ihm das Recht zu existieren nur unter der Bedingung zugestehn, daß er ein anderer werde, als er unabänderlich ist. Darum also müssen wir, um unter Menschen leben zu können, jeden, mit seiner gegebenen Individualität, wie immer sie auch ausgefallen sein mag, bestehn und gelten lassen, und dürfen bloß darauf bedacht sein, sie so, wie ihre Art und Beschaffenheit es zuläßt, zu benutzen; aber weder auf ihre Aenderung hoffen, noch sie, so wie sie ist, schlechthin verdammen. Dies ist der wahre Sinn des Spruches: "Leben und leben lassen." Die Aufgabe ist indessen nicht so leich, wie sie gerecht ist; und glücklich ist zu schätzen, wer gar manche Individualitäten auf immer meiden darf. - Inzwischen übe man, um Menschen ertragen zu lernen, seine Geduld an leblosen Gegenständen, welche, vermöge mechanischer, oder sonst physischer Notwendigkeit, unserm Tun sich hartnäckig widersetzen; wozu täglich Gelegenheit ist. Die dadurch erlangte Gedurd lernt man nachher auf Menschen übertragen, indem man sich gewöhnt, zu denken, daß auch sie, wo immer sie uns hinderlich sind, dies vermöge einer ebenso strengen, aus ihrer Natur hervorgehenden Notwendigkeit sein müssen, wie die, mit welcher die leblosen Dinge wirken; daher es ebenso töricht ist, über ihr Tun sich zu entrüsten, wie über einen Stein, der uns in den Weg rollt. Bei manchem ist es am klügsten zu denken: "Aendern werde ich ihn nicht; also will ich ihn benutzen."


  2. Es ist zum Erstaunen, wie leicht und schnell Homogeneität oder Heterogeneität des Geistes und Gemüts zwischen Menschen sich im Gespräch kundgibt: an jeder Kleinigkeit wird sie fühlbar. Betreffe das Gespräch auch die fremdartigsten, gleichgültigsten Dinge; so wird, zwischen wesentlich Heterogenen, fast jeder Satz des einen dem andern mehr oder minder mißfallen, mancher gar ihm ärgerlich sein. Homogene hingegen fühlen sogleich und in allem eine gewisse Uebereinstimmung, die, bei großer Homogeneität, bald zur vollkommenen Harmonie, ja, zum Unisono zusammenfließt. Hieraus erklärt sich zuvörderst, warum die ganz Gewöhnlichen so gesellig sind und überall so leicht recht gute Gesellschaft finden, - so rechte, liebe, wackere Leute. Bei den Ungewöhnlichen fällt es umgekehrt aus, und desto mehr, je ausgezeichneter sie sind; so daß sie, in ihrer Abgesondertheit, zuzeiten, sich ordentlich freuen können, in einem andern nur irgendeine ihnen selbst homogene Fiber herausgefunden zu haben, und wäre sie noch so klein! Denn jeder kann dem andern nur so viel sein, wie dieser ihm ist. Die eigentlichen großen Geister horsten, wie der Adler, in der Höhe, allen. - Zweitens aber wird hieraus verständlich; wie die Gleichgesinnten sich so schnell zusammenfinden, gleich als ob sie magnetisch zu einander gezogen würden: - verwandte Seelen grüßen sich von ferne. Am häufigsten freilich wird man dies an niedrig Gesinnten, oder schlecht Begabten, zu beobachten Gelegenheit haben; aber nur weil diese legionenweise existieren, die besseren und vorzüglichen Naturen hingegen die seltenen sind und heißen. Demnach nun werden z. B. in einer großen, auf praktische Zwecke gerichteten Gemeinschaft zwei rechte Schurken sich so schnell erkennen, als trügen sie ein Feldzeichen, und werden alsbald zusammentreten, um Mißbrauch, oder Verrat zu schmieden. Desgleichen, wenn man sich, per impossibile, eine große Gesellschaft von lauter sehr verständigen und geistreichen Leuten denkt, bis auf zwei Dummköpfe, die auch dabei wären; so werden diese sich sympathetisch zueinander gezogen fühlen, und bald wird jeder von beiden sich in seinem Herzen freuen, doch wenigstens einen vernünftigen mann angetroffen zu haben. Wirklich merkwürdig ist es, Zeuge davon zu sein, wie zwei, besonders von den moralisch und intellektuell Zurückstehenden, beim ersten Anblick einander erkennen, sich eifrig einander zu nähern streben, freundlich und freudig sich begrüßend, einander entgegeneilen, als wären sie alte Bekannte; - so auffallend ist es, daß man versucht wird, der buddhaistischen Metempsychosenlehre gemäß, anzunehmen, sie wären schon in einem frühern Leben befreundet gewesen.

    Was jedoch, selbst bei vieler Uebereinstimmung, Menschen auseinanderhält, auch wohl vorübergehende Disharmonie zwischen ihnen erzeugt, ist die Verschiedenheit der gegenwärtigen Stimmung, als welche fast immer für jeden eine andere ist, nach Maßgabe seiner gegenwärtigen Lage, Beschäftigung, Umgebung, körperlichen Zustandes, augenblicklichen Gedankenganges usw. Daraus entstehn zwischen den harmonierendesten Persönlichkeiten Dissonanzen. Die zur Aufhebung dieser Störung erforderliche Korrektion stets vornehmen und eine gleichschwebende Temperatur einführen zu können, wäre eine Leistung der höchsten Bildung. Wieviel die Gleichheit der Stimmung für die gesellige Gemeinschaft leiste, läßt sich daran ermessen, daß sogar eine zahlreiche Gesellschaft zu lebhafter gegenseitiger Mitteilung und aufrichtiger Teilnahme, unter allgemeinem Behagen, erregt wird, sobald irgend etwas Objektives, sei es eine Gefahr, oder eine Hoffnung, oder eine Nachricht, oder ein seltener Anblick, ein Schauspiel, eine Musik, oder was sonst, auf alle zugleich und gleichartig einwirkt. Denn dergleichen, indem es alle Privatinteressen überwältigt, erzeugt universelle Einheit der Stimmung. In Ermangelung einer solchen objektiven Einwirkung wird in der Regel eine subjektive ergriffen, und sind demnach die Flaschen das gewöhnliche Mittel, eine gemeinschaftliche Stimmung in die Gesellschaft zu bringen. Sogar Tee und Kaffee dienen dieser Absicht.

    Eben aber aus jener Disharmonie, welche die Verschiedenheit der momentangen Stimmung so leicht in alle Gemeinschaft bringt, ist es zum Teil erklärlich, daß in der von dieser und allen ähnlichen, störenden, wenn auch vorübergehenden, Einflüssen befreiten Erinnerung sich jeder idealisiert, ja, bisweilen fast verklärt darstellt. Die Erinnerung wirkt wie das Sammlungsglas in der Kamera obskura: sie zieht alles zusammen und bringt dadurch ein viel schöneres Bild hervor, als sein Original ist. Den Vorteil, so gesehn zu werden, erlangen wir zum Teil schon durch jede Abwesenheit. Denn obgleich die idealisierende Erinnerung, bis zur Vollendung ihres Werkes, geraumer Zeit bedarf: so wird der Anfang desselben doch sogleich gemacht. Dieserwegen ist es sogar klug, sich seinen Bekannten und guten Freunden nur nach bedeutenden zwischen räumen zu zeigen; indem man aldann, beim Wiedersehn, merken wird, daß die Erinnerung schon bei der Arbeit gewesen ist.


