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Balthasar Gracians

(geb. 1606, gest. 1658)

Handorakel

Die Kunst der Weltklugheit - in dreihundert Lebensregeln

Regel 101-200



101
Die eine Hälfte der Welt lacht über die andere,

Narren sind sie alle. Alles ist gut und alles ist schlecht - wie es die Stimmen wollen. Was dieser wünscht, haßt jener. Ein unerträglicher Narr ist, wer alles nach seinen Begriffen ordnen will. Nicht von einem Beifall allein hängen Vollkommenheiten ab. So viele Sinne wie Köpfe, und so verschieden. Es gibt keinen Fehler, der nicht seinen Liebhaber fände, auch dürfen wir den Mut nicht verlieren, wenn unsere Sachen einigen nicht gefallen. Andere werden nicht ausbleiben, die sie zu schätzen wissen. Aber auch über den Beifall dieser darf man nicht eitel werden, denn wieder andere werden sie verwerfen. Die Richtschnur der wahren Zufriedenheit sei der Beifall berühmter Männer und solcher, die in dieser Gattung eine Stimme haben. Man lebt nicht von einer Stimme noch von einer Mode noch von einem Jahrhundert.

102
Für große Bissen des Glücks einen Magen haben

Am Leibe der Gescheitheit ist ein nicht unwichtiger Teil ein großer Magen, denn das Große besteht aus großen Teilen. Große Glücksfälle setzen den nicht in Verlegenheit, der noch größerer würdig ist. Was manchem schon Überfüllung, ist dem andern noch Hunger. Vielen gibt ein ansehnliches Gericht gleich Unverdaulichkeit wegen der Kleinheit ihrer Natur, die zu hohen Ämtern weder geboren noch erzogen ist: ihr Benehmen zeigt nachher oft eine gewisse Säure, die von der unverdienten Ehre aufsteigenden Dämpfe machen ihnen den Kopf schwindlig, wodurch sie an hohen Orten große Gefahr laufen. Sie möchten platzen, weil ihr Glück in ihnen keinen Raum findet. Dagegen zeige der große Mann, daß er noch viel Gelaß für größere Dinge habe, und mit besonderer Sorgfalt meide er alles, was Anzeichen von Kleinlichkeit geben könnte.

103
Jeder sei, in seiner Art, majestätisch

Wenn er auch kein König ist, müssen doch alle seine Handlungen, nach seiner Sphäre, eines Königs würdig sein und sein Tun, in den Grenzen seines Standes und Berufs, königlich. Erhaben seien seine Handlungen, von hohem Flug seine Gedanken und in allem seinem Treiben stelle er einen König an Verdienst, wenn auch nicht an Macht dar, denn das wahrhaft Königliche besteht in der Untadelhaftigkeit der Sitten. So wird der die Größe nicht beneiden dürfen, der ihr zum Vorbild dienen könnte. Besonders aber sollte denen, welche dem Throne näher stehn, etwas von der wahren Überlegenheit anhaften, und sie sollten lieber die wahrhaft königlichen Eigenschaften als ein eitles Zeremoniell sich anzueignen suchen, nicht eine leere Aufgeblasenheit affektieren, sondern das wesentlich Erhabene annehmen.

104
Den Ämtern den Puls gefühlt haben

Ihre mannigfaltige Verschiedenheit zu kennen, ist eine meisterliche Kunde, die Aufmerksamkeit verlangt. Einige erfordern Mut, andere scharfen Verstand. Leichter zu verwalten sind die, wobei es auf Rechtschaffenheit, und schwerer jene, wobei es auf Geschicklichkeit ankommt. Zu den ersteren gehört nichts weiter als ein redlicher Charakter; für diese hingegen reichen Aufmerksamkeit und Eifer allein nicht aus. Es ist eine mühsame Beschäftigung, Menschen zu regieren, vollends Narren oder Dummköpfe. Doppelten Verstand hat man nötig bei denen, die keinen haben. Unerträglich aber sind die Ämter, welche den ganzen Menschen in Anspruch nehmen zu gezählten Stunden und bei bestimmter Materie. Besser sind die, welche keinen Überdruß verursachen, da sie den Ernst mit Mannigfaltigkeit versetzen, denn Abwechslung muntert auf. Das größte Ansehen genießen die, wobei die Abhängigkeit geringer oder doch entfernter ist. Die schlimmsten aber sind die, derentwegen man in dieser und noch mehr in jener Welt schwitzen muß.

105
Nicht lästig sein

Kürze ist einnehmend und dem Geschäftsgang gemäßer. Sie ersetzt an Höflichkeit, was ihr an Ausdehnung abgeht. Das Gute, wenn kurz, ist doppelt gut; und selbst das Schlimme, wenn wenig, ist nicht so schlimm. Quintessenzen sind wirksamer als ein ganzer Wust. Auch ist es eine bekannte Wahrheit, daß weitläufige Leute selten von besonderem Verstande sind, was sich nicht sowohl im Materiellen der Anordnung wie im Formellen des Denkens zeigt. Es gibt Leute, die mehr als Hindernis denn zur Zierde der Welt da sind: unnütze Möbel, die jeder aus dem Wege rückt. Der Kluge hüte sich, lästig zu sein, zumal Großen gegenüber, da diese ein sehr beschäftigtes Leben führen. Es wäre schlimmer, einen von ihnen verdrießlich zu machen als die ganze übrige Welt. Gut Gesagtes ist bald gesagt.

106
Nicht mit seinem Glücke prahlen

Es ist beleidigender, mit Stand und Würde zu prunken als mit persönlichen Eigenschaften. Das Sich-breit-machen ist verhaßt, man sollte am Neide genug haben. Hochachtung erlangt man desto weniger, je mehr man darauf ausgeht. Sie hängt von der der Meinung anderer ab, weshalb man sie sich nicht nehmen kann, sondern sie von den andern verdienen und abwarten muß. Hohe Ämter erfordern ein ihrer Ausübung angemessenes Ansehn, ohne welches sie nicht würdig verwaltet werden können. Daher erhalte man ihnen die Ehre, die nötig ist, um seiner Pflicht nachkommen zu können. Man dringe nicht auf Ehrerbietung, wohl aber befördere man sie. Wer mit seinem Amte viel Aufhebens macht, verrät, daß er es nicht verdient hat und die Würde für seine Schultern zu viel ist. Wenn man sich geltend machen will, so sei es eher durch das Ausgezeichnete seiner Talente als durch zufallige Äußerlichkeiten. Selbst einen König soll man mehr wegen seiner persönlichen Eigenschaften ehren als wegen seiner äußerlichen Herrschaft.

107
Keine Selbstzufriedenheit zeigen

Man sei weder unzufrieden mit sich selbst, denn das wäre Kleinmut - noch selbstzufrieden, denn das wäre Dummheit. Die Selbstzufriedenheit entsteht meistens aus Unwissenheit und wird zu einer Glückseligkeit des Unverstandes, die zwar nicht ohne Annehmlichkeit sein mag, jedoch unserm Ruf und Ansehn nicht förderlich ist. Weil man die unendlich höheren Vollkommenheiten anderer nicht einzusehn imstande ist, wird man durch irgendein mittelmäßiges Talent in sich höchst befriedigt. Mißtrauen ist stets klug und überdies auch nützlich, entweder um dem üblen Ausgang der Sachen vorzubeugen, oder um sich, wenn er da ist, zu trösten, da ein Unglück den nicht überrascht, der es schon fürchtete. Auch Homer schläft zuzeiten, Alexander fiel von seiner Höhe und aus seiner Täuschung. Die Dinge hängen von gar vielerlei Umständen ab, und was an einer Stelle und bei einer Gelegenheit einen Triumph feierte, wurde bei einer anderen zur Schande. Inzwischen besteht die unheilbare Dummheit darin, daß leerste Selbstzufriedenheit zu voller Blüte aufgegangen ist und mit ihrem Samen immer weiter wuchert.

108
Sich gut zu gesellen verstehen, ist der kürzeste Weg, ein ganzer Mann zu werden.

Der Umgang ist von eingreifender Wirkung: Sitten und Geschmack teilen sich mit; die Sinnesart, ja sogar den Geist nimmt man, ohne es zu merken. Deswegen suche der Rasche sich dem Überlegten beizugesellen, und ebenso in den übrigen Sinnesarten, woraus ohne Gewaltsamkeit eine gemäßigte Stimmung hervorgehen wird. Es ist von Vorteil, sich nach dem anderen stimmen zu können. Das Wechselspiel der Gegensätze verschönert, ja erhält die Welt, und was es in der physischen Harmonie herbeiführt, wird es noch mehr in der moralischen. Man beobachte diese kluge Rücksicht bei der Wahl seiner Freunde und Diener, denn durch die Verbindung der Gegensätze wird man einen sehr gescheiten Mittelweg treffen.

