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Die Essais des Michel de Montaigne (1533-1591)


Auszug Band III

Von der Reue

Es ist eine vortreffliche Lebensweise, die sich bis in die innerste Häuslichkeit in Ordnung erhält. jedermann kann am Schauspiele teilnehmen, eine vornehme Rolle übernehmen und mit Wärme ausführen; aber darauf kommt es an, ob in seiner Brust, in seinem Innern, wo alles erlaubt, wo alles verborgen ist, alles nach der Regel gehe. Die nächste Stufe ist, ob man es auch daheim und in seinen Alltagsangelegenheiten sei, von welchen wir niemand Rechenschaft abzulegen haben, wo kein Künsteln, kein Studieren stattfindet. Und gleichwohl, wenn Bias eine vortreffliche Haushaltung schildert, sagt er, der Hausvater derselben sei ebenderselbe daheim, aus eigenem Antriebe, als er es außer dem Hause aus Furcht vor den Gesetzen der Nachrede der Menschen sei.

Und war es eine würdige Antwort, welche Julius Drusus den Arbeitern gab, die sich erboten, für 3000 Taler sein Haus dergestalt einzurichten, daß seine Nachbarn nicht mehr so hineinsehen könnten wie bisher. Ich will euch, sagte er, 6 000 geben, wenn ihr es so macht, daß jedermann von allen Seiten hineinsehen kann. Man bemerkt es als etwas Rühmliches am Agesilaus, daß er auf Reisen im Gebrauch hatte, seine Herberge in den Tempeln zu nehmen, damit das Volk und selbst die Götter sein häusliches Benehmen beobachten könnten. Es gibt Menschen, welche von der Welt bewundert worden sind, denen Ehefrauen und Bedienten nicht einmal etwas Merkwürdiges angesehen haben; wenige Männer sind von ihren Hausgenossen bewundert worden.

Denn man muß nicht vergessen, daß Ordnung eine stille, geräuschlose Tugend ist. Schlachten gewinnen, Gesandtschaften führen, ein Volk regieren, das sind glänzende Taten. Still und gerecht Verweise geben, lachen, verkaufen, bezahlen, lieben, hassen und mit den Seinigen und mit sich selbst ehrbar umgehen; in allen seinen Pflichten nicht laß werden, noch sich widersprechen, das ist seltener, schwerer, und macht weniger Aufsehen. Man mag darüber sagen, was man will, das stille Leben eines ehrbaren Bürgers hat Pflichten, die ebensoviel Kräfte und Anspannung erfordern als das Leben der Staatsmänner. Und die Privatleute, sagt Aristoteles, leisten der Tugend schwerere und wichtigere Dienste als die Herren des obersten Rates. Auf wichtige Angelegenheiten bereiten wir uns vor, mehr aus Ruhmsucht als aus Gewissenhaftigkeit. Der kürzeste Weg, zum Ruhme zu gelangen, wäre, des Gewissens wegen zu tun, was wir nur um Ruhm zu erhalten verrichten. Und die Tugend des Alexander scheint mir auf seinem glänzenden Schauplatze weit weniger Kraft zu verraten als die Tugend des Sokrates in ihren Übungen auf seiner kleinen, dunklen Bühne. Ich kann mir ganz leicht den Sokrates an Alexanders Stelle denken; den Alexander aber an Sokrates' Stelle denken, damit kann ich nicht zurechtkommen. Wenn man den Alexander fragt: Worauf verstehst du dich?, so wird er antworten: Die Welt zu überwinden. Wer dem Sokrates dieselbe Frage tut, dem wird er antworten: Das menschliche Leben so zu führen, wie es seine Natur verlangt; eine weit gemeinnützigere, wichtigere und brauchbarere Wissenschaft.

Der wahre Wert einer Seele beruht nicht in ihrem hohen Fluge, sondern in ihrem regelmäßigen Gange; ihre Größe zeigt sich weniger in der Größe als in der Mittelmäßigkeit.

Ich habe die Gewohnheit an mir, alles was ich tue, ganz zu tun, und verändere meinen Schritt nie. Ich spüre eben keinen Trieb, der sich meiner Vernunft verberge und verhehle, und der sich nicht ungefähr durch die Einwilligung meiner übrigen Seelenkräfte leiten lasse, ohne innere Empörung und Zwietracht; meine Urteilskraft hat beständig daran allein Schuld oder auch allein das Lob davon, und die Schuld, die solche einmal hat, hat sie beständig. Denn fast von ihrer ersten Tätigkeit an ist sie sich selbst gleich, von einerlei Hang, einerlei Gang, von einerlei Stärke. Und in Rücksicht auf allgemeine Meinungen habe ich mich von meiner Kindheit an auf den Punkt gesetzt, wo ich mich halten sollte. Es gibt unter den Sünden einige, die mit Ungestüm, plötzlich und schnell uns überrumpeln, wovon wir hier nichts sagen wollen; aber von jenen andern Sünden, welche so oft mit Überlegung und Bedacht wiederholt werden, oder von Sünden des Temperaments oder von Sünden der Gewerbe und Geschäfte kann ich nicht begreifen, wie sie so lange in einem Herzen statthaben können, ohne daß die Vernunft und das Gewissen desjenigen, den sie besitzen, sie allemal billige und sich mit ihnen einverstehe, und die Reue, die, wie er sich rühmt, ihn zu gewissen vorgeschriebenen Zeiten darüber ankommt, ist mir ein wenig schwer zu begreifen und vorzustellen.

Ich will mich durchgängig gleichgesinnt und gleichgestaltet darstellen und sehen lassen. Wenn ich mein Leben noch ein, mal beginnen sollte, so würde ich ebenso leben, wie ich gelebt habe. Ich bedauere die Vergangenheit nicht, und ebensowenig fürchte ich die Zukunft; und wenn ich mich nicht ganz betrüge, so ist es ungefähr im Innern zugegangen wie im Äußern. Eine der vorzüglichsten Verbindlichkeiten, die ich meinem Glücke schuldig bin, ist, daß der Lauf meines Lebens immer mit meinem Alter gleichen Schritt hielt. Ich habe sein hervorkeimendes Kraut gesehen, seine Blüten und seine Früchte, und ich sehe nun sein Verwelken um so glücklicher, weil es natürlich ist. Ich ertrage die Übel, welche ich fühle, um so sanfter, weil sie zu rechter Zeit eintreten und weil sie mich auch um so froher an die lange Glückseligkeit meines vergangenen Lebens denken lassen. Ebenso kann auch meine Weisheit wohl von ebendem Wuchse sein zu einer und der andern Zeit; aber sie war wirksamer, schlanker, kräftiger, munterer, unbefangener als jetzt, da sie keuchend, grämlich und schwerfällig ist. Ich entsage also den zufälligen und peinlichen Reformationen. Gott muß uns das Herz rühren, das Gewissen muß von selbst uns zur Besserung leiten, durch Stärkung unserer Vernunft und nicht durch Schmähung unserer Begierden.
(III, 2)

Von den dreierlei Arten, seinen Geist zu unterhalten

Zu fest muß man sich nie an einerlei Gleis für Denken und Handeln halten. Unsere vornehmste Geschicklichkeit besteht darin, daß wir verschiedene Dinge verrichten können. Es heißt wohl Dasein, es heißt aber nicht Leben, wenn man sich aus Not gezwungen sieht, beständig den Roßmühlengang zu gehen. Das sind die vorzüglichsten Seelen, welche die meiste Biegsamkeit haben und in den meisten Dingen sattelgerecht sind. Es ist ein ruhmvolles Zeugnis vom alten Cato, wenn es heißt:

Huic versatile ingenium sic pariter ad omnia fuit,
ut natum ad id unum diceres, quodcumque ageret.

Kein Kopf war so biegsam, so allumfassend,
daß er allein zu dem geboren schien, was er gerade vornahm.
[Livius, XXXIX, 40.]

Wenn es bloßerdings bei mir stände, mich nach meiner eigenen Mode zu kleiden, so wüßte ich keinen Schnitt, an den ich mich so fest halten würde, daß ich niemals davon abginge. Das menschliche Leben ist eine ungleiche, unregelmäßige und vielseitige Bewegung. Man ist nicht sein eigener Freund und noch weniger sein eigener Herr, man ist vielmehr Sklave, wenn man beständig seinem eigenen Sinne folgt und so an seine Neigungen gebunden ist, daß man sich davon nicht los, winden und wickeln kann. Ich sage dies zu dieser Stunde, wo ich nicht mehr leicht den Halfter abschütteln kann, an welchen mich meine aufdringliche Seele führt, weil sie die meiste Zeit nicht weiß, was sie mit sich selbst allein machen soll, ohne sich selbst zur Last zu fallen; sich nicht mehr anders als mit angestrengten Kräften zu beschäftigen weiß. So leicht auch der Gegenstand ist, den man ihr aufgibt, so gern vergrößert sie ihn und dehnt ihn zu solchem Maße aus, daß sie alle ihre Kräfte nötig hat, ihn zu behalten. Ihr Müßiggang ist mir aus dieser Ursache eine beschwerliche Arbeit, die meine Gesundheit angreift. Die meisten Gemüter bedürfen eines fremden Stoffes, um sich aufzurütteln und ihre Kräfte zu üben. Das meinige bedarf desselben vielmehr, um ruhig und stetig zu werden.

Vitia otii negotio discutienda sunt.

Laster des Müßiggangs müssen durch Beschäftigung vertrieben werden.
[Seneca, Epist. 56.]