  3. Keiner kann über sich sehn. Hiemit will ich sagen: jeder sieht am andern nur so viel, als er selbst auch ist: denn er kann ihn nur nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz fassen und verstehn. Ist nun diese von der niedrigsten Art; so werden alle Geistesgaben, auch die größten, ihre Wirkung auf ihn verfehlen und er an dem Besitzer derselben nichts wahrnehmen, als bloß das Niedrigste in dessen Individualität, also nur dessen sämtliche Schwächen, Temperaments- und Cahrakterfehler. Daraus wird er für ihn zusammengesetzt sein. Die höheren geistigen Fähigkeiten desselben sind für ihn so wenig vorhanden, wie die Farbe für den Blinden. Denn alle Geister sind dem unsichtbar, der keienen hat: und jede Wertschätzung ist ein Produkt aus dem Werte des Geschätzten mit der Erkenntnissphäre des Schätzers. Hieraus folgt, daß man sich mit jedem, mit dem man spricht, nivelliert, indem alles, was man vor ihm voraushaben kann, verschwindet und sogar die dazu erforderte Selbstverleugnung völlig unerkannt bleibt. Erwägt man nun, wie durchaus niedrig gesinnt und niedrig begabt, also wie durchaus gemein die meisten Menschen sind; so wird man einsehen, daß es nicht möglich ist, mit ihnen zu reden, ohne, auf solche Zeit, (nach Analogie der elektrischen Verteilung) selbst gemein zu werden, und dann wird man den eigentlichen Sinn und das Treffende des Ausdrucks "sich gemein machen" gründlich verstehn, jedoch auch gern jede Gesellschaft meiden, mit welcher man nur mittelst der partie honteuse seiner Natur kommunizieren kann. Auch wird man einsehn, daß, Dummköpfen und Narren gegenüber, es nur einen Weg gibt, seinen Verstand an den Tag zu legen, und der ist, daß man mit ihnen nicht redet. Aber freilich wird alsdann in der Gesellschaft manchem bisweilen zumute sein, wie einem Tänzer, der auf einen Ball gekommen wäre, wo er lauter Lahme anträfe: mit wem soll er tanzen?


  4. Der Mensch gewinnt meine Hochachtung, als ein unter hundert Auserlesener, welcher, wann er auf irgend etwas zu warten hat, also unbeschäftigt dasitzt, nicht sofort mit dem, was ihm gerade in die Hände kommt, etwas seinem Stock, oder Messer und Gabel, oder was sonst, taktmäßig hämmert, oder klappert. Wahrscheinlich denkt er an etwas. vielen Leuten hingegen sieht man es an, daß bei ihnen das Sehn die Stelle des Denkens ganz eingenommen hat: sie suchen sich durch Klappern ihrer Existenz bewußt zu werden; wenn nämlich kein Zigarro bei der Hand ist, der ebendiesem Zwecke dient. Aus diemselben Grud sind sie auch beständig ganz Auge und Ohr für alles, was um sie vorgeht.


  5. Rochefoucauld hat treffend bemerkt, daß es schwer ist, jemanden zugleich hoch zu verehren und sehr zu lieben. Demnach hätten wir die Wahl, ob wir uns um die Liebe, oder um die Verehrung der Menschen bewerben wollen. Ihre Liebe ist stets eigennützig, wenn auch auf höchst verschiedene Weise. Zudem ist das, wodurch man sie erwirbt, nicht immer geeignet, uns darauf stolz zu machen. Hauptsächlich wird einer in dem Maße beliebt sein, als er seine Ansprüche an Geist und Herz der andern niedrig stellt, und zwar im Ernst und ohne Verstellung, auch nicht bloß aus derjenigen nachsicht, die in der Verachtung wurzelt. Ruft man sich nun hiebei den sehr wahren Ausspruch des Helvetius zurück: Le degré d'esprit nécessaire pour nous plaire, es une mesure assez exacte du degré d'esprit que nous avons; - Hingegen mit der Verehrung der Menschen steht es umgekehrt: sie wird ihnen nur wider ihren Willen abgezwungen, auch, ebendeshalb, meistens verhehlt. Daher gibt sie uns, im Innern, eine viel größere Befriedigung: sie hängt mit unserm Werte zusammen; welche von der Liebe der Menschen nicht unmittelbar gilt: denn diese ist subjektiv, die Verehrung objektiv. Nützlich ist uns die Liebe freilich mehr.


  6. Die meisten Menschen sind so subjektiv, daß im Grunde nichts Interesse für sie hat, als ganz allein sie selbst. Daher kommt es, daß sie bei allem, was gesagt wird, sogleich an sich denken und jede zufällige, noch so entfernte Beziehung auf irgend etwas ihnen Persönliches ihre ganze Aufmerksamkeit an sich reißt und in Besitz nimmt; so daß sie für den objektiven Gegenstand der Rede keine Fassungkraft übrig behalten; wie auch, daß keine Gründe etwas bei ihnen gelten, sobald ihr Interesse oder ihre Eitelkeit denselben entgegensteht. Daher sind sie so leicht zertreut, so leicht verletzt, beleidigt oder gekränkt, daß man, von was es auch sei, objektiv mit ihnen redend, nicht genug sich in acht nehmen kann vor irgend welchen möglichen, vielleicht nachteiligen Beziehungen des Gesagten zu dem werten und zarten Selbst, das man da vor sich hat: denn ganz allein an diesem ist ihnen gelegen, sonst an nichts, und während sie für das Wahre und Treffende, oder Schöne, Feine, Witzige der frenden Rede ohne Sinn und Gefühl sind, haben sie die zarteste Empfindlichkeit gegen jedes, was auch nur auf die entfernteste und indirekteste Weise ihre kelinliche Eitelkeit verletzen, oder irgendwie nachteilig auf ihr höchst prezioses Selbst reflektieren könnte, so daß sie in ihrer Verletzbarkeit den kleinen Hunden gleich, denen man, ohne sich dessen zu versehen, so leicht auf die Pfoten tritt und nun das Gequieke anzuhören hat; oder auch einem mit Wunden und Beulen bedeckten Kranken verglichen werden können, bei dem man auf das behutsamste jede mögliche Berührung zu vermeiden hat. Bei manchen geht nun aber die Sache so weit. daß sie Geist und Verstand, im Gespräch mit ihnen, an den Tag gelegt, oder doch nicht genugsam versteckt, geradezu als eine Beleidigung empfinden, wenngleich sie solche vorderhand noch verhehlen; wonach dann aber nachher der Unerfahrene vergeblich darüber nachsinnt und grübelt, wodurch in aller Welt er sich ihren Groll und Haß zugezogen haben könne. - Ebenso leicht sind sie aber auch geschmeichelt und gewonnen. Daher ist ihr Urteil meistens bestochen und bloß ein Ausspruch zugunsten ihrer Partei, oder Klasse; nicht aber ein objektives und gerechtes. Dies alles beruht darauf, daß in ihnen der Weille bei weitem die Erkenntnis überwiegt und ihr geringer Intellekt ganz im Dienste des Willens steht, von welchem er auch nicht auf einen Augenblick sich losmachen kann.

    Einen großartigen Beweis von der erbärmlichen Subjektivität der Menschen, infolge welcher sie alles auf sich bezieht und von jedem Gedanken sogleich in gerader Linie auf sich zurückgehn, liefert die Astrologie, welche den Gang der großen Weltkörper auf das amselige Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit den irdischen Händeln und Lumpereien. Dies aber ist zu allen und schon in den ältesten Zeiten geschehen. (S. z. B. Stob. Eclog. L. I, c. 22, 9, pag. 478.)