109
Kein Ankläger sein

Es gibt Menschen von finsterer Gemütsart, die alles zum Verbrechen stempeln - nicht aus Leidenschaft, sondern von einem natürlichen Hange getrieben. Sie sprechen über jeden ihr Verdammungsurteil aus, über die einen für das, was sie getan haben, über die anderen für das, was sie tun werden. Es zeugt von einem grausamen, ja niederträchtigen Sinn; und sie klagen mit einer solchen Übertreibung an, daß sie aus Splittern Balken machen, die Augen damit auszustoßen. Überall sind die Zuchtmeister, die ein Elysium in eine Galeere umwandeln möchten. Kommt gar noch Leidenschaft hinzu, so treiben sie alles aufs äußerste. Demgegenüber weiß ein edles Gemüt für alles eine Entschuldigung zu finden, und wenn nicht ausdrücklich, so durch Nichtbeachtung.

110
Nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei

Es ist eine Regel der Klugen, die Dinge zu verlassen, ehe sie uns verlassen. Man wisse, aus seinem Ende selbst sich einen Triumph zu bereiten. Sogar die Sonne zieht sich oft, noch bei hellem Scheine, hinter eine Wolke zurück, damit man sie nicht versinken sehe und ungewiß bleibe, ob sie untergegangen sei oder nicht. Man entziehe sich zeitig den Unfällen, um nicht vor Beschämung vergehn zu müssen. Laßt uns nicht abwarten, daß die Welt uns den Rücken kehre und uns, noch im Gefühl lebendig, aber in der Hochachtung gestorben, zu Grabe trage. Der Kluge versetzt seinen Wettrenner bei Zeiten in den Ruhestand und wartet nicht ab, daß er, mitten auf der Rennbahn niederstürzend, Gelächter errege. Eine Schöne zerbreche schlau bei Zeiten ihren Spiegel, um es nicht später aus Ungeduld zu tun, wenn er sie aus ihrer Täuschung gerissen hat.

111
Freunde haben:

es ist ein zweites Dasein. Jeder Freund ist gut und weise für den Freund, und unter ihnen geht alles gut ab. Ein jeder gilt so viel, wie die andern wollen; damit sie aber wollen, muß man ihr Herz und dadurch ihre Zunge gewinnen. Kein Zauber ist mächtiger als erzeigte Gefälligkeit, und um Freunde zu erwerben, ist das beste Mittel, sich welche zu machen. Das Meiste und Beste, was wir haben, hängt von anderen ab. Wir müssen entweder unter Freunden oder unter Feinden leben. Jeden Tag suche man einen zu erwerben, nicht gleich zum engen, aber doch zum wohlwollenden Freund. Einige werden nachher, nachdem sie eine prüfende Wahl bestanden haben, als Vertraute zurückbleiben.

112
Sich Liebe und Wohlwollen erwerben;

sogar die erste und oberste Ursache läßt solche in ihre hohen Absichten eingehen und ordnet sie an. Durch Wohlwollen erlangt man günstige Meinung. Einige verlassen sich so sehr auf ihren Wert, daß sie die Erwerbung der Gunst verschmähen. Allein der Erfahrene weiß, daß der Weg der Verdienste ohne Mithilfe der Gunst sehr lang ist. Alles erleichtert und ergänzt das Wohlwollen. Nicht immer setzt es die guten Eigenschaften wie Mut, Redlichkeit, Gelehrsamkeit, sogar Klugheit voraus. Nein - es nimmt sie ohne weiteres als vorhanden an. Hingegen die garstigen Fehler sieht es nie, weil es sie nicht sehen will. Es entsteht aus der Übereinstimmung, und zwar gewöhnlich aus der materiellen: der Sinnesart, der Nation, der Verwandtschaft, des Vaterlandes und des Amtes; die formelle ist höherer Art: sie ist die der Talente, der Verbindlichkeiten, des Ruhms, der Verdienste. Die ganze Schwierigkeit besteht im Erwerben des Wohlwollens; es zu erhalten ist leicht. Es läßt sich aber erlangen, und man wisse es zu nutzen.

113
Im Glück aufs Unglück bedacht sein

Es ist eine gute Vorsorge, in Bequemlichkeit im Sommer für den Winter Vorrat zu sammeln. Zur Zeit des Glücks ist die Gunst wohlfeil und Überfluß an Freundschaften. Es ist gut, sie zu bewahren für die Zeit des Mißgeschicks, welche eine sehr teuere und von allem entblößte ist. Man erhalte sich einen Vorrat von Freunden und Verpflichteten; denn einst wird man hoch schätzen, was man jetzt nicht achtet. Gemeine Seelen haben im Glück keine Freunde; weil sie jetzt solche nicht kennen, werden diese dereinst im Unglück sie nicht kennen.

114
Nie ein Mitbewerber sein

Jeder Anspruch, dem andere sich entgegenstellen, schadet dem Ansehn; die Mitbewerber streben danach, uns zu verunglimpfen, um uns zu verdunkeln. Wenige Menschen führen auf eine redliche Art Krieg. Die Nebenbuhler decken die Fehler auf, welche die Nachsicht vergessen hatte. Viele standen in Ansehn, solange sie keine Nebenbuhler hatten. Die Hitze des Wettstreits ruft längst abgestorbenen Schimpf ins Leben zurück und gräbt die ältesten Stänkereien wieder aus der Erde. Die Mitwerbung hebt an mit einem Manifest von Verunglimpfungen und nimmt: nicht, was sie darf, sondern was sie kann, zu Hilfe. Und wenngleich oft, ja meistens die Waffen der Herabsetzung nicht zum Zwecke führen, so suchen durch solche die Gegner wenigstens die niedrige Befriedigung der Rache, und schütteln sie dermaßen in der Luft, daß von beschämenden Unfällen der Staub der Vergessenheit herabfliegt. Stets waren die Wohlwollenden friedlich und die Leute von Ruf und Ansehn wohlwollend.

115
Sich an die Charakterfehler seiner Bekannten gewöhnen,

eben wie an häßliche Gesichter. Es ist unerläßlich, wo Verpflichtungen uns an sie knüpfen. Es gibt schreckliche Charaktere, mit welchen man nicht leben kann; jedoch ohne sie nun auch nicht. Dann ist es geschickt, sich an sie wie an häßliche Gesichter allmählich zu gewöhnen, damit man nicht bei irgendeiner unvorhergesehenen Gelegenheit ganz aus der Fassung gerate. Das erstemal erregen sie Entsetzen, nach und nach verlieren sie an Scheußlichkeit, und die Überlegung weiß Unannehmlichkeiten vorzubeugen oder sie zu ertragen.

116
Sich nur mit Leuten von Ehr- und Pflichtgefühl abgeben

Nur mit solchen kann man gegenseitige Verpflichtungen eingehen. Ihre eigene Ehre ist der beste Bürge für ihr Benehmen, sogar bei Mißhelligkeiten. Sie handeln stets mit Rücksicht auf ihre Würde, und so ist ein Streit mit rechtlichen Leuten besser als ein Sieg über unrechtliche. Mit Verworfenen gibt es keinen sicheren Umgang, weil sie keinen Sinn für Rechtlichkeit besitzen; daher gibt es unter solchen auch keine wahre Freundschaft. Ihre Freundschaftsbezeugungen sind nicht echt, wenn sie es gleich scheinen, weil kein Ehrgefühl sie bekräftigt. Leute, denen dieses fehlt, halte man immer von sich ab. Wer die Ehre nicht hochhält, hält auch die Tugend nicht hoch, da die Ehre der Thron der Rechtlichkeit ist.

117
Nie von sich reden

Entweder man lobt sich, was Eitelkeit, oder man tadelt sich, was Kleinmut ist; und wie es des Sprechers Unklugheit verrät, so ist es für den Hörer peinlich. Wenn nun dieses schon im gewöhnlichen Umgang zu vermeiden ist, wie viel mehr auf einem hohen Posten, wo man zu vielen redet und wo der geringste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gilt. Der gleiche Verstoß gegen die Klugheit liegt im Reden über Anwesende wegen der Gefahr, auf eine von zwei Klippen zu stoßen: Schmeichelei oder Tadel.

118
Den Ruf der Höflichkeit erwerben:

er ist hinreichend, um beliebt zu sein. Die Höflichkeit ist ein Hauptteil der Bildung und ist eine Art Hexerei, welche die Gunst aller erobert, wie im Gegenteil Unhöflichkeit allgemeine Verachtung und Widerwillen erregt: wenn aus Stolz entspringend, ist sie abscheulich; wenn aus Grobheit, verächtlich. Die Höflichkeit sei allemal eher zu groß als zu klein, jedoch nicht gleich gegen alle, wodurch sie zur Ungerechtigkeit würde. Zwischen Feinden ist sie Schuldigkeit, damit man seinen Wert zeige. Sie kostet wenig und hilft viel; jeder Verehrer ist geehrt. Höflichkeit und Ehre haben vor anderen Dingen dies voraus, daß sie bei dem, der sie erzeigt, bleiben.