Sein mühsamstes und hauptsächlichstes Studium ist, sich selbst zu studieren. Die Bücher sind meiner Seele eine Art von Beschäftigung, die sie von ihrem Studieren zerstreut. Bei den ersten Gedanken, die ihr darin aufstoßen, gerät sie in Bewegung und in Anstrengung ihrer Kräfte nach allen Richtungen. Bald strebt sie mit ihrer Arbeit auf Nachdruck, bald auf Ordnung und Anmut; gibt nach, mäßigt sich und stärkt sich. Sie weiß ihre Fähigkeiten durch sich selbst zu ermuntern. Die Natur hat ihr, wie allen übrigen, in sich selbst Stoff genug gegeben, um sich nützlich zu beschäftigen und Gegenstände, die geschickt genug sind, sich daran im Erfinden und im Beurteilen zu üben. Das Nachsinnen ist ein mächtiges und erhebliches Studium für jeden, der seine Kräfte kennt und mit Nachdruck anzuwenden weiß. Ich mag lieber meine Seele selbst bearbeiten als mit den Gedanken anderer anfüllen.

Ich möchte eine Seele von verschiedenen Stockwerken loben, welche sich herauf- und herabstimmen könnte, welche sich allenthalben wohlbefände, wohin sie das Schicksal wirft, welche mit dem Nachbarn über seinen Bau, über seine Jagd, über seine Prozesse schwätzt und gern mit einem Zimmermann, mit einem Gärtner plaudern könnte. Ich beneide diejenigen, welche sich mit dem geringsten von ihren Untergebenen einlassen und die Unterhaltung nach seinem Tone herabstimmen können. Und gefällt mir der Rat des Plato nicht, mit seinen Bedienten beständig im herrschaftlichen Tone zu sprechen, ohne zu tändeln, ohne sich mit ihnen gemein zu machen, es sei mit Manns- oder Weibspersonen. Denn, außer noch meine andern Ursachen anzuführen, ist es ungerecht und unmenschlich, sich auf einen bloßen Vorzug des Glückes so mächtig viel zugute zu tun, und scheinen mir die häuslichen Einrichtungen, in welchen möglichst geringe Ungleichheit zwischen Herrschaft und Gesinde eingeführt ist, die billigsten. Andere mögen darauf studieren, ihren Geist in die Höhe zu schrauben und auf Stelzen einhergehen zu lassen. Ich mag den meinigen gerne niederbeugen und halten. Er wird nur fehlerhaft, wenn er zu stramm gehalten wird.

Die Menschen, deren Gesellschaft und genauere Bekanntschaft ich gerne suche, sind solche, welche man ehrliche und geschickte Leute nennt. Dieses Bild macht mir die andern zuwider. Genau betrachtet sind solches auch die seltensten unsrer Formen, und zwar eine Form, die man vorzüglich von der Natur erhalten haben muß. Der Zweck dieses Umgangs ist ganz einfach: Vertraulichkeit, Unterredung und Mitteilung; die Übungen unserer Seelen ohne andere Nebenabsicht. In unsern Unterhaltungen sind mir alle Gegenstände gleich. Es kümmert mich nicht, ob sie richtig und gründlich sind oder nicht. Anmut und Schicklichkeit ist immer dabei. Alles verrät ein weises und festes Urteil, ist vermischt mit Güte, Offenherzigkeit und freundschaftlichem Frohsinn. Es ist nicht bloß bei großen und wichtigen Dingen und bei den Angelegenheiten der Könige, daß unser Witz seine Stärke und seine Schönheit zeigt. Er zeigt solche auch im trauten Geplauder. Ich kenne meine Leute selbst an ihrem Schweigen und Lächeln und entdecke sie vielleicht noch besser bei Tische als bei wichtigen Beratschlagungen. Hippomachus sagte ganz recht, er kenne die guten Ringer, wenn er sie nur bloß über die Gasse gehen sehe. Wenn es der Gelehrsamkeit gefällt, sich in unser Gespräch zu mischen, so wird sie daraus eben nicht verscheucht, wenn sie nicht magistermäßig herrschend und lästig, wie gewöhnlich, auftritt, sondern selbst duldend und gelehrig ist. Hier suchen wir nichts, als die Zeit angenehm hinzubringen. Wenn wir der Lehren und Predigten bedürfen, so wollen wir vor ihren Thron kommen und sie da hören. In unserer Gesellschaft mag sie ein wenig unsern Ton annehmen, wenn es ihr gefällig ist. Sie ist sehr nützlich und wünschenswürdig; bei alledem aber glaube ich, daß wir ihrer zur Not ganz und gar entbehren könnten und ohne sie unsern Zweck erreichen würden. Eine rechtschaffene Seele, die mit Menschen umzugehen weiß, macht sich, ohne alle Kunst, durch sich selbst angenehm.
(III, 3)

Über Verse des Vergil

Übrigens habe ich mir selbst das Gesetz gemacht, alles das ohne Furcht und Scheu zu sagen, was ich ohne Furcht und Scheu tue, und selbst solche Gedanken sind mir verwerflich, die ich nicht vor aller Welt ans Licht stellen dürfte. Die schlechteste von meinen Handlungen und Eigenheiten dünkt mich nicht so häßlich, als ich es häßlich und niederträchtig finden würde, wenn ich mir nicht getraute, sie bekannt werden zu lassen. Jedermann ist behutsam im Bekenntnis; in Handlungen sollte man es sein. Die Kühnheit, Fehler zu begehen, wird gewissermaßen durch die Kühnheit, sie zu bekennen, vergütet und im Zaum gehalten. Wer sich anheischig machte, alles zu sagen, der machte sich anheischig, nichts zu tun, was man zu verschweigen gezwungen ist. Wollte der Himmel, daß diese meine Übergroße Freimütigkeit meine Zeitgenossen bis zur Freiheit führe und sie über diese feigen und kindischen Tugenden hinwegsetze, welche eine Frucht unserer Unvollkommenheiten sind, und daß ich sie auf Kosten meiner Ausgelassenheit bis zum Punkt der Vernunft anziehe. Um sein Gebrechen erzählen zu können, muß man es sehen und studieren. Menschen, die es anderen verhehlen, verhehlen es auch gewöhnlich sich selbst und halten es nicht für geborgen genug, wenn sie es selbst sehen. Sie verhehlen und bemänteln es vor ihrem eigenen Gewissen.

Quare vitia sua. nemo confitetur?
Quia etiam nunc in illis est.
Somnium narrare vigilantis est.

Warum gesteht niemand seine Fehler?
Weil er sie noch jetzt an sich hat.
Nur ein Wachender kann seinen Traum erzählen.
[Seneca, Epist, 53.]

Die Übel des Körpers werden offenbar, indem sie sich vergrößern. Wir finden endlich, daß es das Zipperlein ist, was wir reißende Gicht oder Frostbeulen nannten. Die Krankheiten der Seele werden um so versteckter, je mehr sie zunehmen; der Kränkste fühlt sie am wenigsten. Aber eben deswegen muß man sie oft mit unbarmherziger Hand beim Lichte betasten, sie öffnen und aus der Brusthöhle herausreißen. Eben wie beim Wohltun geschieht es auch beim Übeltun, daß das bloße Bekenntnis Vergnügen und Erleichterung gewährt. Die ehrerbietige und blöde Art, womit die Spanier und Italiener ihre Liebesgeschäfte behandeln, wobei sie mehr verstohlener, und verdeckterweise zu Werke gehen als andere Nationen, gefällt mir. Ich weiß nicht, wie derjenige unter den Alten hieß, welcher sich einen langen Kranichhals wünschte, um dasjenige, was er verschluckte, desto länger zu schmecken. Dieser Wunsch paßt besser auf den schnellen und plötzlich vorübergehenden Genuß der Wollust. Selbst für solche Naturen wie die meinige, die eben nicht durch Schnelligkeit sündigt. Um seine Flucht aufzuhalten und ihn durch Vorspiele auszudehnen, ist alles Gunst und Belohnung; ein freundlicher Blick: ein Kopfnicken, ein Wort, ein Zeichen. Wer sich durch den Geruch des Bratens am Spieße nähren könnte, würde der nicht viel ersparen?

Es ist eine Leidenschaft, welche zu sehr wesentlichen und nahrhaften Dingen sehr viel Dunst und Fieberträume mischt. Gleichwohl muß man sie für echt kaufen und mitnehmen. Laß uns die Damen lehren, sich Wert beizulegen, sich zu schätzen, sich auszuspielen und uns zu täuschen. Wir Franzosen verschießen unsern besten Schuß immer zuerst; das macht unsere Heftigkeit und Lebhaftigkeit. Wenn wir die Gunst der Damen nach und nach und einzeln einsammelten, so fände jedweder bis in sein kümmerliches Alter noch immer einen kleinen Stecken und Stab, woran er sich nach Maßgabe seiner wenigen Kräfte und Verdienste halten könnte. Wer sich auf keinen anderen Genuß versieht als auf den Genuß selbst, wer nur immer das große Los gewinnen will, wer nur auf die Jagd geht, um viel zu schießen, dem ziemt es nicht, ein jünger unserer Schule zu sein. Je erhabener der Thron, desto erhabener ist die Ehre dessen, der ihn besteigt. Es sollte uns lieb sein, ebenso daher geführt zu werden, wie man in den großen Palästen und prächtigen Schlössern zu führen pflegt, durch verschiedene Säulengänge und Vorhöfe, durch angenehme Galerien und allerlei Umwege. Diese Einrichtung fügte sich zu unserem Vergnügen; wir würden dabei länger verweilen und unsere Liebe länger dauern. Ohne Hoffnung und ohne Wunsch verfallen wir zu oft ins Gähnen. Unsere völlige Herrschaft und unbestrittener Besitz muß den Damen also sehr zu fürchten sein ...