  7. Bei jeder Verkehrtheit, die im Publiko, oder in der Gesellschaft, gesagt, oder in der Literatur geschrieben und wohlaufgenommen, wenigstens nicht widerlegt wird, soll man nicht verzweifeln und meinen, daß es nun dabei sein Bewenden haben werde; sondern wissen und sich getrösten, daß die Sache hinterher und allmählich ruminiert, beleuchtet, bedacht, erwogen, besprochen und meistens zuletzt richtig beurteilt wird; so daß, nach einer, der Schwierigkeit derselben angemessenen Frist, endlich fast alle begreifen, was der klare Kopf sogleich sah. Unterdessen freilich muß man sich gedulden. Denn ein Mann von richtiger Einsicht unter den Betörten gleicht dem, dessen Uhr richtig geht, in einer Stadt, deren Turmuhren alle falsch gestellt sind. Er allein weiß die wahre Zeit: aber was hilft es ihm? alle Welt richtet sich nach den falsch zeigenden Stadtuhren; sogar auch die, welche wissen, daß seine Uhr allein die wahre Zeit angibt.


  8. Die Menschen gleichen darin den Kindern, daß sie unartig werden, wenn man sie verzieht; daher man gegen keinen zu nachgiebig und liebreich sein darf. Wie man, in der Regel keinen Freund dadurch verlieren wird, daß man ihm ein Darlehn abschlägt, aber sehr leicht dadurch, daß man es ihm gibt; ebenso, nicht leicht einen durch stolzes und etwas vernachlässigendes Betragen; aber oft infolge zu vieler Freundlichkeit und Zuvorkommens, als welche ihn arrogant und unerträglich machen, wodurch der Bruch herbeigeführt wird. Besonders aber den Gedanken, daß man ihrer benötigt sei, können die Menschen schlechterdings nicht vertragen; Uebermut und Anmaßung sind sein unzertrennliches Gefolge. Bei einigen entsteht er, in gewissem Grade, schon dadurch, daß man sich mit ihnen abgibt, etwa oft, oder auf eine vertrauliche Weise mit ihnen spricht: alsbald werden sie meinen, man müsse sich von ihnen auch etwas gefallen lassen, und werden versuchen, die Schranken der Höflichkeit zu erweitern. Daher taugen so wenige zum irgend vertrauteren Umgang, und soll man sich besonders hüten, sich nicht mit niedrigen Naturen gemein zu machen. Faßt nun aber gar einer den Gedanken, er sei mir viel nötiger, als ich ihm; da ist es ihm sogleich, als hätte ich ihm etwas gestohlen: er wird suchen, sich zu rächen und es wiederzuerlangen. Ueberlegenheit im Umgang erwächst allein daraus, daß man der andern in keiner Art und Weise bedarf, und dies sehn läßt. Dieserwegen ist es ratsam, jedem, es sei Mann oder Weib, von Zeit zu Zeit fühlbar zu machen, daß man seiner sehr wohl entraten könne: das befestigt die Freundschaft; ja, bei den meisten Leuten kann es nicht schaden, wenn man ein Gran Geringschätzung gegen sie, dann und wann, mit einfließen läßt: sie legen desto mehr Wert auf unsere Freundschaft: Chi non istima vien stimato (wer nicht achtet, wird geachtet), sagt ein feines italienisches Sprichwort. Ist aber einer uns wirklich sehr viel wert; so müssen wir dies vor ihm verhehlen, als wäre es ein Verbrechen. Das ist nun eben nicht erfreulich; dafür aber wahr. Kaum daß Hinde die große Freundlichkeit vertragen; geschweige Menschen.


  9. Daß Leute edlerer Art und höherer Begabung so oft, zumal in der Jugend, auffallenden Mangel an Menschenkenntnis und Weltklugheit verraten, daher leicht betrogen oder sonst irregeführt werden, während die niedrigen naturen sich viel schneller und besser in die Welt zu finden wissen, liegt daran, daß man, beim Mangel der Erfahrung, a priori zu urteilen hat, und daß überhaupt keine Erfahrung es dem a priori gleichtut. Dies a priori nämlich gibt denen vom gewöhnlichen Schlage das eigene Selbst an die Hand, den Edelen und vorzüglichen aber nicht: denn eben als solche sind sie von den andern weit verschieden. Indem sie daher deren Denken und Tun nach dem ihreigen berechnen, trifft die Rechnung nicht zu.

    Wenn nun aber auch ein solcher a posteriori, also aus frender Belehrung und eigener Erfahrung, endlich gelernt hat, was von den Menschen, im ganzen genommen, zu erwarten steht, daß nämlich etwas fünf Sechstel derselben, in moralischer, oder intellektueller Hinsicht, so beschaffen sind, daß, wer nicht durch die Umstände in Verbindung mit ihnen gesetzt ist, besser tut, sie vorweg zu meiden und, soweit es angeht, außer allem Kontakt mit ihnen zu bleiben; - so wird er dennoch von ihrer Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit kaum jemals einen ausreichenden Begriff erlangen, sondern immerfort, solange er lebt, denselben noch zu erweitern und zu vervollständigen haben, unterdessen aber sich gar oft zu seinem Schden verrechtnen. Und dann wieder, nachdem er die erhaltene Belehrung wirklich beherzigt hat, wird es ihm dennoch zuzeiten begegnen, daß er, in eine Gesellschaft ihm noch unbekannter Menschen geratend, sich zu wundern hat, wie sie doch sämtlich, ihren Reden und Mienen nach, ganz vernünftig, redlich, aufrichtig, ehrenfest und tugendsam, dabei auch wohl noch gescheit und geistreich erscheinen. Dies sollte ihn jedoch nicht irren: denn es kommt bloß daher, daß die Natur es nicht macht, wie die schlechten Poeten, welche, wann sie Schurken oder Narren darstellen, so plump und absichtsvoll dabei zu Werke gehn, daß man gleichsam hinter jeder Person den Dichter stehn sieht, der ihre Gesinnung und Rede fortwährend deavouiert und mit warnender Stimme ruft: "Dies ist ein Schurke, dies ist ein Narr; gebt nichts auf das, was er sagt." Die Natur hingegen macht es wie Shakespeare und Goethe, in deren Werken jede Person, und wäre sie der Teufel selbst, während sie dasteht und edet, recht behält; weil sie so objektiv aufgefaßt ist, daß wir in ihr Interesse gezogen und zur Teilnahme an ihr gezwungen werden: denn sie ist, eben wie die Werke der Natur, aus einem innern Prinzip entwickelt, vermöge dessen ihr Sagen und Tun als natürlich, mithin als notwendig auftritt. - Also, wer erwartet, daß in der Welt die Teufel mit Hörnern und die Narren mit Schellen einhergehn, wird stets ihre Beute, oder ihr Spiel sein. Hiezu kommt aber noch, daß im Umgange die Leute ess machen, wie der Mond und die Bucklichten, nämlich stets nur eine Seite zeigen, und sogar jeder ein angeborenes Talent hat, auf mimischem Wege seine Physiognomie zu einer Maske umzuarbeiten, welche genau darstellt, was er eigentlich sein sollte, und die, weil sie ausschließlich auf seine Individualität berechnet ist, ihm so gnau anliegt und anpaßt, daß die Wirkung überaus täuschend ausfällt. Er legt sie an, so oft es darauf ankommt, sich einzuschmeicheln. Man soll auf dieselbe so viel geben, als wäre sie aus Wachstuch, eingedenk des vortrefflichen italienischen Sprichwortes: Non è si tristo cane, che non meni la coda (so böse ist kein Hund, daß er nicht mit dem Schwanze wedelte).