119
Sich nicht verhaßt machen

Man rufe nicht den Widerwillen hervor, denn auch ungesucht kommt er gar bald von selbst. Viele verabscheuen aus freien Stücken, ohne zu wissen wofür oder warum. Ihr Übelwollen kommt selbst unsrer Zuvorkommenheit zuvor. Die Gehässigkeit unsrer Natur ist tätiger und rascher zum fremden Schaden, als die Begehrlichkeit derselben zum eigenen Vorteil. Einige gefallen sich darin, mit allen auf schlechtem Fuß zu sein, weil sie Überdruß empfinden oder erregen. Hat einmal der Haß Wurzel gefaßt, so ist er, wie der schlechte Ruf, schwer auszurotten. Leute von hohem Verstande werden gefürchtet, die von böser Zunge verabscheut, die Anmaßenden sind zum Ekel, die Spötter ein Greuel, die Sonderlinge läßt man stehn. Demnach bezeuge man Hochachtung, um solche zu ernten, und bedenke, daß Geschätztsein ein Schatz ist.

120
Sich in die Zeiten schicken

Sogar das Wissen muß nach der Mode sein, und da, wo es nicht Mode ist, besteht es gerade darin, daß man den Unwissenden spielt. Denkungsart und Geschmack ändern sich nach den Zeiten. Man denke nicht altmodisch und habe einen modernen Geschmack. Der Geschmack der Mehrzahl hat jedenfalls eine geltende Stimme: man muß ihm also für jetzt folgen und ihn zu höherer Vollkommenheit weiterzubringen suchen. Der Kluge passe sich im Schmuck des Geistes wie des Leibes der Gegenwart an, auch wenn ihm die Vergangenheit besser schiene. Bloß von der Güte des Herzens gilt diese Lebensregel nicht, denn zu jeder Zeit soll man die Tugend üben. Man will heutzutage nichts von ihr wissen: die Wahrheit reden oder sein Wort halten scheinen Dinge aus einer anderen Zeit. So scheinen auch die guten Leute noch aus der guten alten Zeit zu sein, sind aber doch noch beliebt. Wenn es überhaupt noch solche gibt, so sind sie nicht in der Mode und werden nicht nachgeahmt. 0 unglückseliges Jahrhundert, wo die Tugend fremd und die Schlechtigkeit an der Tagesordnung ist! - Der Kluge lebe, wie er kann, wenn nicht, wie er zu leben wünschte, und halte, was ihm das Schicksal zugestand, für wertvoller, als was es ihm versagte.

121
Nicht eine Angelegenheit aus dem machen, was keine ist

Wie manche aus allem eine Klatscherei machen, so andere aus allem eine Angelegenheit. Immer sprechen sie mit Wichtigkeit, alles nehmen sie todernst und machen eine Streitigkeit oder eine geheimnisvolle Sache daraus. Verdrießlicher Dinge darf man sich nur selten ernsthaft annehmen, denn sonst würde man sich zur Unzeit in Verwicklungen bringen. Es ist sehr verkehrt, wenn man sich das zu Herzen nimmt, was man in den Wind schlagen sollte. Viele Sachen, die wirklich etwas waren, wurden zu nichts, weil man sie ruhen ließ; und aus andern, die eigentlich nichts waren, wurde viel, weil man sich ihrer annahm. Anfangs läßt sich alles leicht beseitigen, späterhin nicht. Oft bringt die Arznei die Krankheit hervor. Und nicht die schlechteste Lebensregel ist - ruhen lassen.

122
Im Reden und Tun etwas Imponierendes haben

Dadurch setzt man sich allerorten bald in Ansehn und hat die Achtung vorweg gewonnen. Es zeigt sich in allem, im Umgange, im Reden, im Blick, in den Neigungen, sogar im Gange. Wahrlich, ein großer Sieg, sich der Herzen zu bemeistern. Es entsteht nicht aus einer dummen Dreistigkeit, noch aus einem übellaunigen Wesen bei der Unterhaltung, sondern es beruht auf einer wohlgeziemenden Autorität, die aus natürlicher, von Verdiensten unterstützter Überlegenheit hervorgeht.

123
Ohne Affektation sein

Je mehr Talente man hat, desto weniger affektiere man sie; denn solches wäre deren gemeinste Verunstaltung. Die Affektation ist den andern so widerlich, wie dem, der sie treibt, peinlich: denn er ist ein Märtyrer der darauf zu verwendenden Sorgfalt und quält sich mit pünktlicher Aufmerksamkeit ab. Die augezeichnetesten Eigenschaften büßen durch Affektation ihr Verdienst ein, weil sie jetzt mehr durch Kunst erzwungen, als aus der Natur hervorgegangen scheinen. Überall gefällt das Natürliche mehr als das Künstliche. Es liegt nahe, daß dem Affektierenden die Vorzüge, welche er affektiert, fremd sind. Je besser man eine Sache macht, desto mehr muß man die darauf verwandte Mühe verbergen, um diese Vollkommenheit als etwas ganz aus unserer Natur Entspringendes erscheinen zu lassen. Auch soll man nicht aus Furcht vor Affektation gerade in diese geraten, indem man das Unaffektiertsein affektiert. Der Kluge wird nie seine eigenen Vorzüge zu kennen scheinen, denn gerade dadurch, daß er sie nicht beachtet, werden andere darauf aufmerksam. Doppelt bedeutend ist der, welcher alle Vollkommenheit in sich, aber keine in seiner eigenen Meinung hat. Er gelangt auf einem entgegengesetzten Pfade zum Ziel des Beifalls.

124
Es dahin bringen, daß man zurückgewünscht wird

Eine so große Gunst bei den Leuten erwerben wenige; wenn gar bei gescheiten Leuten, dann ist es ein großes Glück. Gegen Abtretende ist Lauheit gewöhnlich. Jedoch gibt es Wege, sich jenen Lohn der allgemeinen Liebe zu erwerben. Ein ganz sicherer ist, daß man in seinem Amte und durch seine Talente ausgezeichnet sei, auch einnehmendes Betragen tut viel. Durch dies alles macht man seine Vorzüge unentbehrlich, und es wird merklich, daß das Amt unserer bedurfte, nicht wir des Amtes. Einigen macht ihr Posten Ehre; andere ihm. Das aber ist kein Ruhm, wenn ein schlechter Nachfolger uns vortrefflich macht, denn das heißt nicht, daß wir schlechthin zuruckgewünscht werden, sondern nur, daß jener verabscheut wird.

125
Kein Sündenregister sein

Sich anderer Schande angelegen sein lassen ist ein Zeichen, daß man selbst schon einen befleckten Ruf hat. Einige möchten mit dem fremden Flecken die ihrigen zudecken oder gar abwaschen; oder sie suchen einen Trost darin, der aber ein Trost für den Unverstand ist. Einen übelriechenden Atem haben die, welche die Kloake des Schmutzes der ganzen Stadt sind. Wer in Dingen dieser Art am meisten wühlt, wird sich am meisten besudeln. Wenige werden ohne irgendeinen Fehler sein, er liege nun hier oder dort; aber die Fehler wenig bekannter Leute sind nicht bekannt. Der Aufmerksame hüte sich, ein Sündenregister zu werden: denn das heißt ein verabscheuter Patron sein, herzlos, wenn auch lebendig.

126
Dumm ist nicht, wer eine Dummheit begeht; sondern wer sie nachher nicht zu bedecken versteht

Seine Neigungen soll man unter Siegel halten, noch viel mehr seine Fehler. Alle Menschen begehen Fehltritte, jedoch mit dem Unterschiede, daß die Klugen die begangenen verhehlen, die Dummen aber die, welche sie erst begehen wollen, schon zum voraus verleugnen. Unser Ansehn beruht auf dem Geheimhalten mehr als auf dem Tun. Die Verirrungen großer Männer sind anzusehen wie die Verfinsterungen der großen Weltlichter. Sogar in der Freundschaft sei es eine Ausnahme, daß man seine Fehler dem Freunde anvertraut; ja, sich selber sollte man sie, wenn es sein könnte, verbergen: doch kann man sich hiebei mit jener andern Lebensregel helfen, welche heißt: vergessen können.

127
Edle, freie Unbefangenheit bei allem

Dies ist das Leben der Talente, der Atem der Rede, die Seele des Tuns, die Zierde der Zierden. Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unserer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheit selbst. Sogar im Denken wird sie sichtbar. Sie am allermeisten ist ein Geschenk der Natur und dankt am wenigsten der Bildung; denn selbst über die Erziehung ist sie erhaben. Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit. Sie setzt Ungezwungenheit voraus und setzt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit tot, alle Grazie unbeholfen; sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, über Majestät. Sie ist ein feiner Richtweg, die Geschäfte abzukürzen oder auf eine edle Art aus jeder Verwicklung zu kommen.