Ich habe in diesem Handel, als ich noch dazu tüchtig war, eine richtige Mittelstraße unter beiden Extremen beobachtet. Die Liebe erweckt eine heftige, lebhafte und lustige Regung; ich ward dadurch nicht beunruhigt noch betrübt, wohl aber ein wenig warm und durstig. Dabei muß man es bewenden lassen. Nur Narren wird sie gefährlich. Ein junger Mensch fragte den Philosophen Panaetius, ob es einem Weisen wohl anstände, verliebt zu sein. Laß uns den Weisen beiseite setzen, antwortete der; aber du und ich, die keine Weisen sind, wir beide wollen uns in keine so regsame und heftige Sache einlassen, die uns andern Personen zu Sklaven und in unserer eigenen Meinung verächtlich macht. Er sagte die Wahrheit. Man muß keiner an sich selbst zugrunde stürzenden Sache eine Seele aussetzen, welche nicht stark genug ist, dem Stoße derselben zu widerstehen und durch ihre Stärke die Worte des Agesilaus zunichte zu machen, daß Klugheit und Liebe nie an einem Joche ziehen. Es ist wahrhaftig eine eitle Beschäftigung, dabei unanständig, schimpflich und unerlaubt. Wenn sie aber auf meine Weise behandelt wird, so halte ich sie für gesund und tauglich, einen dicken Verstand abzuhobeln und einen schwerfälligen Körper gewandter zu machen. Und wäre ich ein Arzt, so schriebe ich sie einem Menschen von meiner Bildung und Beschaffenheit ebenso gerne vor als ein jedes andere Heilmittel, um ihn bis in seine späten Jahre hinein bei Munterkeit und Kräften zu erhalten und vor den Anfällen des Alters zu verwahren. Solange wir nur noch bis an die Vorstädte gerückt sind und der Puls noch schlägt,

Dum nova canities, dum prima et recta senectus,
Dum superes Lachesi quod torqueat, et pedibus me
Porto meis, nullo dextram subeunte bacillo.

Solang noch mein graues Haar nicht alt,
Noch grade mir der Rücken ist, solange
Ein Flöckchen Lachesis am Rocken übrig hat,
Und ohne Krücke mich die Füße tragen.
[Juvenal, Sat. III, 26.]

tut es uns wohl, durch etwas Stachliges, wie hier, gebürstet, gekratzt und gereizt zu werden. Man sehe nur nach, welche Jugend, welche Kraft und Fröhlichkeit die Liebe dem weisen Anakreon erteilte.
(III, 5)

Von der Kunst der Unterredung

Die nützlichste und natürlichste Übung unseres Geistes ist nach meiner Meinung die Unterredung. Sie gewährt mir ans genehmere Freuden als irgendeine andere Handlung des Lebens. Deswegen würde ich auch, wenn ich diesen Augenblick gezwungen wäre zu wählen, lieber, glaube ich, das Gesicht verlieren als das Gehör oder die Sprache. Die Athenienser und auch die Römer hielten diese Übung in ihren Akademien in .großen Ehren. Zu unseren Zeiten erhalten die Italiener noch davon einige Spuren zu ihrem großen Vorteile, wie wir das in der Vergleichung unseres Witzes mit dem ihrigen wahrnehmen.

Das Bücherstudium ist eine matte, schwache Bewegung, welche nicht erwärmt. Dahingegen die Unterredung zugleich lehrt und übt. Wenn ich mich mit einer starken Seele und wackern Streiter in Unterredung einlasse, so setzt er mir warm zu und spornt mich zur Rechten und zur Linken. Seine Einbildungskraft erhitzt die meinige. Die Ehrbegier, Ruhmseligkeit und allenfalls auch Rechthaberei treiben mich an und erheben mich über mich selbst. Alle eintönige Übereinstimmung ist in der Unterredung langweilig und einschläfernd. Aber, wie unser Geist sich durch die Mitteilung starker, heller Geister stärkt, so kann man kaum sagen, wie sehr er durch häufigen, täglichen Umgang mit trägen, kränklichen Geistern verliert und herabsinkt. Keine Seuche ist so ansteckend als diese; das weiß ich leider an mir durch vielfältige Erfahrung. Ich liebe, im Gespräche Widerstand zu halten und zu diszeptieren; aber nur mit wenigen Menschen und in kleiner Gesellschaft. Denn dem Großen zum Schauspiele zu dienen und mit seinem Witz und seinem Gerede Parade zu machen, das halte ich an einem Manne von Ehre für unanständig.

Können wir nicht auch unter der Aufschrift von der Kunst der Unterredung und Mitteilung in Gesprächen noch die kurzen, witzigen Einfälle mit begreifen, welche Fröhlichkeit und Vertrauen unter Freunden hervorzubringen pflegen, wenn sie sich durch frohen Scherz und Schäkern die Stunden ihres fröhlichen und vertrauten Lebens versüßen? Ein geselliges Spiel, wozu mich mein natürlicher Frohsinn sehr geschickt macht, und wenn es dabei nicht so stramm und ernsthaft hergeht als bei denjenigen Übungen, wovon ich bisher geredet habe, so gehört doch nicht weniger Witz und Scharfsinn dazu und ist nicht weniger lehrreich, wie schon Lycurg bemerkt. Was mich anbelangt, so bin ich dabei mehr frei als witzig und habe dabei mehr Glück als Verstand: ich bin aber Meister im Ertragen. Denn ich lasse es nicht nur gern geschehen, daß man mich scharf wieder anzapft, sondern wenn man auch das Sticheln ein wenig zu weit treibt, so ficht mich's doch nicht an. Und wenn man mir mit Witz zu Leibe geht und ich nicht augenblicklich den Ball zurückwerfen kann, so halte ich mich nicht dabei auf, durch langes schläfriges, eigensinniges Wiederkäuen das Gespräch langweilig zu machen, sondern lasse es vorübergehen, hänge mit guter Laune die Ohren nieder und schiebe es auf eine andere Stunde auf, wo ich meinem Gegner wieder einen Esel bohren kann, ehe er sich versieht. Das müßte ein schlechter Wirt sein, der nicht ein Zeichen auf Kreide geben könnte. Die meisten ändern Farbe und Stimme, wenn sie fühlen, daß sie nicht die Stärksten sind, und durch ein unzeitiges Entrüsten zeigen sie, anstatt sich zu rächen, nur ihren Zorn und ihre Schwäche. Bei solchen Schimpfspielen berühren wir oft gegenseitig die geheimen Saiten unserer Unvollkommenheit, welche wir im Ernst nicht ohne Beleidigung berühren dürften und lassen uns nützlicherweise an unsere Mängel und Fehler erinnern.
(III, 8)

Von der Eitelkeit

Das Reisen würde mir noch angenehmer sein, wenn es nicht so viel kostete. Diese Kosten sind groß und übersteigen meine Kräfte, da ich gewohnt bin, nicht nur mit nötiger, sondern auch mit anständiger Equipage zu reisen. Ich muß daher nur kürzere und öftere Reisen anstellen und verwende nicht mehr darauf als meinen Überschuß, mit Überlegung, mit Aufschub, nachdem es fällt. Ich will nicht, daß das Vergnügen des Reisens das Vergnügen des Zuhauseseins trübe. Vielmehr im Gegenteil suche ich es so zu machen, daß das eine durch das andere erhalten und begünstigt werde. Hierin ist mir das Glück zustatten gekommen. Weil der höchste Wunsch meines Lebens darin besteht, es bequem hinzubringen und viel mehr ohne Sorgen als mit Arbeit und Mühe, hat es mir die Not erspart, Reichtümer anzuhäufen, um für eine große Anzahl Erben zu sorgen. Wenn einer an dem nicht genug hat, wovon ich so herzlich vergnügt lebte, so ist es seine eigene Schuld. Seine Torheit verdient nicht, daß ich ihm deswegen mehr aufspare. Jeder sorgt, nach dem Beispiel des Phocion, hinlänglich für seine Kinder, wenn er ihnen so viel läßt, als ihm selbst genug war. Ich bin keineswegs der Meinung des Crates. Dieser legte sein Geld bei einem reichen Kaufmann nieder, mit der Bedingung, wenn seine Kinder Dummköpfe wären, soll er es ihnen auszahlen; wären sie aber geschickte Menschen, so solle er es unter die Dümmsten des Volkes verteilen. Gleichsam, als ob die Dummköpfe, weil sie des Geldes nicht entbehren können, fälliger wären, Reichtum anzuwenden. Soviel ist gewiß, der Nachteil, welcher aus meiner Abwesenheit erwächst, scheint mir nicht wichtig genug, solange ich ihn sonst ertragen kann, eine vorkommende Gelegenheit auszuschlagen, mich von dieser lästigen Anwesenheit zu zerstreuen. Eine Wirtschaft muß aufgezogen sein wie eine Uhr, und der Zeiger vorrücken, ohne zu knarren und ohne daß man's merkt. Auch finde ich es häßlich, wenn man die Gäste über die Bewirtung unterhält, sei es nun, sie zu loben oder sich darüber zu entschuldigen. Ich liebe Bedienung und Reinlichkeit

Et cantharus et lanx,
Ostendunt mihi me.

Der Becher, die Schüssel
Spiegeln mich zurück.
[Nach Horaz, Epist. I, 5, 23.]

mehr als Überfluß und sehe in meinem Hause gerade auf das Notwendige, wenig auf Schau und Parade. Wenn in andern Häusern sich die Bedienten prügeln, wenn eine Schüssel zur Erde geworfen wird, so lacht ihr nur darüber; ihr schlaft derweil ganz ruhig, daß der Herr des Hauses mit seinem Haushofmeister zu Rate geht und den Tisch, und Küchenzettel macht, um euch morgen ein herrlich Gastmahl vorzusetzen. Ich sage, wie ich es mache und weiß bei alledem das Vergnügen nach seinem Werte zu schätzen, welches gewisse Gemüter empfinden, wenn das Hauswesen in allem friedlichen Gedeihen nach fester Ordnung geführt wird. Auch bin ich nicht gemeint, meine eigenen Irrtümer und Unbehilflichkeiten der Sache selbst zur Last zu legen, noch dem Plato zu widersprechen, welcher es für die glücklichste Beschäftigung eines jeden hält, wenn er seine persönlichen Geschäfte ohne Ungerechtigkeit wahrnimmt. Wenn ich reise, habe ich bloß auf mich zu denken und auf die Verwendung meines Geldes, und das läßt sich mit wenigen Worten abmachen.