    Jedenfalls soll man sich sorgfältig hüten, von irgend einem Menschen neuer Bekanntschaft eine sehr günstige Meinung zu fassen; sonst wird man, in den allermeisten Fällen, zu eigener Beschämung, oder gar Schaden, enttäuscht werden. - Hiebei verdient auch dies berücksichtigt zu werden: Gerade in Kleinigkeiten, als bei welchen der Mensch sich nicht zusammennimmt, zeigt er seinen Charakter, und da kann man oft, an gerinfügigen Handlungen, an bloßen Manieren, den grenzenlosen, nicht die mideste Rücksicht auf andere kennenden Egoismus bequem beobachten, der sich nachher im großen nicht verleugnet, wiewohl verlarvt. Und man versäume solche Gelegenheit nicht. Wenn einer in den kleinen täglichen Vorgängen und Verhältnissen des Lebens, in den Dingen, von welchen das de minimis lex non curat gilt, rücksichtslos verfährt, bloß seinen Vorteil oder seine Bequemlichkeit, zum Nachteil anderer, sucht; wenn er sich aneignet, was für alle da ist usw.; da sei man überzeugt, daß in seinem Herzen keine Gerechtigkeit wohnt, sondern er auch im großen ein Schuft sein wird, sobald das Gesetzt und die Gewalt ihm nicht die Hände binden, und traue ihm nicht über die Schwelle. Ja, wer ohne Scheu die Gesetze seines Klubs bricht, wird auch des Staates brechen, sobald er es ohne Gefahr kann *).

    Anmerkung *) Wenn in den Menschen, wie sie meistenteils sind, das Gute das Schlechte überwöge; so wäre es geratener, sich auf ihre Gerechtigkeit, Billigkeit, Dankbarkeit, Treue, Liebe oder Mitleid zu verlassen, als auf ihre Furcht: weil es aber mit ihnen umgekehrt steht; so ist das Umgekehrte geratener.

    Hat nun einer, mit dem wir in Verbindung, oder Umgang stehn, uns etwas Unangenehmes, oder Aergerliches erzeigt; so haben wir uns nur zu fragen, ob er uns so viel wert sei, daß wir das nämliche, auch noch etwas verstärkt, uns nochmals und öfter von ihm wollen gefallen lassen; - oder nicht. (Vergeben und vergessen heißt, gemachte kostbare Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen.) Im bejahenden Fall wird nicht viel darüber zu sagen sein, weil das Reden wenig hilft: wir müssen also die Sache, mit oder ohne Ermahnung, hingehn lassen, sollen jedoch wissen, daß wir hiedurch sie uns nochmals ausgebeten haben. Im verneinenden Falle hingegen haben wir sogleich und auf immer mit dem werten Freunde zu brechen, oder, wenn es ein Diener ist, in abzuschaffen. Denn unausbleiblich wird er, vorkommendenfalls, ganz dasselbe, oder das völlig analoge, wieder tun, auch wenn er uns jetzt das Gegenteil hoch und aufrichtig beteuert. Alles, alles kann einer vergessen, nur nicht sich selbst, sein eigenes Wesen. Denn der Charakter ist schlechthin inkorrigibel; weil alle Handlungen des Menschen aus einem innern Prinzip fließen, vermöge dessen er, unter gleichen Umständen, stets das gleiche tun muß und nicht anders kann. Man lese meine Preisschrift über die sogenannte Freiheit des Willens und befreie sich vom Wahn. Daher auch ist, sich mit einem Freunde, mit dem man gebrochen hatte, wieder auszusöhnen, ein Schwäche, die man abbüßt, wann derselbe, bei erster Gelegenheit, gerade und genau dasselbe wieder tut, was den Bruch herbeigeführt hatte; ja, mit noch mehr Dreistigkeit, im stillen Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit. Das gleiche gilt von abgeschafften Dienern, die man wiedernimmt. Ebensowenig, und aus demselben Grunde, dürfen wir erwarten, daß einer, unter veränderten Umständen, das gleiche, wie vorher, tun werde. Vielmehr ändern die Menschen Gesinnung und Betragen ebenso schnell, wie ihr Interesse sich ändert; ja, ihre Absichtlichkeit zieht ihre Wechsel auf so kurze Sicht, daß man selbst noch kurzsichtiger sein müßte, um sie nicht protestieren zu lassen.

    Gesetzt demnach, wir wollten etwa wissen, wie einer, in einer Lage, in die wir ihn zu versetzen gedenken, handeln wird; so dürfen wir hierüber nicht auf seine Versprechungen und Beteuerungen bauen. Denn, gesetzt auch, er spräche aufrichtig; so spricht er von seiner Sache, die er nicht kennt. Wir müssen also allein aus der Erwägung der Umstände, in die er zu treten hat, und des Konfliktes derselben mit seinem Charakter, sein Handeln berechnen.

    Um überhaupt von der wahren und sehr traurigen Beschaffenheit der menschen, wie sie meistens sind, das so nötige, deutliche und gründliche Verständnis zu erlangen, ist es überaus lehrreich, das Treiben und Benehmen derselben in der Literatur als Kommentar ihres Treibens und Benehmens im praktischen Leben zu gebrauchen, und vice versa. Dies ist sehr dienlich, um weder an sich, noch an ihnen irre zu werden. Dabei aber darf kein Zug von besonderer Niederträchtigkeit oder Dummheit, der uns im Leben oder in der Literatur aufstößt, uns je ein Stoff zum Verdruß und Aerger, sondern bloß zur Erkenntnis werden, indem wir in ihm einen neuen Beitrag zur Charakteristik des Menschengeschlechts sehn und demnach ihn uns merken. Alsdann werden wir ihn ungefähr so betrachten, wie der Mineralog ein ihm aufgestoßenes, sehr charakteristisches Spezimen eines Minerals. Ausnahmen gibt es, ja, unbegreiflich große, und die Unterschiede der Individualitäten sind enorm: aber, im ganze genommen, liegt, wie längst gesagt ist, die Welt im argen: die Wilden fressen einander und die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt. Was ind denn die Staaten, mit aller ihrer künstlichen, nach außen und nach innen gerichteten Maschinerie und ihren Gewaltmitteln anderes, als die Vorkehrungen, der grenzenlosen Ungerechtigkeit der Menschen Schranken zu setzen? Sehn wir nicht, in der ganzen Geschichte, jeden König, sobald er fest steht, und sein Land einiger Prosperität genießt, diese benutzen, um mit seinem Heer, wie mit einer Räuberschar, über die Nachbarstaaten herzufallen? sind nicht fast alle Kriege im Grunde Raubzüge? Im frühen Altertum, wie auch zum Teil im Mittelalter, wurden die Besiegten Sklaven der Sieger, d. h. im Grunde, sie mußten für diese arbeiten: dasselbe müssen aber die, welche Kriegskontributionen zahlen: sie geben nämlich den Ertrag früherer Arbeit hin. Dans toutes les guerres il ne s'agit que de voler, sgt Voltaire, und die Deutschen sollen es sich gesagt sein lassen.