128
Hoher Sinn:

eines der ersten Erfordernisse für einen Helden, weil er für Größe jeder Art entflammt. Er verbessert den Geschmack, erweitert das Herz, steigert die Denkkraft, veredelt das Gemüt und erhöht das Gefühl der Würde. Bei wem auch immer er sich finden mag, erhebt er strebend das Haupt, und wenn auch bisweilen ein mißgünstiges Schicksal sein Streben vereitelt, so bricht er durch, um zu strahlen, und verbreitet sich über den Willen, da ihm das Können gewaltsam genommen ist. Großmut, Edelmut und jede heldenmäßige Eigenschaft erkennen in ihm ihre Quelle.

129
Nie sich beklagen

Klagen schadet stets unserem Ansehen. Es dient leichter, der Leidenschaftlichkeit anderer ein Beispiel der Verwegenheit in die Hand zu geben, als uns den Trost des Mitleids zu verschaffen, denn dem Zuhörer zeigt es den Weg zu eben dem, worüber wir klagen, und die Kunde der ersten Beleidigung ist die Entschuldigung der zweiten. Einige geben durch ihre Klagen über erlittenes Unrecht zu neuem Anlaß, und indem sie Hilfe oder Trost suchen, erregen sie Schadenfreude und sogar Verachtung. Viel politischer ist es, die von einem erhaltenen Gunstbezeugungen dem anderen zu rühmen, um ihn zu ähnlichen zu verpflichten. Indem wir der Verbindlichkeiten erwähnen, welche wir gegen die Abwesenden fühlen, fordern wir die Anwesenden auf, sich eben solche zu erwerben, und verkaufen dergestalt das Ansehn, in welchem wir bei dem einen stehen, dem andern. Nie also wird der Aufmerksame erlittene Unbilden oder eigene Fehler bekannt machen, wohl aber die Hochschätzung, deren er genießt: dadurch hält er seine Freunde fest und seine Feinde in den Schranken.

130
Tun und sein lassen

Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind, sondern für das, was sie scheinen. Wert haben und ihn zu zeigen verstehn, heißt zweimal Wert haben. Was nicht gesehn wird, ist, als ob es nicht wäre. Das Recht selbst kann seine Achtung nicht erhalten, wenn es nicht auch als Recht erscheint. Viel größer ist die Zahl der Getäuschten als die der Einsichtigen. Der Betrug herrscht vor, und man beurteilt die Dinge von außen; viele aber sind weit verschieden von dem, was sie scheinen. Eine gute Außenseite ist die beste Empfehlung der inneren Vollkommenheit.

131
Adel des Gemüts

Es gibt eine Großherzigkeit der Seele, einen Edelmut des Geistes, dessen schöne Äußerungen den Charakter in das glänzendste Licht stellen. Dieser Adel des Gemüts ist nicht jedermanns Sache, denn er setzt Geistesgröße voraus. Seine erste Aufgabe ist, gut vom Feinde zu reden und noch besser an ihm zu handeln. Im größten Glanz erscheint er bei den Gelegenheiten zur Rache: diese läßt er sich nicht etwa entgehn, sondern er verbessert sie sich, indem er, grade wenn er recht siegreich ist, sie zu einer unerwarteten Großmut benutzt. Und dabei ist er doch politisch, ja sogar ein Schmuck der Staatsklugheit: nie affektiert er Siege, weil er nichts affektiert. Erlangt er jedoch einen Sieg, so verhehlt ihn sein Edelmut.

132
Zweimal überlegen

An Revision appellieren gibt Sicherheit; zumal wenn man mit einer Sache nicht ganz im klaren ist, gewinne man Zeit, um entweder einzuwilligen oder sich zu verbessern. Es bieten sich neue Gründe dar, die Beschlüsse zu bekräftigen und zu bestätigen. Handelt sich's ums Geben, so wird die Gewißheit, daß die Gabe mit Überlegung verliehen sei, sie werter machen als die Freude über die Schnelligkeit, denn das lang Ersehnte wird immer am höchsten geschätzt. Muß man hingegen verweigern, so gewinnt man Zeit für die Art und Weise, auch das Nein zur Reife zu bringen, so daß es weniger herb schmecke. Wozu noch kommt, daß, wenn die erste Hitze des Begehrens vorüber ist, nachher, bei kaltem Blut, das Zurücksetzende einer Weigerung weniger empfunden wird. Dem aber, der plötzlich und eilig bittet, soll man spät bewilligen, denn jenes ist eine List, die Aufmerksamkeit zu überraschen.

133
Besser mit allen ein Narr, als allein gescheit,

sagen politische Köpfe. Denn, wenn alle es sind, steht man hinter keinem zurück. Steht aber der Gescheite allein, gilt er als der Narr. So wichtig ist es, dem Strom zu folgen. Bisweilen besteht das beste Wissen im Nichtwissen oder in der Affektation desselben. Man muß mit den übrigen leben, und die Unwissenden sind in der Mehrzahl. Um allein zu leben, muß man einem Gotte oder einem Tier ähnlich sein. Doch möchte ich den Aphorismus ummodeln und sagen: besser mit den übrigen gescheit als allein ein Narr. Es gibt einige, die Originalität in Schimären suchen.

134
Die Erfordernisse des Lebens doppelt besitzen:

dadurch verdoppelt man sein Dasein. Man soll nicht von einer Sache abhängig, noch auf eine beschränkt sein, so außerordentlich sie auch sein möchte. Alles soll man doppelt haben, besonders die Ursachen des Fortkommens, der Gunst, des Genusses. Die Wandelbarkeit des Mondes ist überschwenglich, und sie bietet ein Bild alles Bestehenden, zumal aber der Dinge, die vom menschlichen Willen abhängen, der ein gar gebrechlich Ding ist. Gegen diese Gebrechlichkeit schütze man sich durch etwas im Vorrat, und mache es zu einer Haupt-Lebensregel, die Veranlassungen des Guten und Bequemen doppelt zu haben. Wie die Natur die wichtigsten und ausgesetztesten Glieder uns doppelt verlieh, so mache die Kunst es mit dem, wovon wir abhängen.

135
Keinen Widerspruchsgeist hegen:

denn er ist dumm und widerlich. Man rufe seine ganze Klugheit dagegen auf. Wohl zeugt es bisweilen von Scharfsinn, daß man bei allem Schwierigkeiten entdeckt; allein der Eigensinn hierbei entgeht nicht dem Vorwurf des Unverstandes. Solche Leute machen aus der sanften, angenehmen Unterhaltung einen kleinen Krieg, und sind so mehr die Feinde ihrer Vertrauten als derer, die nicht mit ihnen umgehen. Im wohlschmeckendsten Bissen fühlt man am meisten die Gräte, die ihn durchbohrt, und so ist der Widerspruch zur Zeit der Erholung. Solche Leute sind unverständig, verderblich, sind Tiere, ebenso wild wie dumm.

136
Sich in die Materie vertiefen

und den Geschäften gleich den Puls fühlen. Viele verirren sich in den Verzweigungen eines unnützen Überlegens oder auf dem Laubwerk einer ermüdenden Redseligkeit, ohne das Wesen der Sache zu treffen. Sie gehen hundertmal um einen Punkt herum, ermüden sich und andere, kommen jedoch nie auf die eigentliche Hauptsache. Dies entsteht aus einem verworrenen Begriffsvermögen, das sich nicht zu entwickeln vermag. Sie verderben Zeit und Geduld mit dem, was sie sollten liegen lassen, und beide fehlen ihnen nachher für das, was sie liegen gelassen haben.

137
Der Weise sei sich selbst genug

Diogenes, der sich selbst alles in allem war, hatte als er sich selbst davontrug, alles Seinige bei sich. Wenn ein universeller Freund Rom und die ganze übrige Welt zu sein vermag, so sei man sich selbst dieser Freund, dann wird man allein zu leben imstande sein. Wen wird ein solcher Mann vermissen, wenn es keinen größeren Verstand und keinen richtigeren Geschmack als den seinigen gibt? Dann wird er nur mehr von sich selbst abhängen, wird in nichts dem Tiere, in vielem dem Weisen und in allem Gott ähnlich sein. (Vgl. Nr. 133)

138
Kunst, die Dinge ruhen zu lassen,

um so mehr, je wütender die Wellen des öffentlichen und häuslichen Lebens toben. Im Treiben des menschlichen Lebens gibt es Strudel und Stürme der Leidenschaften: dann ist es klug, sich in einen sicheren Hafen zurückzuziehen. Oft verschlimmern die Mittel das Übel; darum lasse man hier dem Physischen, dort dem Moralischen seinen freien Lauf. Der Arzt braucht gleichviel Wissenschaft zum Nichtverschreiben wie zum Verschreiben, und oft besteht die Kunst gerade in Nichtanwendung der Mittel. Um die Strudel im großen Haufen zu beruhigen, ziehe man die Hand zurück; sie werden sich von selbst legen. Ein zeitiges Nachgeben für jetzt sichert den Sieg in der Folge. Eine Quelle wird durch eine kleine Störung getrübt, und wird nicht, indem man darin herumrührt, wieder helle, sondern indem man sie sich selbst überläßt. Gegen Zwiespalt und Verwirrung ist das beste Mittel, sie ihren Lauf nehmen zu lassen, denn so beruhigen sie sich von selbst.