Und in einer so betrübten Lage als die unsrige, ist die Gewöhnung ein höchstwillkommenes Geschenk der Natur, unser Schmerzensgefühl in allerlei Leiden einzuschläfern. Bürgerliche Kriege haben vor andern Kriegen das Schlimme, daß man gegen einen jeden auf seiner Hut sein muß in seinem eigenen Hause:

Quam miserum, porta vitam muroque tueri,
Vixque uae tutum viribus esse domum?

0 wie elend, das Leben mit Schloß und Mauer zu wahren,
Und daß durch sich selbst sicher das Haus nicht mehr ist!
[Ovid. Trist. IV, 1, 69.]

Es ist doch ein Jammer und Elend, gedrückt zu werden, sogar in seiner Haushaltung und häuslichen Ruhe. Der Ort meines Aufenthaltes ist immer der erste und letzte, wo die Unruhe anhebt und endet, und wo der Friede niemals in seiner völligen Gestalt sich zeigt.

Tum quoque, cum pax est, trepidant formidine belli.

Dann auch, wenn's Friede ist, erzittern sie, Krieg befürchtend.
[Ovid, Trist. III, 10. 67.]

Quoties pacem fortuna lacessit,
Hac iter est bellis. Melius. fortuna, dedisses
Orbe sub Eoo sedem, gelidaque sub Arcto,
Errantesque domos.

So oft das Schicksal den Frieden verscheuchet,
Ist dies die Straße der Kriege. 0 Schicksal, du gäbst mir besser
In der östlichen Welt einen Wohnort, am kalten Polarkreis,
Oder ein irrendes Haus.
[Lucan I, 255.]

Manchmal, um mich gegen diese Beratungen zu stählen, ziehe ich ein Mittel aus der Unbesorglichkeit und Furchtsamkeit. Sie führen uns auf gewisse Weise auch zur Entschlossenheit. Da geht mir's dann oft so, daß ich mit einem gewissen Vergnügen mir Lebensgefahren vorstelle und sie erwarte. Ich stürze über Hals und Kopf und ohne allen Bedacht dem Tod in den Rachen, ohne ihn anzusehen und zu betrachten, als wie in eine dumpfe, düstere Tiefe, die mich durch einen Sprung verschlingt und mich in dem Augenblick eines starren, empfindungslosen Totenschlafes erstickt. Und was ich bei einer schnellen und gewaltsamen Todesart als Folge voraussehe, gibt mir mehr Beruhigung, als es mir Furcht erweckt. Man sagt, das Leben sei zwar nicht das beste, welches am längsten, der Tod aber sei der beste, der am kürzesten dauert. Ich stutze nicht sowohl vor dem Gestorbensein, als ich vertraute Bekanntschaft mache mit dem Sterben. Ich hülle und wickle mich in dieses Gewitter, welches mich mit einem schnellen und unversehenen Schlage blenden und hinreißen soll. Wenn es an dem wäre, wie einige Gärtner sagen, daß Rosen und Veilchen' wohlriechender wachsen neben Zwiebeln und Knoblauch, indem diese Gewächse den übeln Geruch aus der Erde einsaugen und an sich ziehen, so möchte ich wohl, daß diese entarteten Seelen um mich her doch auch das Gift meiner Luft und meines Himmelsstriches in sich schlürfen und mich durch ihre Nachbarschaft desto mehr besserten und reinigten, damit ich nicht alles verliere! Das ist nun freilich nicht, aber daran kann etwas sein, daß die Güte schöner ist und reizender, wenn sie selten ist, und Widerstreit und Verschiedenheit die Seele zum Wohltun mehr steift und stärkt und mehr anfeuert durch die Beeiferung, die aus dem Widerstande und durch Ruhmbegier entspringt. Die Räuber sind mir nicht besonders feind, wenn sie mir auch zusprechen. Auch bin ich ihnen nicht besonders feind. Da müßte ich mit vielen Leuten zu tun haben. Ähnliche Gewissen nisten unter verschiedenen Kleidern ähnliche Grausamkeit, Gottlosigkeit und Räuberei; um soviel schlimmer, je sicherer und lichtscheuer sie einherschleichen unter dem Schatten der Gesetze. Ich hasse offenbare Gewalttätigkeiten weniger als schleichende Schurkereien; Beleidigungen durch Kriege weniger als unter dem Scheine des Rechts im Frieden. Unser Fieber hat einen Körper befallen, den es um nichts verschlimmert. Das Feuer enthielt er schon, die verhaltene Flamme ist nur ausgebrochen. Der Lärm ist größer als die Gefahr. Ich antworte gemeiniglich denjenigen, die mich fragen, warum ich so gern reise: Ich weiß wohl, was ich suche. Redet man mir ein, im Auslande sei ebensowenig Gesundheit und Reinheit der Sitten als bei uns, so antworte ich fürs erste: das ist schwer,

Tam multae scelerum facies!

So vieler Laster Anblick!
[Virgil, Georg. I, 506.]

und fürs zweite: Es ist immer Gewinn dabei, einen schlimmen Zustand mit einem ungewissen zu vertauschen und fremde Krankheiten sind leichter zu ertragen als eigene.

Außer diesen Gründen scheint mir das Reisen eine nützliche Übung zu sein. Die Seele ist dabei in beständiger Tätigkeit, neue und unbekannte Gegenstände zu bemerken. Und ich weiß keine bessere Schule, wie ich schon oft gesagt habe, das Leben zu bilden, als unablässig eine große Verschiedenheit anderer Lebensweisen, Sinnesarten und Gebräuche vor Augen zu haben und sie eine so ununterbrochene Mannigfaltigkeit von Formen unserer Natur kosten zu lassen.

Der Körper ist dabei weder müßig noch angestrengt, und diese leichte Bewegung erhält ihn in Atem. Ich bleibe zu Pferde, ohne abzusteigen, so ein Steinpatient ich auch bin, und ohne müde zu werden, acht bis zehn Stunden.

Vires ultra sortemque senectae.

Über des Alters Los und Kräfte.
[Virgil, Aen. VI, 114.]

Kein Wetter ist mir zuwider, außer die heftige Hitze einer strahlenden Sonne. Denn die Sonnenschirme, deren sich Italien von den alten Römern her bedient, beschweren mehr den Arm, als Sie den Kopf erleichtern. Ich möchte wohl wissen, durch welche Art die Perser in so alten Zeiten und in der Wiege des Luxus und der Kunst ihrerseits sich frische Luft und Schatten machen konnten, wie Xenophon erzählt. Ich liebe Kot und Regen, wie das Schilfrohr. Die Veränderung der Luft und des Klimas hat mir nichts an. Jede Art von Luft und Wolken ist mir gleich. Nur die innern Veränderungen, die ich in mir selbst hervorbringe, steigen mir zu Kopfe und ebendiese drücken mich weniger auf Reisen. Ich bin schwer in Bewegung zu bringen, bin ich aber einmal im Gange, so gehe ich, so weit man will. Ich mache bei kleinen Unternehmungen ebensoviel Wesen als bei großen, und bei den Anstalten zu einer Fahrt auf eine Nachmittagsreise ebensoviel als bei denen zu einer ordentlichen Reise. Ich habe gelernt, auf gut Spanisch zu reisen, in einem Zuge fort, große tüchtige Tagesreisen, und bei sehr schwüler Hitze reise ich bei Nacht von Sonnenuntergang bis zu Sonnenaufgang.

Meine Leibesbeschaffenheit ist so frei, mein Geschmack so wenig einseitig, als ihn irgend jemand nur haben kann. Die Verschiedenheit der Gebräuche und Weisen einer Nation vor der andern fällt mir nicht weiter auf als durch das Vergnügen ihrer Verschiedenheit. Jede Sitte hat ihren Grund. Ob man mir zinnerne, hölzerne oder irdene Teller auflegt, Gekochtes oder Gebratenes vorsetzt, mit Butter oder mit Öl, mit Nuß, oder Olivenöl, warm oder kalt, alles gilt mir gleich. Und so gleich, daß ich bei zunehmendem Alter diese gleichmütige Denkungsart fast tadele und lieber wünschte, daß ein verzärtelter und mehr wählender Geschmack meiner unbesonnenen Eßlust Einhalt täte und meinem Magen zu Hilfe käme. Wenn ich außerhalb Frankreich gereist bin und man mich, um mir recht höflich zu begegnen, gefragt hat, ob ich auf französische Art bedient sein wollte, habe ich allemal darüber gespottet und mich immer an den Tisch gesetzt, woran sich die meisten Ausländer befanden. Ich schäme mich immer, wenn ich unsere Landsleute sehe, die in ihre eigene Sitte so verliebt sind, daß sie über alles stutzig werden, was damit nicht übereinkommt. Sie scheinen außer ihrem Elemente zu sein, wenn sie über die Grenzen ihres Dörfleins hinausgehen. Wo sie hinreisen, halten sie sich an ihre Gebräuche und Weisen und verabscheuen die fremden. Finden sie einen Landsmann in Ungarn, so tun sie entsetzlich fröhlich über den Fund, einigen und heften sich auf das innigste aneinander und verdammen dreist, weg die barbarischen Sitten, welche sie sehen. Warum sollten sie nicht barbarisch sein, sie sind ja nicht französisch! Und noch sind die die Geschicktesten, welche dergleichen kennengelernt haben und böse davon zu reden wissen. Denn die meisten reisen nur aus, um wieder heimzukehren; reisen mit einsilbiger und ungesprächiger Klugheit bedeckt und verwahrt und beschützen sich vor der Ansteckung einer unbekannten Luft.
(III, 9)

Man muß seinen Willen beschränken

Wenn das, was die Natur ursprünglich und im genauesten Sinne zur Erhaltung unseres Daseins von uns fordert, so gar wenig ist (wie es denn wirklich ist, und wie wir nicht besser ausdrücken können, mit wie wenigem unser Leben erhalten werden kann, als durch die Bemerkung, daß es so wenig sei, daß es durch seine Geringfügigkeit dem Einflusse und den Schlägen des Glücks entgeht), so laß uns die Sorgen für ein Mehreres fahren, laß uns auch das noch Natur nennen, was den Stand und die Lage eines jeden von uns betrifft; laß uns nach diesem Maße uns selbst schätzen und behandeln. Bis dahin laß uns unsere Rechnungen und Lagerbücher erstrecken, denn mich deucht, daß wir bis dahin wohl zu entschuldigen stehen. Die Gewohnheit ist eine zweite 'Natur und nicht minder mächtig. Was mir an dem mangelt, woran ich gewohnt bin, das deucht mich, mangele mir wirklich, und mir würde es wirklich ebenso lieb sein, man nehme mir das Leben, als wenn man es mir sehr verkümmerte und mich weit von dem Zustande herabsetzte, in welchem ich seit so langer Zeit lebe. Ich bin nicht mehr in den Jahren, wo ich einen großen Glückswechsel ertragen noch mich an eine neue und ungewohnte Lebensart gewöhnen könnte; nicht einmal an eine reichere. Meine Zeit ist dahin, ein anderer Mensch zu werden. Und wie ich ein großes Glück, wenn es mir zu dieser Zeit in die Hände fiele, beklagen würde, daß es nicht in der Zeit gekommen wäre, da ich es hätte genießen können,

Quo mihi fortunam, si non conceditur uti?