  10. Kein Charakter ist so, daß er sich selbst überlassen bleiben und sich ganz und gar gehn lassen dürfte; sondern jeder bedarf der Lenkung durch Begriffe und Maximen. Will man nun aber es hierin weit bringen, nämlich bis zu einem nicht aus unsrer angeborenen Natur, sondern bloß aus vernünftiger Ueberlegung hervorgegangenen, ganz eigentlich erworbenen und künstlichen Charakter; so wird man gar bald das

    Naturam expelles furca, tamen usque recurret

    bestätigt finden. Man kann nämlich eine Regel für das Betragen gegen andere sehr wohl einsehn, ja, sie selbst auffinden und treffend ausdrücken, und wird dennoch, im wirklichen Leben, gleich darauf, gegen sie verstoßen. Jecoch soll man nicht sich dadurch entmutigen lassen und denken, es sei unmöglich, im Weltleben sein Benehmen nach abstrakten Regeln und Maximen zu leiten, und daher am besten, sich eben nur gehn zu lassen. Sondern es ist damit, wie mit allen theoretischen Vorschriften und Anweisungen für das Praktische: die Regel verstehn ist das erste, sie ausüben lernen ist das zweite. Jenes wird durch Vernunft auf einmal, dieses durch Uebung allmählich gewonnen. Man zeigt dem Schüler Griffe auf dem Instrument, die Paraden und Stöße auf dem Rapier: er fehlt sogleich, trotz dem besten Vorsatze, dagegen, und meint nun, sie in der Schnelle des Notenlesens und der Hitze des Kampfes zu beobachten, sei schier unmöglich. Dennoch lernt er es allmählich, durch Uebung, unter Straucheln, Fallen und Aufstehn. Ebenso geht es mit den Regeln der Grammatik im lateinischen Schreiben und Sprechen. Nicht anders also wird der Tölpel zum Hofmann, der Hitzkopf zum feinen Weltmann, der Offene verschlossen, der Edle ironisch. Jedoch wird eine solche, durch lange Gewohnheit erlangte Selbstdressur stets als ein von außen gekommener Zwang wirken, welchem zu widerstreben die Natur nie ganz aufhört und bisweisen unerwartet ihn durchbricht. Denn alles handeln nach abstrakten Maximen verhält sich zum Handeln aus ursprünglicher, angeborener Neigung, wie ein menschliches Kunstwerk, etwa eine Uhr, wo Form und Bewegung dem ihnen fremden Stoffe aufgezwungen sind, zum lebenden Organismus, bei welchem Form und Stoff voneinander durchdrungen und eins sind. An diesem Verhältnis des erworbenen zum angeborenen Charakter bestätigt sich demnach ein Ausspruch des Kaiser Napoleon: Tout ce qui n'est pas naturel est imparfait; welcher überhaupt eine Regel ist, die von allem und jedem, sei es physisch oder moralisch, gilt, und von der die einzige mir einfallende Ausnahme das, den Mineralogen bekannte, natürliche Aventurino ist, welches dem künstlichen nicht gleichkommt.

    Darum sei hier auch vor aller und jeder Affektation gewarnt. Sie erweckt allemal Geringschätzung: erstlich als Betrug, der als solcher feige ist, weil er auf Furcht beruht; zweitens als Verdammungsurteil seiner selbst durch sich selbst, indem man scheinen will, was man nicht ist, und was man folglich für besser hält, als was man ist. Das Affektieren irgendeiner Eigenschaft, Das Sich-brüsten damit, ist ein Selbstgeständnis, daß man sie nicht hat. Sei es Mut, oder Gelehrsamkeit, oder Geist, oder Witz, oder Glück bei Weibern, oder Reichtum, oder vornehmer Stand, oder was sonst, womit einer großtut; so kann man daraus schließen, daß es ihm gerade daran in etwas gebricht: denn wer wirklich eine Eigenschaft vollkommen besitzt, dem fällt es nicht ein, sie herauszulegen und zu affektieren, sondern er ist darüber ganz beruhigt. Dies ist auch der Sinn des spanischen Sprichworts: Herradura que chacolotea clavo le falta (dem klappernden Hufeisen fehlt ein Nagel). Allerdings darf, wie anfangs gesagt, keiner sich unbedingt den Zügel schießen lassen und sich ganz zeigen, wie er ist; weil das viele Schlechte und Bestialische unserer Natur der Verhüllung bedarf: aber dies rechtfertigt bloß das Negative, die Dissimulation, nicht das Positive, die Simulation. - Auch soll man wissen, daß das Affektieren erkannt wird, selbst ehe klar geworden, was eigentlich einer affektiert. Und endlich hält es auf die Länge nicht Stich, sondern die Maske fällt einmal ab. Nemo potest personam diu ferre fictam. Ficta cito in naturam suam recidunt. (Seneca, De Clementia L. I, c. 1.)


  11. Wie man das Gewicht seines eigenen Körpers trägt, ohne es, wie doch das jedes fremden, den man bewegen will, zu fühlen; so bemerkt man nicht die eigenen Fehler und Laster, sondern nur die der andern. - Dafür aber hat jeder am andern einen Spiegel, in welchem er seine eigenen Lster, Fehler, Unarten und Widerlichkeiten jeder Art deutlich erblickt. Allein meistens verhält er sich dabei wie der Hund, welcher gegen den Spiegel bellt, weil er nicht weiß, daß er sich selbst sieht, sondern meint, es sei ein anderer Hund. Wer andere bekrittelt, arbeitet an seiner Selbstbesserung. Also die, welche die Neigung und Gewohnheit haben, das äußerliche Benehmen, überhaupt das Tun und Lassen der andern im stillen, bei sich selbst, einer aufmerksamen und scharfen Kritik zu unterwerfen, arbeiten dadurch an ihrer eigenen Besserung und Vervollkommnung: denn sie werden entweder Gerechtigkeit, oder doch Stolz und Eitelkeit genug besitzen, selbst zu vermeiden, was sie so oft strenge tadeln. Von den Toleranten gilt das Umgekehrte: nämlich hanc veniam damus petimusque vicissim. Das Evangelium moralisiert recht schön über den Splitter im fremden, den Balken im eigenen Auge: aber die Natur des Auges bringt es mit sich, daß es nach außen und nicht sich selbst sieht: daher ist, zum Innewerden der eigenen Fehler, das Bemerken und Tadeln derseben an andern ein sehr geeignetes Mittel. Zu unserer Besserung bedürfen wir eines Spiegels. Auch hinsichtlich auf Stil und Schreibart gilt diese Regel: wer eine neue Narrheit in diesen bewundert, statt sie zu tadeln, wird sie nachahmen. Daher greift in Deutschland jede so schnell um sich. Die Deutschen sind sehr tolerant: man merkt's. Hanc veniam damus petimusque vicissim ist ihr Wahlspruch.


  12. Der Mensch edlerer Art glaubt, in seiner Jugend, die wesentlichen und entscheidenden Verhältnisse und daraus entstehenden Verbindungen zwischen Menschen seien die idellen, d. h. die auf Aehnlichkeit der Gesinnung, der Denkungsart, des Geschmacks, der Geisteskräfte usw. beruhenden, allein er wird später inne, daß es die reellen sind, d. h. die, welche sich auf irgendein materielles Interesse stützen. Diese liegen fast allen Verbindungen zum Grunde: sogar hat die Mehrzahl der menschen keinen Begriff von andern Verhältnissen. Demzufolge wird jeder genommen nach seinem Amt, oder Geschäft, oder Nation, oder Familie, also überhaupt nach der Stellung und rolle, welche die Konvention ihm erteilt hat: dieser gemäß wird er sortiert und fabrikmäßig behandelt. Hingegen was er an und für sich, also als Mensch, vermöge seiner persönlichen Eigenschaften sei, kommt nur beliebig und daher nur ausnahmsweise zur Sprache, und wird von jedem, sobald es ihm bequem ist, also meistenteils, beiseite gesetzt und ignoriert. Je mehr nun aber es mit diesem auf sich hat, desto weniger wird ihm jene Anordnung gefallen, er also sich ihrem Bereich zu entziehn suchen. Sie beruht jedoch darauf, daß, in dieser Welt der Not und des Bedürfnisses, die Mittel, diesen zu begegnen, überall das Wesenliche, mithin Vorherrschende sind.


  13. Wie Papiergeld statt des Silbers, so kursieren in der Welt, statt der wahren Achtung und der wahren Freundschaft, die äußerlichen Demonstrationen und möglichst natürlich mimisierten Gebärden derselben. Indessen läßt sich andrerseits auch fragen, ob es denn Leute gebe, welche jene wirlich verdienten. Jedenfalls gebe ich mehr auf das Schwanzwedeln eines ehrlichen Hundes, als auf hundert solche Demonstrationen und Gebärden.