139
Die Unglückstage kennen

Es gibt dergleichen: an solchen geht nichts gut, und ändert sich auch das Spiel, doch nicht das Mißgeschick. Auf zwei Würfen muß man die Probe gemacht haben und sich zurückziehen, je nachdem man merkt, ob man seinen Tag hat oder nicht. Alles, sogar der Verstand, ist dem Wechsel unterworfen, und keiner ist zu jeder Stunde klug; es gehört Glück dazu, richtig zu denken wie auch einen Brief gut abzufassen. Alle Vollkommenheiten hängen von Zeitperioden ab; die Schönheit hat nicht immer ihren Tag, die Klugheit versagt ihren Dienst, indem wir den Sachen bald zu wenig, bald zu viel tun: alles muß eben, um gut auszufallen, seinen Tag haben. Ebenso gelingt auch einigen alles schlecht, andern alles gut und mit geringerer Anstrengung. Diese finden alles schon gemacht, der Geist ist aufgelegt, das Gemüt in der besten Stimmung und der Glücksstern leuchtet. Dann muß man seinen Vorteil wahrnehmen und auch nicht das Geringste davon verlorengehen lassen. Jedoch wird ein Mann von Überlegung nicht wegen eines Unfalls einen Tag entschieden für schlecht oder im umgekehrten Fall für gut erklären; denn jenes konnte ein kleiner Verdruß, dieses ein glücklicher Zufall sein.

140
Gleich das Gute in jeder Sache finden,

das ist das Glück des guten Geschmacks. Die Biene geht gleich zur Süßigkeit für ihre Honigscheibe und die Schlange zur Bitterkeit für ihr Gift. So wendet sich auch der Geschmack der einen gleich zum Guten, der anderer sofort zum Schlechten hin. Es gibt nichts, woran nicht etwas Gutes wäre, zumal bei einem Buch als einem Werk der Überlegung. Allein manche sind von einer so unglücklichen Sinnesart, daß sie unter tausend Vollkommenheiten sogleich den einzigen Fehler herausfinden, diesen nun tadeln und unentwegt davon reden. Als wahre Aufsammler aller Auswürfe des Willens und des Verstandes anderer häufen sie Register von Fehlern auf, was mehr eine Strafe ihrer schlechten Wahl als eine Beschäftigung ihres Scharfsinnes ist. Sie haben ein trauriges Leben davon, indem sie stets am Bitteren zehren und Mangel ihre Leibspeise sind. Glücklicher ist der Geschmack anderer, die unter tausend Fehlern gleich auf das einzige Gute darunter treffen.

141
Nicht sich zuhören

Sich selber gefallen hilft wenig, wenn man den anderen nicht gefällt. Meistens straft die allgemeine Geringschätzung die selbsteigene Zufriedenheit. Wer sich selber so sehr genügt, wird es nie den anderen. Reden und zugleich selbst zuhören wollen, geht nicht wohl; und wenn mit sich allein zu reden eine Narrheit ist, so ist es eine doppelte, sich noch vor anderen zuhören zu wollen. Es ist eine Schwäche großer Herren, mit dem Grundbaß von "Ich sage etwas" zu reden, zur Marter der Zuhörer; bei jedem Satz horchen sie nach Beifall oder Schmeichelei und treiben die Geduld der Klugen aufs Äußerste. Auch pflegen die Aufgeblasenen unter Begleitung eines Echos zu reden, und indem ihre Unterhaltung auf dem Kothurn des Dünkels einherschreitet, ruft sie bei jedem Worte die widerliche Hilfe eines dummen "Wohl gesprochen" auf.

142
Nie aus Eigensinn sich auf die schlechtere Seite stellen, weil der Gegner sich bereits auf die bessere gestellt hat

Denn sonst tritt man schon besiegt auf den Kampfplatz und wird daher notwendig mit Schimpf und Schande abziehen müssen; mit schlechten Waffen wird man nie gut kämpfen. Im Gegner war es Schlauheit, daß er in der Erwählung des Besseren den Vorsprung gewann, im andern aber Dummheit, daß er, um sich ihm entgegenzustellen, jetzt das Schlechtere ergriff. Dergleichen Eigensinn in Taten bringt tiefer in die Klemme als der in Worten, da mehr Gefahr beim Tun als beim Reden ist. Die Eigensinnigen zeigen ihre Gemeinheit darin, daß sie der Wahrheit zum Trotz streiten und ihrem eigenen Nutzen zum Trotz prozessieren. Der Kluge stellt sich nie auf die Seite der Leidenschaft, sondern immer auf die des Rechtes, sei es, daß er gleich anfangs als der Erste dahin getreten, oder erst als der Zweite, indem er sich eines Besseren bedachte. Ist, im letzteren Fall, der Gegner dumm, so wird er, sich jetzt im obigen Falle befindend, nun seinen Weg ändern und auf die entgegengesetzte, folglich schlechtere Seite treten. Und ihn also vom Bessern wegzutreiben, ist das einzige Mittel, es selbst zu ergreifen: denn aus Dummheit wird er es fahren lassen, und durch diesen Eigensinn wird der andere seiner entledigt.

143
Nicht aus Besorgnis, trivial zu sein, paradox werden

Beide Extreme schaden unserem Ansehen. Jedes Unterfangen, das der Gesetztheit zuwiderläuft, ist schon der Narrheit verwandt. Das Paradoxon ist gewissermaßen ein Betrug, indem es anfangs Beifall findet, weil es durch das Neue und Pikante überrascht; allein, wenn nachher die Täuschung schwindet und die Blößen offenbar werden, nimmt es sich sehr übel aus. Es ist eine Art Gaukelei und in Staatsangelegenheiten der Ruin des Staates. Die, welche nicht auf dem Wege der Trefflichkeit es zu wahrhaft großen Leistungen bringen können, oder sich nicht daran wagen, verlegen sich auf das Paradoxe. Von den Toren werden sie bewundert, aber kluge Leute werden an ihnen zu Propheten. Das Paradoxe beweist eine Verschrobenheit der Urteilskraft; und wenn es sich bisweilen auch nicht auf das Falsche gründet, dann doch auf das Ungewisse zur großen Gefahr wichtiger Angelegenheiten.

144
Mit der fremden Angelegenheit auftreten, um mit der seinigen abzuziehen:

das ist ein schlaues Mittel zum Zweck; sogar in den Angelegenheiten des Himmels schärfen christliche Lehrer den Gebrauch dieser List ein. Es ist eine wichtige Verstellung, denn der vorgehaltene Vorteil dient als Lockspeise, den fremden Willen zu leiten; diesem scheint seine Angelegenheit betrieben zu werden, und doch ist sie nur da, fremdem Vorhaben den Weg zu öffnen. Man soll nie unüberlegt vorwärts schreiten, am wenigsten, wo der Grund gefährlich ist. Bei Leuten, deren erstes Wort Nein zu sein pflegt, ist es ratsam, diesem Schuß vorzubeugen und ihnen die Schwierigkeit des verlangten Zugeständnisses zu verbergen; noch viel mehr aber, wenn sie gar die Umgestaltung schon vorausahnen. - Dieser Rat gehört zu denen der "zweiten Absicht" (Nr. 13).

145
Nicht den schlimmen Finger zeigen,

denn sonst trifft alles dahin; nicht über ihn klagen: denn immer klopft die Bosheit dahin, wo es der Schwäche weh tut. Sich zu erzürnen, würde zu nichts dienen, als den Spaß der Unterhaltung zu erhöhen. Die böse Absichtlichkeit schleicht umher, nach Gebrechen suchend, die sie aufdecken könnte, sie schlägt mit Ruten, die Empfindung zu prüfen, und wird den Versuch tausendmal machen, bis sie die wunde Stelle gefunden hat. Der Aufmerksame zeige nie, daß er getroffen sei, und decke sein persönliches oder erbliches Übel niemals auf. Denn sogar das Schicksal selbst findet zuweilen Gefallen daran, uns grade da zu berühren, wo es am meisten wehe tut. Stets treffen seine Schläge auf die wunde Stelle. Daher offenbare man weder, was schmerzt, noch was erfreut, damit das eine ende, das andere verharre.

146
Ins Innere schauen

Man findet meistenteils die Dinge weit verschieden von dem, was sie schienen. Die Unwissenheit, welche nicht tiefer als die Rinde eingedrungen war, sieht, wenn man zum Innern gelangt, ihre Täuschung schwinden. In allem geht stets die Lüge voran, die Dummköpfe hinter sich ziehend am Seil ihrer unheilbaren Verblendung; die Wahrheit kommt immer zuletzt, langsam dahinhinkend am Arm der Zeit; für sie bewahren daher die Klugen die andere Hälfte jener Fähigkeit auf, deren Werkzeug unsere gemeinsame Mutter uns weislich doppelt verliehen hat. Der Trug ist etwas sehr Oberflächliches: daher treffen, die es selbst sind, gleich auf ihn. Das Wahre und Richtige aber lebt tief zurückgezogen und verborgen, um desto höher geschätzt zu werden von den Weisen und Klugen.