Wozu das Glück, wenn ich seiner nicht genießen darf?
[Horaz, Ep. I, 5, 12.]

ebenso würde ich mich über einen großen Seelenerwerb beklagen. Es ist gewissermaßen besser, niemals als spät ein ehrlicher Mann zu werden oder richtig leben zu lernen, wenn man nicht mehr zu leben hat. Ich, der ich auf meiner Abreise begriffen bin, könnte es gar leicht einem Ankömmling überlassen, was ich durch den Umgang mit der Welt an Klugheit lerne. Das ist Senf, der nach vollendeter Mahlzeit aufgesetzt wird. Was soll ich mit dem Gut, mit welchem ich nichts anfangen kann? Wozu Gelehrsamkeit einem Menschen, der keinen Kopf mehr hat? Es ist Feindseligkeit und Gehässigkeit des Schicksals, wenn es uns Geschenke zuwirft, die uns einen gerechten Ärger verursachen, daß wir solche zu gehöriger Zeit entbehren mußten. Entziehet mir nur euren Arm, ich kann nicht mehr gehen! Von allen Gliedern, welche die Geschicklichkeit hat, ist mir Geduld allein hinreichend. Wozu einem Sänger die Einsicht, eine schöne Diskantstimme zu führen, wenn schon seine Lunge verfault ist? Wozu die Beredsamkeit einem Einsiedler in den Wüsten Arabiens? Zum Fallen braucht es keiner Kunst. Das Ende ergibt sich bei jeder Beschäftigung von selbst. Meine Welt sinkt unter mir weg, meine Form ist verdunstet. Ich gehöre ganz der Vergangenheit und bin verbunden, daran zu haften und meinen Abgang ihr gemäß einzurichten.
(III, 10)

Von den Physiognomien

In Alltags- und Schlendrianszeiten bereitet man sich auf mäßige und gemeine Zufälle. In diesem Wirrwarr aber, worin wir uns seit dreißig Jahren befinden, sieht sich ein jeder Franke, sei es für seine eigene Person oder sei es im ganzen genommen, zu jeder Stunde und Minute auf dem Punkt, wo sein ganzes Glück über den Haufen fällt. Deshalb muß man darauf bedacht sein, seinem Herzen stärkere Stützen als Rohrstäbe in die Hände zu geben. Laß es uns dem Schicksal Dank wissen, daß es uns in eine Zeit versetzt hat, welche nichts weniger ist als weichlich, schmachtend oder untätig. Dabei wird es Menschen geben, die nur durch ihr Unglück berühmt werden und es sonst auf keine Art geworden wären. So wie ich selten in der Geschichte dergleichen Gewühle von andern Städten lese, ohne zu bedauern, daß ich's nicht in der Nähe habe ansehen können, ebenso macht meine Neugier, daß ich mich gewissermaßen damit brüste, das sonderbare Schauspiel unseres Staatstodes, seine Anzeichen und seine Form als Zuschauer zu erleben. Da ich solchen doch nun einmal nicht hindern kann, so ist mir's lieb, dazu ausersehen zu sein, daß ich's mir ansehen und mich daran erbauen soll. So wie wir ganz erweislich suchen, selbst aus dem Schatten und der Fabel der Schaubühne ein Bild der tragischen Begebenheiten des menschlichen Schicksals zu beobachten. Wir sind nicht ohne Mitleid bei dem, was wir sehen und hören. Aber es macht uns doch angenehme Empfindungen, unser Mitleid durch die sonderbare Katastrophe aufgeregt und ins Spiel gesetzt zu sehen. Nichts kitzelt, was nicht die Haut kratzt. Die guten Historiker fliehen wie ein totes Meer und wie ein faules Wasser die ruhigen, schläfrigen Erzählungen, um wieder auf Aufruhr, Krieg und Pest zu kommen, wovon sie wissen, daß wir sie gerne hören. Ich zweifle, ob ich mit Anstand gestehen darf, wie wenig Ruhe und Gemächlichkeit meines Lebens mir es kostet, mehr als die Hälfte desselben im Jammer und Elend meines Vaterlandes hingebracht zu haben. Meine Geduld ist fast ein wenig zu wohlfeil erkauft, in Ansehung der Zufälle, die mich selbst betreffen. Ehe ich mich selbst beklage, sehe ich nicht so sehr auf das, was man mir nimmt, als auf das, was man mir von innen und außen übrig läßt. Es ist eine Art von Trost dabei, bald das eine Übel, bald das andere, so wie sie uns überkommen, zu bestehen und zu sehen, wie sie sich über andere verbreiten.

Das Leben ist sich selbst Ziel und Absicht. Sein wahres Studium ist, sich in Ordnung zu halten, sich wohl zu betragen und sich zu dulden. Unter der Zahl vieler andern Pflichten, welche das große Hauptkapitel der Lebensweisheit enthält, ist auch der Artikel Sterbensweisheit. Und dies wäre die leichteste, wenn unsere Furcht sie nicht schwer machte.

Wenn man die Lehren der Einfalt nach ihrer Nützlichkeit und nach der unbefangenen Wahrheit beurteilt, so geben sie den Lehren nichts nach, welche uns die Gelehrsamkeit vorpredigt. Im Gegenteile! Die Menschen sind verschieden an Empfindungen und an Stärke. Man muß sie zu ihrem Besten leiten; aber jeden auf seine Weise und auf verschiedenen Wegen:

Quo me cumque rapit tempestas, deferor hospes.

Überall, wo mich der Sturm hinreißt, bin ich zu Hause.
[Horaz, Epist. I, 1, 15.]

Ich habe niemals einen Bauern in meiner Nachbarschaft gesehen, der darüber nachgedacht hätte, wie standhaft und gesetzt er seiner letzten Stunde entgegengehen wolle. Die Natur lehrt ihn, nicht früher an den Tod zu denken, als bis er stirbt. Und dabei befindet er sich besser als Aristoteles, welchen der Tod doppelt drückt; einmal an und für sich selbst und dann durch eine so lange Vorbetrachtung. Daher war es die Meinung des Caesar, daß der am wenigsten vorhergesehene Tod der glücklichste und leichteste wäre.

Plus dolet quam necesse est,
qui ante dolet, quam necesse est.

Wer Schmerz empfindet, bevor es not tut,
empfindet größeren Schmerz als not tut.
[Seneca, Ep. 98.]

Das Beißende dieses Vorgefühls entsteht aus unserm Vorwitz. Wir zermartern uns immer, wenn wir den Gesetzen der Natur, die wir vorher wissen wollen, Regeln vorschreiben. Es ziemt nur den Doktoren, deswegen bei guter Gesundheit schlechtere Mahlzeiten zu tun und dem Bilde des Todes ein schiefes Maul zu machen. Der gemeine Mann braucht weder Arznei noch Trostzuspruch früher, als wenn der Knochenmann mit seiner Hippe anschlägt; und hat weiter nichts Arges daraus als gerade so viel, wie er fühlt. Verhält es sich nicht, wie wir sagen? Die Stumpfheit und der Mangel an Begriffen des großen Haufens gebrauchen Geduld bei gegenwärtigem Übel und tiefe Gleichgültigkeit gegen die traurigen Zufälle der Zukunft. Ihr Gemüt ist dicker und stumpfer, aber ebendeswegen minder durchdringlich und leicht zu erschüttern. Wenn dem also ist, nun beim Himmel, so laßt uns künftig eine Schule der Dummheit errichten! Es ist ja der äußerste Nutzen, welchen die Wissenschaften uns versprechen, wohin jene ihre Schüler so sänftiglich hinführt.

Es wird uns nicht an tüchtigen Lehrern fehlen, die uns diese natürliche Einfalt dolmetschen werden. Sokrates ist deren einer.
(III, 12)

Von der Erfahrung

Die Urteilskraft hat bei mir ihren obrigkeitlichen Stuhl, wenigstens strebt sie sorgfältig danach. Sie läßt meine Begierden ihren Gang gehen, meinen Haß und meine Freundschaft, sogar diejenigen, welche ich gegen mich selbst hege, ohne sich deswegen zu verändern und zu verschlimmern. Kann sie meine übrigen Bestandteile nicht nach sich verändern, so läßt sie sich wenigstens durch solche nicht entstellen. Sie spielt ihr eignes Spiel. Die Weisung, daß jeder sich selbst kennen lernen soll, muß von großem Gewicht sein, weil der Gott aller Kenntnis und alles Lichtes (Anmerkung: Apollo auf seinem Tempel zu Delphi) solche über dem Eingange seines Tempels eingraben ließ, als ein Wort, welches alles in sich begreife, was er uns zu raten habe. Auch sagt Plato, daß die Klugheit nichts anders sei als die Befolgung dieser Vorschrift; und Sokrates bekräftigt solches beim Xenophon durch einzelne Beispiele. Dunkelheiten und Schwierigkeiten jeder Wissenschaft werden dann erst bemerkbar, wenn man zu derselben Zutritt gewinnt. Denn es gehört doch immer ein gewisser Grad von Einsicht dazu, um wahrzunehmen, daß man nichts wisse; und man muß an eine Tür geklopft haben, um zu erkennen, daß selbige verschlossen sei.