    Wahre, echte Freundschaft setzt eine starke, rein objektive und völlig uninteressierte Teilnahme am Wohl und Wehe des andern voraus, und diese wieder ein wirkliches Sich-mit-dem-Freunde-identifizieren. Dem steht der Egoismus der menschlichen Natur so sehr entgegen, daß wahre Freundschaft zu den Dingen gehört, von denen man, wie von den kolossalen Seeschlangen, nicht weiß, ob sie fabelhaft sind, oder irgendwo existieren. Indessen gibt es mancherlei, in der Hauptsache freilich auf versteckten egoistischen Motiven der mannigfaltigsten Art beruhende Verbindungen zwischen Menschen, welche dennoch mit einem Gran jener wahren und echten Freundschaft versetzt sind, wodurch sie so veredelt werden, daß sie, in dieser Welt der der Unvollkommenheiten, mit einigem Fug den Namen der Freunschaft führen dürfen. Sie stehn hoch über den alltäglichen Liaisons, welche vielmehr so sind, daß wir mit den meisten unserer guten Bekannten kein Wort mehr reden würden, wenn wir hörten, wie sie in unsrer Abwesenheit von reden.

    Die Echtheit eines Freundes zu erproben, hat man, nächst den Fällen, wo man ernstlicher Hilfe und bedeutender Opfer bedarf, die beste Gelegenheit in dem Augenblick, da man ihm ein Unglück, davon man soeben getroffen worden, berichtet. Alsdann nämlich malt sich, in seinen Zügen, entweder wahre, innige, unvermischte Betrübnis; oder aber sie bestätigen, durch ihre gefaßte Ruhe, oder einen flüchtigen Nebenzug, den bekannten Ausspruch des Rochefoucauld: Dans l'adversité de nos meilleurs amis, nous trouvons toujours quelque chose qui ne nous déplait pas. Die gewöhnlichen sogenannten Freunde vermögen, bei solchen Gelegenheiten, oft kaum das Zucken zu einem leisen, wohlgefälligen Lächeln zu unterdrücken. - Es gibt wenig Dinge, welche so sicher die Leute in gute Laune versetzen, wie wenn man ihnen ein beträchtliches Unglück, davon man kürzlich getroffen worden, erzählt, oder auch irgendeine persönliche Schwäche ihnen unverhohlen offenbart. - Charakteristisch! -

    Entfernung und lange Abwesenheit tun jeder Freundschaft Eintrag; so ungern man es gesteht. Denn Menschen, die wir nicht sehn, wären sie auch unsere geliebtesten Freunde, trocknen im Laufe der Jahre, allmählich zu abstrakten Begriffen auf, wodurch unsere Teilnahme an ihnen mehr und mehr eine bloß vernünftige, ja traditionelle wird: die lebhafte und tiefgefühlte bleibt denen vorbehalten, die wir vor Augen haben, und wären es auch nur geliebte Tiere. so sinn ist die menschliche Natur. Also bewährt sich auch hier Goethes Ausspruch:

    "Die Gegenwart ist eine mächtt'ge Göttin."
    (Tasso, Aufzug 4, Auftr. 4.)

    Die Hausfreunde heißen meistens mit Recht so, indem sie mehr die Freunde des Hauses, als des Herrn, also den Katzen ähnlicher, als den Hunden sind.

    Die Freunde nennen sich aufrichtig; die Feinde sind es: daher man ihren Tadel zur Selbsterkenntnis benutzen sollte, als eine bittere Arnei. -

    Freunde in der Not wären selten? - Im Gegenteil! Kaum hat man mit einem Freundschaft gemacht; so ist er auch schon in der Not und will Geld geliehen haben. -


  14. Was für ein Neuling ist doch der, welcher wähnt, Geist und Verstand zu zeigen wäre ein Mittel, sich in Gesellschaft beliebt zu machen! Vielmehr erregen sie, bei der unberechenbar überwiegenden Mehrzahl, einen Haß und Groll, der um so bitterer ist, als der ihn Fühlende die Ursache desselben anzuklagen nicht berechtigt ist, ja, sie vor sich selbst verhehlet. Der nähere Hergang ist dieser: merkt und empfindet einer große geistige Ueberlegenheit an dem, mit welchem er redet, so macht er, im stillen ohne deutliches Bewußtsein, den Schluß, dai in gleichem maße der andere seine Inferiorität und Beschränktheit merkt und empfindet. Dieses Enthymem erregt seinen bittersten Haß, Groll und Ingrimm. (Vergl. die Ergänzungen zur "Welt als Wille und Vorst.", 3. Aufl., S. 256, die angeführten Worte des Dr. Johnsons und Mercks, des Jugendfreundes Goethes.) Mit Recht sagt daher Gracian: "Para ser bien quisto, el unico medio vestirse la piel del mas siple de los brutos." (S. Oraculo manual, y arte de prudencia, 240 (Obras, Amberes 1702, P. II, p. 287.)) Ist doch Geist und Verstand an den Tag legen, nur eine indirekte Art, allen andern ihre Unfähigkeit und Stumpfsinn vorzuwerfen. Zudem gerät die gemeine Natur in Aufruhr, wenn sie ihr Gegenteil ansichtig wird, und der geheime Anstifer des Aufruhrs ist der Neid. Denn die Befriedigung ihrer Eitelkeit ist, wie man täglich sehn kann, ein Genuß, der den Leuten über alles geht, der jedoch allein mittelst der Vergleichung ihrer selbst mit andern möglich ist. Auf keine Vorzüge aber ist der Mensch so stolz, wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen sein Vorrang vor den Tieren. Ihm entschiedene Ueberlegenheit in dieser Hinsicht vorzuhalten, und noch dazu vor Zeugen, ist daher die größte Verwegenheit. Er fühlt sich dadurch zur Rache aufgefordert, und wird meistens Gelegenheit suchen, diese auf dem Wege der Beleidigung auszuführen, als wodurch er vom Gebiete der Intelligenz auf das des Willens tritt, auf welchem wir, in dieser Hinsicht, alle gleich sind *).

    Anmerkung *) Den Willen, kann man sagen, hat der Mensch sich selbst gegeben, denn der ist er selbst: aber der Intellekt ist eine Ausstattung, die er vom Himmel erhalten hat, - d. h. vom ewigen, geheimnisvollen Schicksal und dessen Notwendigkeit, deren bloßes Werkzeug seine Mutter war.

    Während daher in der Gesellschaft Stand und Rechtum stets auf Hochachtung rechnen dürfen, haben geistige Vorzüge solche keineswegs zu erwarten: im günstigsten Fall werden sie ignoriert; sonst aber angesehn als eine Art Impertinenz, oder als etwas, wozu ihr Besitzer unerlaubterweise gekommen ist und nun sich unterstheht, damit zu stolzieren; wofür ihm also irgendeine anderweitige Demütigung angedeihen zu lassen jeder im stillben beabsichtigt und nur auf die Gelegenheit dazu paßt. Kaum wird es dem demütigsten Betragen gelingen, Verzeihung für geistige Ueberlegenheit zu erbetteln. Sadi sgt im Gulistan (S. 146 der Uebersetzung von Graf): "Man wisse, daß sich bei dem Unverständigen hundertmal mehr Widerwillen gegen den Unverständigen findet, als der Verständige Abneigung gegen den Unverständigen empfindet." - Hingegen gereicht geistige Inferiorität zur wahren Empfehlung. Denn was für den Leib die Wärme, das ist für den Geist das wohltuende Gefühl der Ueberlegenheit; daher jeder, so instinktmäßig wie dem Ofen, oder dem Sonnenschein, sich dem Gegenstande nähert, der es ihm verheißt. ein solcher nun allein ist der entschieden tiefer Stehende, an Eigenschaften des Geistes, bei Männern, an Schönheit, bei Weibern. Manchen Leuten gegenüber freilich unverstellte Inferiorität zu beweisen - da gehört etwas dazu. Dagegen sehe man, mit welcher herzlichen Freundlichkeit ein erträgliches Mädchen einem grundhäßlichen entgegenkommt. Körperliche Vorzüge kommen bei männern nicht sehr in Betracht; wiewohl man sich doch behaglicher neben einem kleineren, als neben einem größeren fühlt. Demzufolge also sind, unter Männern, die dummen und unwissenden, unter Weibern die häßlichen allgemein beliebt und gesucht: sie erlangen leicht den Ruf eines überaus guten Herzens; weil jedes für seine Zuneigung, vor sich selbst und vor andern, eines Vorwandes bedarf. Ebendeshalb ist Geistesüberlegenheit jeder Art eine sehr isolierende Eigenschaft: sie wird geflohen und gehaßt, und als Vorwand hiezu werden ihrem Besitzer allerhand Fehler angedichtet *).