147
Nicht unzugänglich sein

Keiner ist so vollkommen, daß er nicht zu Zeiten fremder Erinnerung bedürfte. Von unheilbarem Unverstand ist, wer niemanden anhören will. Sogar der Überlegenste soll freundschaftlichem Rate Raum geben, und selbst königliche Macht darf nicht die Lenksamkeit ausschließen. Es gibt Leute, die rettungslos sind, weil sie sich allem verschließen; sie stürzen sich ins Verderben, weil keiner sich heranwagt, sie zurückzuhalten. Auch der Vorzüglichste soll der Freundschaft eine Türe offenhalten, und sie wird die der Hilfe werden. Einem Freund muß die Freiheit gestattet sein, ohne Zurückhaltung raten zu dürfen, ja zu tadeln. Diese Autorität muß ihm unsere Zufriedenheit und unsere hohe Meinung von seiner Treue und Verständigkeit erworben haben. Nicht allen soll man leicht Berücksichtigung oder Glauben schenken; aber im geheimen Inneren habe man einen treuen Spiegel an einem Vertrauten, dem man Richtigstellung von Irrtümern verdanke und solches zu schätzen wisse.

148
Die Kunst der Unterhaltung besitzen,

denn sie ist es, in der ein ganzer Mann sich produziert. Keine Beschäftigung im Leben erfordert größere Aufmerksamkeit, denn gerade weil sie die gewöhnlichste ist, wird man durch sie sich heben oder stürzen. Ist Behutsamkeit nötig, einen Brief zu schreiben, was eine überlegte und schriftliche Unterhaltung ist, wie viel mehr bei der mündlichen, in der die Klugheit eine unvorbereitete Prüfung zu bestehen hat. Die Erfahrenen fühlen der Seele den Puls an der Zunge, und deshalb sagte Sokrates: "Sprich, damit ich dich sehe!" Einige halten dafür, daß die Kunst der Unterhaltung grade darin bestehe, daß sie kunstlos sei, indem sie locker und lose wie die Kleidung sein müsse. Von der Unterhaltung zwischen guten Freunden gilt dies wohl; allein mit Leuten geführt, die Rücksicht verdienen, muß sie gehaltvoller sein, um eben vom Gehalt des Redenden Zeugnis zu geben. Um es recht zu treffen, muß man sich der Gemütsart und dem Verstande des Mitredenden anpassen. Auch affektiere man nicht, Worte zu kritisieren; sonst wird man für einen Grammatikus gehalten; noch weniger sei man der Fiskal der Gedanken, sonst werden alle uns ihren Umgang entziehn und die Mitteilung teuer feil haben. Im Reden ist Diskretion viel wichtiger als Beredsamkeit.

149
Das Schlimme andern aufzubürden verstehn

Einen Schild gegen das Mißwollen zu haben, ist eine große List der Regierenden. Sie entspringt nicht, wie Mißgünstige meinen, aus Unfähigkeit, vielmehr aus der höheren Absicht, jemanden zu haben, auf den der Tadel des Mißlingens und die Strafe allgemeiner Ablehnung zurückfalle. Alles kann nicht gut ablaufen, noch kann man alle zufriedenstellen; daher habe man, wenn auch auf Kosten seines Stolzes, einen Sündenbock, einen Ausbader unglücklicher Unternehmungen.

150
Seine Sachen herauszustreichen verstehen

Der innere Wert derselben reicht nicht aus, denn nicht alle dringen bis auf den Kern oder schauen ins Innere; vielmehr laufen die meisten dahin, wo schon ein Zusammenlauf ist, und gehen, weil sie andere gehen sehen. Ein großer Teil der Kunst besteht darin, seine Sache in Ansehen zu bringen: bald durch Anpreisen, denn Lob erregt Begierde, bald durch eine treffliche Benennung, welche einer hohen Meinung sehr förderlich ist; jedoch sei alle Affektation vermieden! Ferner ist ein allgemeines Anregungsmittel, sie bloß für die Einsichtigen zu bestimmen, da alle sich für solche halten, und wenn etwa nicht, dann der gefühlte Mangel den Wunsch erregen wird. Hingegen darf man nie seinen Gegenstand als leicht oder gewöhnlich empfehlen, wodurch er mehr herabgesetzt als erleichtert würde. Nach dem Ungewöhnlichen haschen alle, weil es für den Geschmack wie für den Verstand anziehender ist.

151
Voraus denken,

von heute auf morgen und noch auf viele Tage. Die größte Vorsicht ist, daß man der Sorge und Überlegung besondere Stunden bestimme. Für den Behutsamen gibt es keine Unfälle und für den Aufmerksamen keine Gefahren. Man soll nicht das Denken verschieben, bis man zum äußersten im Sumpfe steckt, es muß vorher geschehen. Durch wiederholte und gereifte Überlegung komme man überall dem äußersten Mißgeschick zuvor. Das Kopfkissen ist eine stumme Sibylle; sein Beginnen vorher überschlafen ist besser, als nachher darüber schlaflos liegen. Manche handeln zuerst und denken nachher, was heißt: weniger auf die Folgen als auf Entschuldigungen bedacht sein. Andere allerdings denken weder vorher noch nachher. Das ganze Leben muß ein fortgesetztes Denken sein, damit man den rechten Weg nicht verfehle. Wiederholte Überlegung und Vorsicht machen es möglich, unseren Lebenslauf im voraus zu bestimmen.

152
Nie sich zu dem gesellen, durch den man in den Schatten gestellt wird;

sei es dadurch, daß er über uns, oder daß er unter uns stehe. Größere Vorzüge finden größere Verehrung: da wird der andere immer die Hauptrolle spielen, wir die zweite. Bleibt für uns noch einige Wertschätzung, so ist es, was jener übrigläßt. Der Mond glänzt, solange er allein bei den Sternen ist; kommt die Sonne, wird er unscheinbar oder unsichtbar. Nie also schließe man sich dem an, durch den man verdunkelt, sondern dem, durch den man herausgehoben wird. Durch dieses Mittel konnte die kluge Fabula beim Martial schön erscheinen und glänzen, wegen der Häßlichkeit und des schlechten Anzuges ihrer Begleiterinnen. Ebensowenig aber soll man durch einen schlechten Kumpan sich in Gefahr setzen, und nicht auf Kosten seines eigenen Ansehens einem anderen Ehre erzeigen. Ist man noch im Werden, so halte man sich zu den Ausgezeichneten; als gemachter Mann aber zu den Mittelmäßigen.

153
Man hüte sich einzutreten, wo eine große Lücke auszufüllen ist:

tut man es dennoch, so sei man sicher, den Vorgänger zu übertreffen; ihm nur gleichzukommen, erfordert schon doppelten Wert. Wie es fein ist, dafür zu sorgen, daß der Nachfolger uns zurückgesehnt mache, so ist es auch schlau, zu verhüten, daß der Vorgänger uns nicht verdunkle. Eine große Lücke auszufüllen, ist schwer, denn stets erscheint das Vergangene als das Beste, und sogar dem Vorgänger gleich zu sein, ist nicht hinreichend, weil er schon den Erstbesitz voraus hat. Daher muß man noch Vorzüge hinzuzufügen haben, um den andern aus seinem Besitz der höheren Meinung herauszuwerfen.

154
Nicht leicht glauben und nicht leicht lieben

Die Reife des Geistes zeigt sich in der Langsamkeit des Glaubens. Die Lüge ist sehr gewöhnlich; so sei der Glaube ungewöhnlich. Wer sich leicht hinreißen läßt, steht nachher beschämt. Inzwischen soll man seinen Zweifel an der Aussage des anderen nicht zu erkennen geben, weil dieses unhöflich, ja beleidigend wäre: man machte den Aussagenden dadurch zum Betrüger oder Betrogenen. Ungläubigsein verrät einen Lügner, denn ein solcher leidet an zwei Übeln: er selbst glaubt nicht und findet keinen Glauben. Zurückhaltung des Urteils ist immer klug beim Hörer; der Sprecher aber berufe sich auf den, von dem er es hat. Eine verwandte Art der Unbedachtsamkeit ist allzu rasche Zuneigung, denn nicht nur mit Worten, sondern auch mit Werken wird viel gelogen. Diese letztere Art des Betruges ist viel gefährlicher.