Diese ganze Pastete meines Gekritzels ist endlich weiter nichts als ein Register der Versuche meines Lebens, welches der innern Gesundheit Beispiele genug an die Hand gibt, wenn man die Lehre daraus zieht, das Gegenteil zu tun. Was aber die körperliche Gesundheit betrifft, so kann niemand nützlichere Erfahrungen aufstellen als ich; da ich solche rein zeige, weder durch Kunst oder Meinung verderbt noch geschwächt. Die Erfahrung ist in Ansehung der Arzneikunde eigentlich der Hahn auf seinem eigenen Miste, wo ihr die Vernunft die Herrschaft einräumt. Tiberius sagte: jedermann, der dreißig Jahr gelebt habe, müsse selbst wissen, was ihm heilsam oder schädlich sei, und sich ohne Beistand des Arztes helfen können. Das konnte er vom Sokrates gelernt haben, welcher seinen Schülern riet, das Studium ihrer Gesundheit mit Sorgfalt und als ein Hauptstudium zu treiben, und hinzufügte, es sei unglaublich, daß ein Mensch von Verstande, der auf seine körperliche Bewegung, auf sein Essen und Trinken achtgäbe, nicht besser wissen sollte als jeder Arzt, was ihm gut oder schlecht bekomme. Daher behauptet auch die Heilkunde, sie habe von jeher die Erfahrung zum Prüfstein ihres Verfahrens gemacht. Also hatte Plato recht zu sagen, ein wahrer Arzt müßte notwendig erst alle Krankheiten, die er heilen wolle, selbst gehabt haben und alle Zufälle und Umstände durchgegangen sein, welche seiner Beurteilung unterworfen werden. Es ist billig, daß er sich krätzig mache, wenn er die Krätze heilen will. Wirklich, nur einem solchen würde ich mich anvertrauen. Denn die andern führen uns wie jener, welcher Meere, Klippen und Häfen auf den Tisch hinmalt, an welchem er sitzt, und das Modell eines Schiffchens in aller Sicherheit herumspazieren läßt. Bringt ihn zur wirklichen Tat, so weiß er nicht, mit welcher Hand er angreifen soll. Sie machen eine Beschreibung von unsern Krankheiten wie der öffentliche Ausrufer einer Stadt. Er bezeichnet ein verlorenes Pferd oder einen Hund von solch und solcher Farbe, solch und solcher Größe, die Ohren so und so gestaltet: aber stellt ihm das Tier vor, so kennt er es doch nicht. Bei Gott! laß mir die Heilkunde eines Tages eine merkliche sichtbare Hilfe leisten, und man soll sehen, wie treu und ehrlich ich ausrufen werde:

Tandem efficaci do manus scientiae!

Endlich gebe ich die Hand der wirksamen Wissenschaft.
[Horaz, Epod. XVII, 1.]

Meine Art zu leben ist in gesunden und kranken Tagen einerlei. Ich bediene mich desselben Bettes, halte einerlei Stunde, genieße einerlei Speise und einerlei Getränk. Ich füge dabei nichts hinzu, sondern mäßige mich nur mehr oder weniger nach Beschaffenheit meiner Kräfte und meines Hungers. Meine Gesundheit besteht darin, daß ich in meinem gewöhnlichen Zustand nicht gestört werde. Ich sehe, daß die Krankheit an einer Seite mich daraus versetzt; wenn ich den Ärzten glaubte, so würden die mich auf der andern Seite davon abkehren, und so wäre ich denn durch Zufall und Kunst völlig aus meinem Wege gebracht. Ich glaube nichts gewisser als dies, daß mir solche Dinge nicht schaden können, an die ich seit langer Zeit gewohnt bin. Es ist die Gewohnheit, welche unserer Lebensart eine Form gibt, wie es ihr gefällt. Sie kann hierin alles. Sie ist der Zaubertrank der Circe, welcher unsere Natur verändert, wie er will. Wie viele Nationen, kaum um etliche Schritte weit von uns entfernt, halten die Furcht vor der Nachtluft, die uns augenscheinlich nachteilig ist, für lächerlich, und unsere Landleute und Schiffer lachen gleichfalls darüber. Man macht einen Deutschen krank, wenn man ihm Matratzen zum Schlafen unterlegt, einen Italiener durch Federbetten, und einen Franzosen, wenn ihm Vorhänge und Kaminfeuer gebrechen. Der Magen eines Spaniers hält unsere Tafel nicht aus sowie der unsrige nicht das schweizerische Trinken.

Das Beste an meiner körperlichen Beschaffenheit besteht darin, daß ich biegsam und nachgiebig bin. Ich habe Neigungen, die mir eigentümlicher, gewöhnlicher und angenehmer sind als andere; aber ich kann mich ihrer ohne große Anstrengung entschlagen und gleite ganz gemächlich zum Gegenteil über. Ein junger Mensch muß seine Gewohnheiten unterbrechen, um seine Kräfte zu erwecken, sich wenigstens vor Schimmeln und Faulen bewahren; und keine Lebensart ist so kindisch und närrisch als die Lebensart nach Schnur und Uhr.

Ad primum lepidem vectari cum placet, hora
Sumitur ex libro: si prurit frictus ocelli
Angulus, inspecta genesi, collyria quaerit.

Will er nur bis zum nächsten Meilenzeiger
Verreisen, sieht er im Kalender nach,
Obs heut geheuer sei, und brennet ihm
Der, Augenwinkel, weil er ihn gerieben,
So konsultiert er die Nativität,
Ob eine Augensalb' ihm dienlich sei
[Juvenal, VI, 576.]

Wenn der Jüngling mir glauben will, so wird er zuweilen so gar ausschweifen. Sonst macht ihn der geringste Hieb über die Schnur unglücklich, und er wird unangenehm und unerträglich im Umgange. Die widerlichste Eigenschaft eines ehrlichen Mannes ist die Verzärtelung und die Gewohnheit an eine gewisse ausschließliche Lebensweise. Ausschließlich wird jede, welche nicht biegsam und gefügig ist. Man muß sich schämen, wenn man aus Unvermögen nicht mitmachen kann oder zu tun wagt, was die Genossen tun können.

Gesund oder krank habe ich immer gern die Gelüste befolgt, wovon ich mich gedrungen fühlte. Ich räume meinen Begierden und Verlangen ein großes Recht ein. Ich mag nicht gern Übel durch Übel heilen. Ich hasse die Mittel, welche beschwerlicher sind als die Krankheit. Wollte ich mich, weil ich mit Steinschmerzen geplagt hin, auch des Vergnügens berauben, Austern zu essen, so erlitte ich zwei Übel statt eines. Die Krankheit zwickt auf einer Seite und die Verordnung auf der andern. Da wir einmal das Wagestück bestehen, uns zu verrechnen, so wagen wir einmal etwas für das Vergnügen. Die Welt tut das Gegenteil, hält nichts für nützlich, was nicht weh tut, und was leicht wird, ist ihr verdächtig. Mein Appetit in verschiedenen Dingen hat sich glücklicherweise von selbst gefügt und sorgt für die Gesundheit meines Magens. In meiner Jugend fand ich viel Gefallen an scharfen und hochgewürzten Brühen. Da sich in der Folge mein Magen nicht damit vertragen wollte, veränderte sich alsobald auch mein Geschmack. Wein ist dem Kranken schädlich. Auch ist er das erste, womit sich mein Mund nicht vertragen kann und wovor er einen unüberwindlichen Ekel bekommt. Alles, was ich mit Widerwillen zu mir nehme, ist mir schädlich, und nichts ist mir undienlich, was ich mit Hunger und Wohlgeschmack genieße. Ich habe niemals Nachteil von einer Handlung gespürt, die mir viel Wohlbehagen verursacht hatte; und deshalb habe ich auch meinem Vergnügen alte medizinischen Verordnungen bei weitem nachgesetzt und mich von Jugend an ebenso leichtsinnig und unbedachtsam meinen Begierden und Verlangen überlassen wie irgend jemand.

Die Ärzte beugen gewöhnlich mit Nutzen ihre Vorschriften nach Heftigkeit der Begierden, welche ihren Kranken auf, stoßen. Die Begierde mag so befremdlich und tadelhaft sein als sich immer denken läßt, die Natur ist sicherlich im Spiele. Wieviel gewinnt man überdem dabei, wenn man die Einbildungskraft befriedigt? Nach meiner Meinung kommt alles darauf an, zum wenigsten mehr als auf alles übrige. Die drückendsten und häufigsten Übel sind diejenigen, womit die Einbildungskraft uns belastet. Aus vielen Ursachen gefällt mir das spanische Sprichwort: "Defienda me Dios de my." "Gott bewahre mich vor mir selbst." Bin ich krank, so tut mir's leid, wenn ich kein Gelüste habe, welches mir das Vergnügen machen könnte, es zu befriedigen. Es wird den Ärzten schwer werden, mich davon abzuhalten. Ebenso geht mir's, wenn ich gesund bin. Ich kenne nichts Besseres, als zu wollen und zu wünschen. Es ist Elend genug, wenn sogar die Wünsche schwach und matt werden.