    Anmerkung *) Zum Vorwärtskommen in der Welt sind Freundschaften und Kamaraderien bei weitem das Hauptmittel. Nun aber große Fähigkeiten machen allemal stolz und dadurch wenig geeignet, denen zu schmeicheln, die nur geringe haben, ja, vor denen man deshalb die großen verhehlen und verleugnen soll. Entgegengesetzt wirkt das Bewußtsein nur geringer Fähigkeiten: es verträgt sich vortrefflich mit der Demut, Leutseligkeit, Gefälligkeit und Respekt vor dem Schlechten, verschafft also Freunde und Gönner.
    Das Gesagte gilt nicht bloß vom Staatsdienst, sondern auch von den Ehrenstellen, Würden, ja, dem Ruhm in der gelehrten Welt; so daß z. B. in den Akademien die liebe Mediokrität stets oben auf ist, Leute von Verdienst spät oder nie hineinkommen, und so bei allem.

    Gerade so wirkt unter Weibern die Schönheit: sehr schöne Mädchen finden keine Freundin, ja, keine Begleiterin. Zu Stellen als Gesellschafterin tun sie besser sich gar nicht zu melden: denn schon bei ihrem Vortritt verfinstert sich das Gesicht der gehofften neuen Gebieterin, als welche, sei es für sich, oder für ihre Töchter, einer solchen Folie keineswegs bedarf. - Hingegen verhält es sich umgekehrt mit den Vorzügen des Ranges; weil diese nicht wie die persönlichen, durch den Kontrast und Abstand, sondern, wie die Farben der Umgebung auf das Gesicht, durch den Reflex wirken.

  15. An unserm Zutrauen zu andern haben sehr oft Trägheit, Selbstsucht und Eitelkeit den größten Anteil: Trägheit, wenn wir, um nicht selbst zu untersuchen, zu wachen, zu tun, lieber einem andern trauen; Selbstsucht, wenn das Bedürfnis von unsern Angelegenheiten zu reden uns verleitet, ihm etwas anzuvertrauen; Eitelkeit, wenn es zu dem gehört, worauf wir uns etwas zugute tun. Nichtsdestoweniger verlangen wir, daß man unser Zutrauen ehre.

    Ueber Mißtrauen hingegen sollten wir uns nicht erzürnen: denn in demselben liegt ein Kompliment für die Redlichkeit, nämlich das aufrichtige Bekenntnis ihrer großen Seltenheit, infolge welcher sie zu den Dingen gehört, an deren Existenz man zweifelt.


  16. Von der Höflichkeit, dieser chinesischen Kardinaltugend, habe ich den einen Grund angegeben in meiner Ethik S. 201: der ander liegt in folgendem. Sie ist eine stillschweigende Uebereinkunft, gegenseitig die moralisch und intellektuell elende Beschaffenheit voneinander zu ignorieren und sie nicht vorzurücken; - wodurch diese, zu beiderseitigem Vorteil, etwas weniger leicht zutage kommt.

    Höflichkeit ist Klugheit; folglich ist unhöflichkeit Dummheit: sich mittelst ihrer unnötiger- und mutwilligerweise Feinde machen ist Raserei, wie wenn man sein Haus in Brand steckt. Denn Höflichkeit ist, wie die Rechenpfennige, eien offenkundig falsche Münze: mit einer solchen sparsam zu sein, beweist Unverstand: hingegen Freigebigkeit mit ihr Verstand. Alle Nationen schließen den Brief votre très-humble serviteur, - your most obedient servant, - suo devotissimo servo: bloß die Deutschen halten mit dem "Diener" zurück, - weil es ja doch nicht wahr sei - ! Wer hingegen die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige gäbe. - Wie das Wachs, von Natur hart und spröde, durch ein wenig Wärme so geschmeidig wird, daß es jede beliebige Gestalt annimmt; so kann man selbst störrische und feindselige Menschen, durch etwas Höflichkeit und Freundlichkeit, biegsam und gefällig machen. Sonach ist die Höflichkeit dem Menschen, was die Wärme dem Wachs.

    Eine schwere Aufgabe ist freilich die Höflichkeit insofern, als sie verlangt, daß wir allen Leuten die größte Achtung bezeigen, während die allermeisten keine verdienen; sodann, daß wir den lebhaftesten Anteil an ihnen simulieren, während wir froh sein müssen, keinen an ihnen zu haben. - Höflichkeit mit Stolz zu vereinigen, ist ein Meisterstück. -

    Wir würden bei Beleidigungen, als welche eigentlich immer in Aeußerungen der Nichtachtung beistehn, viel weniger aus der Fassung geraten, wenn wir nicht einerseits eine ganz übertriebene Vorstellung von unserm hohen Wert und Würde, also einen ungemessenen Hochmut hegten, und andrerseits uns deutlich gemacht hätten, was, in der Regel, jeder vom andern, in seinem Herzen, hält und denkt. Welch ein greller Kontrast ist doch zwischen der Empfindlichkeit der meisten Leute über die leiseste Andeutung eies sie treffenden Tadels und dem, was sie hören würden, wenn sie die Gespräche ihrer Bekannten über sie belauschten! - Wir sollten vielmehr uns gegenwärtig erhalten, daß die gewöhnliche Höflichkeit nur eine grinsende maske ist: dann würden wir nicht Zeter schreien, wenn sie einmal sich etwas verschiebt, oder auf einen Augenblick abgenommen wird. Wann aber gar einer geradezu grob wird, da ist es, als hätte er die Kleider abgeworfen und stände in puris naturalibus da. Freilich nimmt er sich dann, wie die meisten Mensche in diesem Zustande, schlecht aus.


  17. Für sein Tun und Lassen darf man keinen andern zum Muster nehmen; weil Lage, Umstände, Verhältnisse nie die gleichen sind, und weil die Verschiedenheit des Charakters auch der Handlung einen verschiedenen Anstrich gibt, daher duo cum faciunt idem, non est idem. Man muß, nach reiflicher Ueberlegung und scharfem Nachdenken, seinem eigenen Charakter gemäß handeln. Also auch im Praktischen ist Originalität unerläßlich: sonst paßt, was man tut, nicht zu dem, was man ist.

  18. Man bestreite keines Menschen Meinung; sondern bedenke, daß, wenn man alle Absurditäten, die er glaubt, ihm ausreden wollte, man Methusalems Alter erreichen könnte, ohne damit fertig zu werden.

    Auch aller, selbst noch so wohlgemeinter, korrektioneller Bemerkungen, soll man, im Gespräche, sich enthalten: denn die Leute zu kränken, ist leicht, sie zu bessern, schwer, wo nicht unmöglich.