155
Die Kunst, in Zorn zu geraten

Wenn es möglich ist, trete vernünftige Überlegung dem gemeinsamen Aufbrausen in den Weg - dem Vernünftigen wird dies nicht schwerfallen. Gerät man aber in Zorn, so sei der erste Schritt, zu bemerken, daß man zornig ist: man erlangt dann zugleich Herrschaft über den Affekt. Gleichzeitig messe man die Notwendigkeit ab, bis zu welchem Punkte des Zornes man zu gehen hat. Mit solch überlegender Schlauheit gelangt man in und wieder aus dem Zorn. Man verstehe gut und zur rechten Zeit einzuhalten, denn das Schwierigste beim Laufen ist das Stillestehen. Ein großer Beweis von Verstand ist, bei Anwandlungen von Narrheit klug zu bleiben. Jede übermäßige Leidenschaft ist eine Abweichung von unserer vernünftigen Natur. Bei geübter Aufmerksamkeit wird die Vernunft nie zu Falle kommen und die Schranken der großen Obhut seiner selbst nicht überschreiten. Um eine Leidenschaft zu bemeistern, muß man stets den Zaum der Aufmerksamkeit in der Hand halten.

156
Die Freunde seiner Wahl:

erst nachdem der Verstand sie geprüft und das wechselnde Glück sie erprobt hat, sollen sie es sein, nicht bloß durch die Neigung, sondern auch durch die Einsicht erkoren. Obgleich hierin es gut zu treffen das Wichtigste im Leben ist, wird doch die wenigste Sorgfalt darauf verwendet. Einige Freunde führt ihre Zudringlichkeit, die meisten der Zufall uns zu. Und doch wird man nach seinen Freunden beurteilt: denn nie war Übereinstimmung zwischen dem Weisen und den Unwissenden. Inzwischen ist, daß man Geschmack an jemandem findet, noch kein Beweis guter Freundschaft; es kann mehr von der Kurzweil an seiner Unterhaltung als von dem Zutrauen zu seinen Fähigkeiten herrühren. Es gibt echte und unechte Freundschaften, diese zum Ergötzen, jene zur Fruchtbarkeit an gelungenen Gedanken und Taten. Wenige sind Freunde der Person, die meisten der Glücksumstände. Die richtige Einsicht eines Freundes nutzt mehr als der gute Wille vieler anderer; daher verdanke man sie seiner Wahl, nicht dem Zufall. Ein Kluger weiß Verdrießlichkeiten zu vermeiden, aber ein dummer Freund schleppt sie ihm zu. Auch wünsche man seinen Freunden nicht zu großes Glück, wenn man sie behalten will.

157
Sich nicht in den Personen täuschen,

welches die schlimmste und leichteste Tauschung ist. Besser man werde im Preise als in der Ware betrogen. Bei Menschen mehr als bei allem andern ist es nötig, ins Innere zu schauen. Sachen verstehn und Menschen kennen, sind zwei weit verschiedene Dinge. Es ist eine tiefe Philosophie, die Gemüter zu ergründen, und die Charaktere zu unterscheiden. Mehr als Bücher, ist es nötig, Menschen studiert zu haben.

158
Seine Freunde zu nutzen verstehen

Auch hierbei hat die Klugheit ihre Kunst. Einige sind gut in der Ferne, andere in der Nähe. Mancher taugt nicht für die Unterredung, aber sehr für den Briefwechsel, denn die Entfernung nimmt manche Fehler weg, die in der Nähe unerträglich waren. Nicht bloß Ergötzen, auch Nutzen soll man aus seinem Freunde schöpfen, denn drei Eigenschaften soll er besitzen, welche einige dem Guten, andere dem Ding an sich zuschreiben: Einheit, Güte und Wahrheit. Denn der Freund ist alles in allem. Wenige taugen zu guten Freunden, und daß man sie nicht zu wählen versteht, macht ihre Zahl noch kleiner. Sie sich erhalten ist mehr, als sie zu erwerben wissen. Man suche solche, welche für die Dauer sein können; und sind sie auch anfangs neu, so beruhige man sich dabei, daß sie alt werden können. Durchaus die besten sind die von vielem Salz, wenn auch die Prüfung einen Scheffel kostet. Keine Einöde ist so traurig wie ein Dasein ohne Freunde. Die Freundschaft vermehrt das Gute und verteilt das Schlimme. Sie ist das einzige Mittel gegen das Unglück, gleichsam das Aufatmen der Seele.

159
Die Narren ertragen können

Stets sind die Weisen ungeduldig, denn wer sein Wissen vermehrt, vermehrt seine Ungeduld. Große Einsicht ist schwer zu befriedigen. Die erste Lebensregel, nach Epiktet, ist das Ertragenkönnen, worauf er die Hälfte der Weisheit zurückführt. Müssen nun alle Arten von Narrheit ertragen werden, so wird es großer Geduld bedürfen. Oft haben wir am meisten von denen zu erdulden, von welchen wir am meisten abhängen: eine heilsame Übung der Selbstüberwindung. Aus der Geduld geht der unschätzbare Frieden hervor, welcher das Glück der Welt ist. Wer aber zum Dulden keine Geduld hat, ziehe sich zurück in sich selbst, wenn er imstande ist, sich selbst zu ertragen.

160
Aufmerksamkeit auf sich im Reden:

wenn mit Nebenbuhlern, aus Vorsicht; wenn mit andern, des Anstands halber. Ein Wort nachzuschicken, ist immer Zeit, eines zurückzurufen - nie. Man rede wie im Testament; je weniger Worte, desto weniger Streit. Beim Unwichtigen übe man sich für das Wichtige. Das Geheimnisvolle hat einen gewissen göttlichen Anstrich. Wer im Sprechen leichtfertig ist, wird bald überwunden oder überführt sein.

161
Seine Lieblingsfehler kennen

Auch der vollkommenste Mensch wird dergleichen haben; entweder ist er mit ihnen vermählt oder in geheimer Liebschaft. Oft liegen sie im Geiste, und je größer dieser ist, desto größer sind auch sie und desto auffallender. Nicht, daß der Inhaber sie nicht kennen sollte - er liebt sie sogar. Doppeltes Unheil: leidenschaftliche Neigung, und für Fehler! Sie sind Schandflecke der Vollkommenheiten und anderen so widerlich wie ihm selbst wohlgefällig. Hier nun bedarf es kühner Selbstüberwindung, um seine übrigen Vorzüge von solchem Makel zu befreien. Denn darauf stoßen alle; und wenn sie das übrige Gute, welches sie bewundern, zu loben haben, halten sie bei diesem Anstoß still und schwärzen ihn möglichst an zum Nachteil der sonstigen Talente.

162
Über Nebenbuhler und Widersacher zu triumphieren verstehen

Sie zu verachten reicht nicht aus, wiewohl es vernünftig ist; wesentlich ist Edelmut. Über jedes Lob erhaben ist, wer gut redet von dem, der von ihm schlecht spricht. Keine edelmütige Rache gibt es, als die der Talente und Verdienste, welche die Neider besiegen und martern. Jede neu erlangte Stufe des Glücks ist ein festeres Zuschnüren des Stranges am Halse des Mißgünstigen, und der Ruhm des Angefeindeten ist die Hölle des Nebenbuhlers: es ist die größte aller Strafen, denn aus dem Glück bereitet sie Gift. Nicht einmal stirbt der Neider, sondern so oft das Beifallsrufen dem Beneideten ertönt. Die Unvergänglichkeit des Ruhmes des einen ist das Maß der Qual des anderen. Endlos lebt jener für die Ehre und dieser für die Pein. Die Posaune des Ruhms verkündet jenem Unsterblichkeit, diesem den Tod durch den Strang, wenn er nicht abwarten will, bis der Neid ihn verzehrt habe.

163
Nie, aus Mitleid gegen den Unglücklichen, sein Schicksal auch sich zuziehen

Was für den einen ein Mißgeschick, ist für den anderen oft die glücklichste Begebenheit; denn keiner könnte beglückt sein, wenn nicht viele andere unglücklich waren. Es ist den Unglücklichen eigentümlich, daß sie leicht den guten Willen der Leute erlangen, indem diese durch ihre unnütze Gunst die Schläge des Schicksals ausgleichen möchten. Bisweilen sah man den, welcher auf dem Gipfel des Glücks allen ein Abscheu war, im Unglück von allen bemitleidet; die Rachgier gegen den Erhobenen hatte sich in Teilnahme für den Gefallenen verwandelt. Jedoch der Kluge merke auf, wie das Schicksal die Karten mischt. Leute gibt es, die man stets nur mit Unglücklichen gehn sieht, und der, den sie als einen Beglückten gestern flohen, steht heute als ein Unglücklicher an ihrer Seite. Das zeugt bisweilen von einem edlen Gemüt, jedoch nicht von Klugheit.

164
Einige Luftstreiche tun,

um die Aufnahme, welche manche Dinge finden würden, zu untersuchen, zumal solche, wegen deren Billigung oder Gelingen man Mißtrauen hegt. Man kann sich dadurch des guten Ausgangs vergewissern und behält immer Raum, entweder Ernst zu machen oder einzulenken. Man prüft auf diese Art die Neigungen, und der Aufmerksame lernt seinen Grund und Boden kennen, was die wichtigste Vorkehr ist beim Bitten, beim Lieben und beim Regieren.