Die Erfahrung hat mich auch noch dies gelehrt, daß wir uns durch Ungeduld zugrunde richten. Jedes Ungemach hat sein Leben und seine Grenzen, seine Krankheit und seine Gesundheit. Die Beschaffenheit der Krankheiten richtet sich nach der Beschaffenheit des tierischen Körpers. Ihre Dauer und Tageszeit ist ihnen von ihrem Ursprunge an vorgeschrieben. Wer es darauf anlegt, sie gewaltsamer, herrschsüchtigerweise abzukürzen und ihren Lauf zu hemmen, der verlängert, vervielfältigt und verbittert sie, anstatt sie zu beschwichtigen. Ich bin der Meinung Crantors, daß man sich den Übeln weder eigensinnig wie ein Wildfang widersetzen noch ihnen weichlich unterliegen, sondern ganz natürlich ihrer und unserer Beschaffenheit gemäß nachgeben müsse. Man muß. den Krankheiten ihren Weg offen lassen; und ich Ende, daß sie kürzer bei mir verweilen, weil ich sie ihren Gang gehen lasse. Ich habe einige von denen, welche man für die hartnäckigsten hält, von selbst verloren, ohne Hilfe und Kunst und gegen die gewöhnliche Regel. Laß doch die Natur sich selbst helfen. Sie versteht ihre Sache besser zu machen als wir. Dieser oder jener ist daran gestorben. Nun, euch wird's nicht besser gehen, wo nicht an dieser, doch an einer andern Krankheit. Wie viele sind nicht daran gestorben, ungeachtet sie drei Ärzte auf dem Halse hatten? Das Beispiel ist ein allgemeiner, trüglicher Spiegel, in welchem man alles erblickt. Ist etwas eine angenehme Medizin, so gebraucht solche. Sie ist immer ein gegenwärtiges Gut. Ich werde mich nie beim Namen noch bei der Farbe aufhalten, wenn sie wohlschmeckend und appetitlich ist. Das Vergnügen ist immer der hauptsächlichste Vorteil. Ich habe bei mir alt werden und eines natürlichen Todes sterben lassen. Schnupfen, Flüsse, Gicht, Durchlauf, Herzklopfen, Kopfschmerzen und andere Zufälle, die ich verloren, als ich schon bald darauf gefaßt war, sie zu ernähren. Man beschwört sie besser durch Höflichkeit als durch Trotz. Man muß die Schmerzen, die uns nach den Gesetzen unseres Zustandes überkommen, geduldig ertragen. Wir sind einmal da, um alt, schwach und krank zu werden, trotz aller Arznei. Es ist die erste Lehre, welche die Mexikaner ihren Kindern geben, wenn sie solche beim Austritt aus der Mutter Schoß folgendergestalt bewillkommen: Kind, du bist auf die Welt gekommen, um zu dulden; dulde, leide und schweig! Es ist ungerecht, sich zu beklagen, daß einem etwas überkommen sei, was jedem überkommen kann:

Indignare si quid in te inique proprie constitutum est.

Zürne, wenn ein Gesetz dich allein ungerecht behandelt.
[Seneca, Ep. 9 1 .]

Man sehe doch den Alten, welcher sein Gebet darauf richtet, der liebe Gott solle ihn bei völliger, kräftiger Gesundheit erhalten! Heißt das nicht soviel, er solle ihn wieder verjüngen?

Stulte, quid haec frustra votis puerilibus optas?

Tor, was wünschest du dieses umsonst in kindischen Wünschen?
[Ovid. Trist III, 8, 11]

Ist es nicht Torheit? Seine Verhältnisse erlauben es ja nicht. Zipperlein, Steinschmerzen, Magenschwäche sind die Begleiter von langen Jahren; wie Hitze, Regen und Winde die Begleiter langer Reisen sind. Plato glaubt nicht, daß Aesculap sich sehr darum bekümmert habe, ob er durch seine Vorschriften die Lebensdauer verdorbenen, geschwächi ten Körpern erhalten könne, die ihrem Vaterlande unnütz, unnütz für ihre Berufsgeschäfte und unnütz waren, gesunde und starke Kinder auf die Weit zu setzen, und findet diese Sorge der göttlichen Gerechtigkeit und Weisheit gemäß, welche alle Dinge zu nützlichen Zwecken leiten soll. Mein guter alter Mann, es ist vorbei. Man kann dir nicht wieder auf die Füße helfen. Höchstens kann man dich ein wenig aufpflastern, von neuem anschienen und dein Elend um ein paar Minuten verlängern:

Non secus instantem cupiens fulcire ruinam,
Diversis contra nititur objicibus,
Donec certa dies, omni compage soluta,
Ipsum cum rebus subruat auxilium.

Wie wenn einer das Haus, das naher Sturz dräut, zu stützen,
Ihm entgegendämmt Pfeiler und Strebegebälk;
Doch kommt einmal der Tag, der Bänder und Fugen zerstreut,
Fallen in einem Sturz Stützen und Streben zugleich.
[Pseudo-Gallus I, 171.]

Man muß ertragen lernen, was man nicht vermeiden kann. Unser Leben ist, wie die Harmonie der Welt aus widersprechenden Dingen, gleichfalls aus verschiedenen, langen und kurzen, hohen und tiefen, weichen und rauhen Tönen zusammengesetzt. Der Tonsetzer, welchem nur einige Tonarten gefielen, würde mit seiner Kunst nicht viel ausrichten. Er muß sich ihrer insgesamt zu bedienen und solche zu vermischen wissen.

Wenn du auch den Tod nicht umhalsest, gibst du ihm wenigstens einmal monatlich die Hand. Dadurch hast du um so mehr die Hoffnung, daß er dich einmal festhalten werde, ohne dir vorher gedroht zu haben, und weil du so oft schon bis an den Hafen gebracht bist und dich darauf verlässest, daß es immer auf die gewöhnliche Weise gehen werde, wirst du einmal an einem schönen Morgen, mit all deinem Vertrauen, hinübergeschifft sein, ohne zu wissen wie. Man darf sich über Krankheiten nicht beklagen, welche sich treu und ehrlich mit der Gesundheit in unsere Zeit teilen. Ich hin dem Schicksal verbunden, daß es mich so oft mit einerlei Art Waffen anfällt. Es macht mich durch die Gewohnheit damit bekannt, härtet mich dagegen ab und lehrt mich damit umgehen. Ich weiß jetzt ungefähr, wieviel es mich kosten wird. Da es mir am natürlichen Gedächtnisse mangelt, so mache ich mir eins von Papier. Und wie sich ein neuer Zufall bei meiner Krankheit äußert, schreibe ich ihn auf; woraus das entsteht, daß ich, indem ich zu dieser Frist beinahe alle Arten von Beispielen durchwandelt hin, in diesen kleinen Blättern, welche einzeln liegen, wie die sibyllinischen, herumsuche, wenn mich zuweilen ein Anfall anwandelt, und immer etwas finde, das mich durch meine vergangenen Erfahrungen mit einer günstigen Vorbedeutung tröstet. Auch dient mir die Gewohnheit, von der Zukunft immer das Beste zu hoffen.

Aber ist wohl etwas in der Welt so erquickend als die schnelle Veränderung, wenn sich nach den heftigsten Schmerzen durch die Ausleerung des Steins wie durch einen Blitzstrahl das schöne Licht der Gesundheit frei und hell wieder entzündet, wie es mir bei meinen überraschenden und äußerst heftigen Koliken widerfährt? Findet sich wohl etwas in diesen überstandenen Leiden, welches dem Vergnügen einer augenblicklichen Besserung das Gleichgewicht halten könnte? Wieviel scheint mir nach ausgestandener Krankheit die Gesundheit schöner, da beide sich so nahe wohnen, daß ich eine in Gegenwart der andern und in ihrem höchsten Staat, worin sie sich gern versetzen, als wollten sie sich Knippchen schlagen, wahrnehmen kann! Gerade wie die Stoiker sagten, die Laster wären nützlicherweise eingeführt, um die Tugend in Wert und solcher den Rücken zu halten, können wir mit größerem Recht und minder gewagter Vermutung sagen, die Natur habe die Schmerzen dem Menschen verliehen zur Ehre und zum Dienste der Wollust und Weichlichkeit.

Gott erzeigt denjenigen Gnade, welchen er das Leben bei kleinen Teilen entzieht. Das ist der einzige Vorteil des Alters. Der letzte Tod wird dadurch weniger schmerzhaft und gewaltsam. Er tötet alsdann nur einen halben oder Viertelmenschen. Da ist mir eben ein Zahn ohne Schmerz und Anstrengung ausgefallen. Das war das natürliche Ende seiner Dienstzeit. Dieser Teil meines Wesens und verschiedene andere sind bereits tot, andere halbtot, die mir sonst die tätigsten Dienste leisteten und in der Blüte meines Alters den vornehmsten Rang einnahmen. Auf diese Weise schwinde und schmelze ich nach und nach zusammen. Was für eine Narrheit meines Versstandes wäre es, diesen bereits so tief gesunkenen Fall noch so stark zu fühlen, als ob er mir aus seiner ganzen Höhe bevorstände. Das soll hoffentlich nicht geschehen. In der Tat macht es mir einen wichtigen Trost, zu denken, daß mein Tod ganz regelmäßig und natürlich sein wird und daß ich hinfort hierüber vom Schicksal eine außerordentliche Begünstigung weder zu verlangen noch zu erwarten habe.

Unter unseren Vergnügungen herrscht Neid und Eifersucht. Sie drängen und hindern sich, eine die andere. Alcibiades, ein Mann, der sich auf das Wohlleben gut verstand, verjagte selbst die Musik von den Tafeln, damit solche die Annehmlichkeit der Unterredung nicht störe; wenigstens legt ihm Plato folgende Ursache bei: es sei der Gebrauch gemeiner Seelen, Spielleute und Sänger zu ihren Festen zu rufen, weil es ihnen an gutem Gespräch und angenehmer Unterhaltung gebräche, womit Leute von Verstande sich aufzuheitern wüßten. Varro verlangt folgendes von einem Gastmahle: Eine Versammlung hübscher, wohlanständiger Personen, angenehm im Gespräch, weder stumm noch geschwätzig; Reinlichkeit und Geschmack in den Gerichten und Zimmern und schönes heiteres Wetter. Ein gut eingerichtetes Gastrnahl ist kein ungekünsteltes und an Wollust geringes Fest. Die größten Feldherrn noch die größten Philosophen haben es nicht unter ihrer Würde geachtet, Teil daran zu nehmen und sich darauf zu verstehen. Meine Einbildungskraft hat drei dergleichen meinem Gedächtnis aufzubewahren gegeben, welche mir das Glück in verschiedenen Zeiten meines blühenden Alters höchst angenehm machte. Mein gegenwärtiger Zustand schließt mich davon aus. Denn ein jeder trägt für sich hauptsächlich zur Anmut und Fröhlichkeit derselben bei, nach der Beschaffenheit des Körpers und der Seele, worin er sich eben befindet. Ich, der ich gerne hübsch an der Erde bleibe und hasse die unmenschliche Weisheit, welche uns zu Verächtern und Feinden der Pflege unsers Körpers machen will, ich halte es für ebenso ungerecht, allen natürlichen Vergnügungen zu zürnen als solche übermäßig zu lieben. Xerxes war ein Geck, daß er, von allen menschlichen Wollüsten umgeben, noch demjenigen Belohnungen aussetzte, welcher neue erfinden würde. Aber derjenige ist ebenso ein großer Geck, welcher sich diejenigen versagt, welche die Natur ihm gewährt. Man muß ihnen weder nachlaufen noch vor ihnen fliehen; man muß sie aufnehmen, wenn sie sich darbieten.