    Wenn die Absurditäten eines Gesprächs, welches wir anzuhören im Fall sind, anfangen uns zu ärgern, müssen wir uns denken, es wäre eine Komödienszene zwischen zwei Narren. Probatum est. - Wer auf die Welt gekommen ist, sie ernstlich und in den wichtigsten Dingen zu belehren, der kann von Glück sagen, wenn er mit heiler haut davonkommt.


  19. Wer da will, daß sein Urteil Glauben finde, spreche es kalt und ohne Leidenschaftlichkeit aus. Denn alle Heftigkeit entspringt aus dem Willen: daher wird man diesem und nicht der Erkenntnis, die ihrer Natur nach kalt ist, das Urteil zuschreiben. Weil nämlich das Radikale im Menschen der Wille, die Erkenntnis aber bloß sekundär und hinzugekommen ist; so wird man eher glauben, daß das Urteil aus dem erregten Willen, als daß die Erregung des Willens bloß aus dem Urteil entsprungen sei.


  20. Auch beim besten Rechte dazu, lasse man sich nicht zum Selbstlobe verführen. Denn die Eitelkeit ist eine so gewöhnliche, das Verdienst aber eine so ungewöhnliche Sache, daß, so oft wir, wenn auch nur indirekt, uns selbst zu loben scheinen, jeder hundert gegen eins wettet, daß, was aus uns redet, die Eitelkeit sei, der es am Verstande gebricht, das Lächerliche der Sache einzusehn. - Jedoch mag, bei allem dem, Baco von Verulam nicht ganz unrecht haben, wenn er sagt, daß das semper aliquid haeret, wie von der Verleumdung, so auch vom Selbstlobe gelte, und daher dieses, in mäßigen Dosen, empfiehlt.


  21. Wenn man argwöhnt, daß einer lüge, stelle man sich gläubig: da wird er dreist, lügt stärker und ist entlarvt. Merkt man hingegen, daß eine Wahrheit, die er verhehlen möchte, ihm zum Teil entschlüpft; so stelle man sich darüber ungläubig, damit er, durch den Widerspruch provoziert, die Arrieregarde der ganzen Wahrheit nachrücken lasse.


  22. Unsere sämtlichen persönlichen Angelegenheiten haben wir als Geheimnisse zu betrachten, und unsern guten Bekannten müssen wir, über das hinaus, was sie mit eigenen Augen sehn, völlig fremd bleiben. Denn ihr Wissen um die unschuldigsten Dinge kann, durch Zeit und Umstände, uns Nachteil bringen. - Ueberhaupt ist es geratener, seinen Verstand durch das, was man verschweigt, an den Tag zu legen, als durch das, was man sagt. Ersteres ist Sache der Klugheit, letzteres der Eitelkeit. Die Gelegenheit zu beiden kommt gleich oft: aber wir ziehn häufig die flüchtige Befriedigung, welche das letztere gewährt, dem dauernden Nutzen vor, welchen das erstere bringt. Sogar die Herzenserleichterung, einmal ein Wort mit sich selbst laut zu reden, was lebhaften Personen wohl begegnet, sollte man sich versagen, damit sie nicht zur Gewohnheit werde; weil dadurch der Gedanke mit dem Worte so befreundet und verbrpdert wird, daß allmählich auch das Sprechen mit andern ins laute Denken übergeht; während die Klugheit gebeut, daß zwischen unserm Denken und unserm Reden eine weite Kluft offen gehalten werde.

    Bisweilen meinen wir, daß andere etwas uns Betreffendes durchaus nicht glauben können; während ihnen gar nicht einfällt, es zu bezweifeln: machen wir jedoch, daß ihnen dies einfällt, dann können sie es auch nicht mehr glauben. Aber wir verraten uns oft bloß, weil wir wähnen, es sei unmöglich, daß man das nicht merke; - wie wir uns von einer Höhe hinabstürzen, aus Schwindel, d. h. durch den Gedanken, es sei unmöglich, hier fest zu stehn, die Qual aber, hier zu stehn, sei so groß, daß es besser sei, sie abzukürzen: dieser Wahn heißt Schwindel.

    Andrerseits wieder soll man wissen, daß die Leute, selbst die, welche sonst keinen besondern Scharfsinn verraten, vortreffliche Algebristen in den persönlichen Angelegenheiten anderer sind, woselbst sie, mittelst einer einzigen gegebenen Größe, die verwickeltesten Aufgaben lösen, Wenn man z. B, ihnen eine ehemalige Begebenheit, unter Weglassung aller namen und sonstiger Bezeichnung der Personen erzählt; so soll man sich hüten, dabei ja nicht irgendeinen ganz positiven und individuellen Umstand, sei er auch noch so gering, mit einzuführen, wie etwa einen Ort, oder Zeitpunkt, oder den Namen einer Nebenperson, oder sonst etwas auch nur unmittelbar damit Zusammenhängendes: denn daran haben sie sogleich eine positiv gegebene Größe, mittelst deren ihr algebraischer Scharfsinn alles übrige herausbringt. Die Begeisterung der Neugier nämlich ist hier so groß, daß, kraft derselben, der Wille dem Intellekt die Sporen in die Seite setzt, welcher nun dadurch bis zur Erreichung der entlegensten Resultate getrieben wird. Denn so unempfänglich und gleichgültig die Leute gegen allgemeine Wahrheiten sind, so erpicht sind sie auf individuelle.

    Dem allen gemäß ist denn auch die Schweigsamkeit von sämtlichen Lehrern der Weltklugheit auf deas dringendste und mit den mannigfaltigsten Argumenten anempfohlen worden; daher ich es bei dem Gesagten bewenden lassen kann. Bloß ein paar arabische Maximen, welche besonders eindringlich und wenig bekannt sind, will ich noch hersetzen. "Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht." - "Wenn ich mein Geheimnis verschweige, ist es mein Gefangener: lasse ich es entschlüpfen, bin ich sein Gefangener." - "Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht, der Friede."


  23. Kein Geld ist vorteilhafter angewandt, als das, um welches wir uns haben prellen lassen: denn wir haben dafür unmittelbar Klugheit eingehandelt.


  24. Man soll, womöglich, gegen niemanden Animosität hegen, jedoch die procédés eines jeden sich wohl merken und im Gedächtnis behalten, um danach den Wert desselben, wenigstens hinsichtlich unser, festzustellen und demgemäß unser Verhalten und Betragen ihn zu regeln, - stets überzeugt von der Unveränderlichkeit des Charakters: einen schlechten Zug eines Menschen jemals vergessen, ist wie wenn man schwer erworbenes Geld wegwürfe. - So aber schützt man sich vor törichter Vertraulichkeit und törichter Freundschaft. -

    "Weder lieben, noch hassen" enthält die Hälfte aller Weltklugheit: "nichts sagen und nichts glauben" die andere Hälfte. Freilich aber wird man einer Welt, welche Regeln, wie diese und die nächstfolgenden nötig macht, gern den Rücken kehren.


  25. Zorn, oder Haß in Worten, oder Mienen blicken zu lassen, ist unnütz, ist gefährlich, ist unklug, ist lächerlich, ist gemein. Man darf also Zorn, oder Haß, nie anders zeigen, als in Taten. Letzteres wird man um so vollkommener können, als man ersteres vollkommener vermieden hat. - Die kaltblütigen Tiere allein sind die giftigen.


  26. Parler sans accent: diese alte Regel der Weltleute bezweckt, daß man dem Verstande der andern überlasse, herauszufinden, was man gesagt hat: der ist langsam, und ehe er fertig geworden, ist man davon. Hingegen parler avec accent heißt zum Gefühl reden; wo denn alles umgekehrt ausfällt. Manchem kann man, mit höflicher Gebärde und freundlichem Ton, sogar wirkliche Sottisen sagen, ohne unmittelbare Gefahr.