Die Natur hat mütterlich dafür gesorgt, daß die Handlungen, die sie uns zu unsern Bedürfnissen vorgeschrieben hat, auch mit unserm Vergnügen verbunden sind, und ladet uns nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch angenehme Reizungen dazu ein. Der handelt unbillig, welcher; ihre Vorschriften verdreht. Sehe ich, wie Cäsar und Alexander im stärksten Gedränge ihrer großen Beschäftigungen des höchsten Maßes der menschlichen und körperlichen Vergnügungen genießen, so sag' ich nicht, daß sie dadurch ihre Seele abspannen, sondern ich sage, daß sie solche abhärten, indem sie durch die Tapferkeit ihres Mutes dem Gebrauche des gewöhnlichen Lebens ihre gewaltigen Beschäftigungen und angestrengten Gedanken unterwerfen. Sie waren weise, weil sie glaubten, jenes sei ihr gewöhnlicher, dieses ihr ungewöhnlicher Beruf. Wir sind große Toren. Er hat, sagen wir, sein Leben im Müßiggange hingebracht: ich habe heute nichts getan. Wieso? Hast du nicht gelebt? Das ist nicht nur deine hauptsächlichste, sondern auch deine glänzendste Beschäftigung. Hätte man mir große Staatsgeschäfte anvertraut, so würde ich gezeigt haben, wozu ich imstande war. Hat man sein Leben zu bedenken und zu führen verstanden, so hat man seine größte Obliegenheit besorgt. Um sich zu zeigen und in ihr wahres Licht zu stellen, bedarf die Natur des Glückes nicht. Sie zeigt sich in allen Ständen gleich und so gut hinterm Vorhange, als wenn er aufgezogen ist. Hat man gewußt, sich Sittlichkeit vorzuschreiben, so hat man weit mehr getan als derjenige, welcher Bücher geschrieben hat. Hat man verstanden, sich Ruhe zu erwerben, so hat man mehr getan als der, welcher Städte und Reiche erworben hat.

Das herrlichste Meisterstück des Menschen ist, richtig zu leben. Alles übrige: als herrschen, Schätze sammeln, bauen, sind nur Zugaben und höchstens Nebendinge. Es macht mir Freude, einen Feldherrn zu sehen, welcher unfern von der Bresche, wo er in wenig Stunden Sturm laufen will, sich ganz unbefangen und als ob weiter nichts wäre, mit seinen Freunden zu Tische setzt und das Gespräch unterhält, und den Brutus, gegen welchen und die römische Freiheit sich Himmel Lind Erde verschworen, seiner Runde einige nächtliche Stunden entziehen zu sehen, um in aller Ruhe den Polybius zu lesen und auszuziehen. Nur kleine Seelen, welche unter der Last der Geschäfte begraben liegen, können sich nicht mit Leichtigkeit herauswickeln, verstehen es nicht, solche beiseite zu legen und wieder vorzunehmen:

O fortes pejoraque passi Mecum saepe viri! Nunc vino pellite curas: Cras ingens iterabimus aequor.

Brave Gefährten, mit mir härterer Schickungen Dulder,
Scheuchet die Sorgen durch Wein,
Morgen durchwallen wir das weite Meer!
[Horaz, Od. I, 4, 30.]

Sei es Schimpf oder Ernst, weswegen der theologische und sorbonnische Wein und deren Schmausereien zum Sprichworte geworden, so finde ich es doch billig, daß die geistlichen Herren darum fröhlichere und vergnügtere Mittagsmahlzeit halten, weil sie ihren Vormittag nützlich und ernsthaft zu Schulverrichtungen verwendet haben. Das Bewußtsein, die übrigen Stunden gut angewendet zu haben, ist eine schöne und schmackhafte Würze der Mahlzeit. So lebten die Weisen des Altertums. Und das unnachahmliche Streben nach Jugend, welches uns bei dem älteren und jüngeren Cato in Erstaunen setzt, ihre bis zur Übertreibung gehende Sittenstrenge, unterwarf sich den Gesetzen der Menschheit, der Venus und des Bacchus ohne Widerstreben und befolgte solche mit Wohlgefallen. So erheischten es die Vorschriften ihrer Seele, welche von dem Weisen verlangen, er soll vollkommen und ebenso weise und erfahren im Genusse der Vergnügungen als in allen übrigen Pflichten des Lebens sein:

Cui cor sapiat, ei et sapiat palatus.

Wer weisen Herzens ist, sei auch weisen Gaumens.
[Cicero, de fin. bon. II, 8.]

Die Größe der Seele besteht nicht sowohl darin, weit vorwärts und bergan zu gehen, als sich in die Umstände zu schicken und einzuschränken. Sie hält alles für groß, was hinlänglich ist. Sie beweist ihren Stolz dadurch, daß sie lieber die Mittelstraße hält als alle Höhen erklettert. Nichts ist so schön und lobenswürdig, als die Rolle des Menschen wohl und richtig zu spielen, noch eine Wissenschaft so schwer, als das Leben richtig zu leben, und keine Krankheit ist so verheerend als die Verachtung unseres eigenen Wesens.

Wer seine Seele von der Gemeinschaft seines Körpers lossagen will, der tue es kecklich, wenn er kann, während dem, daß der Körper sich übel befindet, damit er sie vor der Ansteckung bewahre. Sonst muß sie ihm im Gegenteile helfen, beistehen und begünstigen und sich nicht weigern, an seinen natürlichen Vergnügungen teilzunehmen, solche als Ehehälfte fröhlich mitzugenießen und wenn sie weiser ist, die Mäßigung derselben hinzuzufügen, damit sich solche nicht aus Unbesonnenheit, mit dem Mißvergnügen vermische. Unmäßigkeit ist eine Pest des wahren Genusses und Mäßigkeit nichts weniger als seine Plage. Sie ist vielmehr seine wahre Würze. Eudoxus, welcher das höchste Gut in dem Genuß sah, und seine Gefährten, die solchen in so hohem Wert hielten, fanden darin die süßeste Lieblichkeit vermittels der Mäßigung, welche bei ihnen außerordentlich und exemplarisch war.

Ich befehle meiner Seele, Schmerz und Wollust mit gleich gehaltenem Blick zu betrachten.

Eodem enim vitio est effusio in laetitia quo in dolore contractio.

Überspannung in der Freude und Abspannung im Schmerze sind beides Fehler.
[Cicero, Tusc. quaest. IV, 31.]

Und gleich unverwandt: nur den einen mit Freudigkeit und die andere mit Strenge; auch soviel an ihr ist, den einen mit gleicher Sorgfalt zu entfernen wie die andere auszudehnen. Richtige Beurteilung des Guten zieht die richtige Beurteilung des Bösen nach sich. Der Schmerz hat ebensowohl etwas Unvermeidliches in seinem zartesten Beginnen als die Lust etwas Vermeidliches in ihrer zu langen Dauer. Plato verbindet beide miteinander und verlangt, es zum gleichen Geschäft der Seelenstärke zu machen, sowohl gegen den Schmerz als gegen die ungemäßigten und bezaubernden Reize der Wollust anzukämpfen. Es sind zwei Quellen, aus welchen jeder, der daraus schöpft, wo, wann und wieviel ihm nötig ist, er sei Stadt, Mensch oder Tier, glückselig wird. Die erste muß man als Arznei und aus Not kärglich genießen, die andere aus Durst, aber nicht bis zum Rausch. Schmerz, Lust, Liebe und Haß sind die ersten Empfindungen eines Kindes. Wenn hernach die Vernunft tätig wird, werden ihr solche untergeordnet, und das ist Tugend. Es ist eine unbedingte und gleichsam göttliche Vollkommenheit, in richtigem Maße seines Wesens zu genießen. Wir trachten nach einem andern Zustande, weil wir den Gebrauch des unsrigen nicht verstehen, und verlassen uns selbst, weil wir nicht wissen, wozu wir fähig sind. Deswegen mögen wir auf noch so hohen Stelzen dahertreten, denn auch auf Stelzen müssen wir immer mit unsern Füßen stehen und den höchsten Thron der Welt einnehmen, wir sitzen doch stets auf unserm Gesäß. Das Leben ist nach meinem Dafürhalten das schönste, welches sich mit Ordnung unter das gemeine und menschliche Modell bringen läßt, ohne Wunderwerk und ohne Ausschweifung. Das hohe Alter bedarf freilich einer etwas zartern Behandlung. Laß uns solches dem Schutzgotte der Gesundheit und der Weisheit empfehlen, daß er es froh und gesellig erhalten möge!

Frui paratis et valido mihi,
Latoe, dones, et, precor, integra
Cum mente nec turpem senectam
Degere nec cithara carentem.

Was ich erworben, laß mich, Latonens Sohn,
Gesund genießen, reinen Geistes,
Gib mir ein fleckenloses Alter,
Von süßem Lautenton erheitert.

[Horaz, Od. I. 31, 17.]

(III, 13)