165
Ein redlicher Widersacher sein

Der Mann von Verstand kann genötigt werden, ein Widersacher, aber nicht ein nichtswürdiger Widersacher zu sein. Jeder muß handeln als der, welcher er ist, nicht als der, wozu sie ihn machen möchten. Der Edelsinn beim Kampf mit Nebenbuhlern erwirbt Beifall; man kämpfe so, daß man nicht bloß durch die Übermacht, sondern auch durch die Kampfesweise siegreich sei. Ein niederträchtiger Sieg ist kein Ruhm, vielmehr eine Niederlage. Immer behält Edelmut die Oberhand. Der rechtliche Mann gebraucht nie verbotene Waffen; dergleichen aber sind die der beendigten Freundschaft gegen den begonnenen Haß, da man nie das geschenkte Zutrauen zur Ruhe benützen darf. Alles, was nach Verrat auch nur riecht, befleckt den guten Namen. In Leuten, die auf Achtung Anspruch haben, befremdet jede Spur von Niedrigkeit: Seelenadel und Verworfenheit müssen weit auseinander bleiben. Man setze seinen Ruhm darein, daß, wenn Edelsinn, Großmut und Treue sich aus der Welt verloren hätten, sie sich in unserer Brust noch wiederfänden.

166
Die Aufschneider von den Männern der Tat unterscheiden

Diese Unterscheidung erfordert die größte Genauigkeit, eben wie die der Freunde, der Personen und der Ämter, da alle diese Dinge große Verschiedenheit haben. Weder gute Worte noch schlechte Werke ist schon schlimm. Aber weder schlechte Werke noch gute Werke ist schlimmer. Worte kann man nicht essen, sie sind Wind. Von Artigkeiten kann man nicht leben, sie sind ein höflicher Betrug. Die Vögel mit dem Lichte fangen, das ist das wahre Blenden. Die Eiteln lassen sich mit Wind abspeisen. Worte sollen das Unterpfand der Werke sein, nur dann haben sie Wert. Bäume, die keine Frucht, sondern nur Blätter tragen, pflegen ohne Mark zu sein. Man muß sie kennen: die einen zum Nutzen, die anderen zum Schatten.

167
Sich zu helfen wissen

In großen Gefahren gibt es keinen besseren Gefährten als ein wackeres Herz. Und sollte es schwach werden, müssen die benachbarten Teile ihm aushelfen. Die Mühseligkeiten verringern sich dem, der sich zu helfen weiß. Man soll nicht vor dem Schicksal die Waffen strecken; denn da würde es sich vollends unerträglich machen. Manche helfen sich gar wenig in ihren Widerwärtigkeiten und verdoppeln solche, weil sie sie nicht zu tragen verstehen. Der, welcher sich schon kennt, kommt seiner Schwäche durch Überlegung zu Hilfe, und der Kluge besiegt alles, sogar den bösen Stern.

168
Nicht zu einem Ungeheuer von Narrheit werden

Dergleichen sind alle Eitlen, Anmaßlichen, Eigensinnigen, Kapriziösen, von ihrer Meinung nicht Abzubringenden, Überspannten, Gesichterschneider, Possenreißer, Neuigkeitskrämer, Paradoxisten, Sektierer und verschrobene Köpfe jeder Art: sie sind Ungeheuer der Ungebührlichkeit. Aber jede Mißgestalt des Geistes ist häßlicher als die des Leibes, weil sie einer höheren Gattung von Schönheit widerstreitet. Allein, wer soll einer so großen und gänzlichen Verstimmung zu Hilfe kommen? Wo die große Obhut seiner selbst fehlt, ist keine Leitung mehr möglich, und an die Stelle eines nachdenkenden Bemerkens des fremden Spottes ist der falsche Dünkel eines eingebildeten Beifalls getreten.

169
Mehr darauf wachen, nicht einmal zu fehlen, als hundertmal zu treffen

Nach der strahlenden Sonne sieht keiner, aber alle nach der verfinsterten. Die gemeine Kritik der Welt wird dir nicht, was dir gelungen, sondern was du verfehlt hast, nachrechnen. Die üble Nachrede trägt den Ruf der Schlechten weiter als der erlangte Beifall den der Guten. Viele kannte die Welt nicht eher, als bis sie sich vergangen hatten. Alle gelungenen Leistungen eines Mannes zusammengenommen sind nicht hinreichend, einen einzigen kleinen Makel auszulöschen. Man gebe sich keinem Irrtum hin darüber, sondern wisse, daß alles, was einer je schlecht gemacht, jedoch nichts von dem, was er gut gemacht, von Übelwollenden angemerkt werden wird.

170
Bei allen Dingen stets etwas in der Reserve haben

Dadurch sichert man seine Bedeutsamkeit. Nicht alle seine Fähigkeiten und Kräfte soll man sogleich und bei jeder Gelegenheit anwenden. Auch im Wissen muß es eine Arriere-Garde geben: man verdoppelt dadurch seine Vollkommenheiten. Stets muß man etwas haben, wozu man bei der Gefahr eines schlechten Ausganges seine Zuflucht nehmen kann. Der Entsatz leistet mehr als der Angriff, weil er Wert und Ansehen hervorhebt. Der Kluge geht stets mit Sicherheit zu Werke. Es gilt das pikante Paradoxon Hesiods: "Mehr ist oftmals die Hälfte als das Ganze."

171
Die Gunst nicht verbrauchen

Die großen Gönner sind für die großen Gelegenheiten. Ein großes Zutrauen soll man nicht zu kleinen Dingen in Anspruch nehmen, denn das hieße die Gunst vergeuden. Der heilige Anker bleibe stets für die äußerste Gefahr aufbewahrt. Wenn man zu geringen Zwecken das Große mißbraucht, was wird dann nachmals übrigbleiben? Nichts hat höheren Wert als ein Beschützer, und nichts ist heutzutage kostbarer als die Gunst: sie baut die Welt auf und zerstört sie; sogar Geist kann sie geben und nehmen. So günstig Natur und Ruhm den Weisen sind, so neidisch ist gegen sie gewöhnlich das Glück. Es ist wichtiger, sich die Gunst der Mächtigen zu erhalten als Gut und Habe.

172
Sich nicht mit dem einlassen, der nichts zu verlieren hat

Denn dadurch geht man einen ungleichen Kampf ein. Der andere tritt sorglos auf, denn er hat sogar die Scham verloren, ist mit allem fertig geworden und hat weiter nichts zu verlieren. Daher wirft er sich zu jeder Ungebührlichkeit auf. So schrecklicher Gefahr darf man nie seinen unschätzbaren Ruf aussetzen, der so viele Jahre zu erwerben gekostet hat und jetzt in einem Augenblick verlorengehen kann, indem ein einziger schmählicher Unfall so vielen heißen Schweiß vergeblich machen würde. Der Mann von Pflicht- und Ehrgefühl nimmt Anstand, weil er viel zu verlieren hat; er zieht sein Ansehn und dann das des anderen in Erwägung: nur mit Behutsamkeit läßt er sich ein und geht dann mit solcher Zurückhaltung zu Werke, daß die Vorsicht Raum behält, sich zu rechter Zeit zurückzuziehn und sein Ansehn in Sicherheit zu bringen. Denn nicht einmal durch einen glücklichen Ausgang würde er das gewinnen, was er schon dadurch verloren hatte, daß er sich einem unglücklichen aussetzte.

173
Nicht von Glas sein im Umgang, noch weniger in der Freundschaft

Einige brechen ungemein leicht, wodurch sie ihren Mangel an Bestand zeigen. Sich selbst erfüllen sie mit vermeintlichen Beleidigungen und die anderen mit Widerwillen. Die Beschaffenheit ihres Gemüts ist zarter als die ihres Augensterns, da sie weder im Scherz noch im Ernst eine Berührung duldet. Die unbedeutendsten Kleinigkeiten beleidigen sie. Wer mit ihnen umgeht, muß mit äußerster Behutsamkeit verfahren, stets ihr Zartgefühl berücksichtigen und sogar ihre Miene beobachten, da der geringste Zwischenfall ihren Verdruß erregt. Dies sind meist sehr wunderliche Leute, Sklaven ihrer Laune, der zuliebe sie alles über den Haufen würfen, und Götzendiener ihrer eingebildeten Ehre. Dagegen ist das Gemüt eines Liebenden hart und ausdauernd wie ein Diamant, und daher ein "Amant" ein halber Diamant zu nennen.

174
Nicht hastig leben

Die Sachen zu verteilen wissen, heißt sie zu genießen verstehen. Viele sind mit ihrem Glück früher als mit ihrem Leben zu Ende; sie verderben sich die Genüsse, ohne ihrer froh zu werden. Nachher möchten sie umkehren, wenn sie ihres weiten Vorsprungs innewerden. Sie sind Postillione ihres Lebens, die den ohnehin raschen Lauf der Zeit noch überholen. Sie möchten an einem Tag verschlingen, was sie kaum im ganzen Leben verdauen könnten. Vor den Freuden des Lebens sind sie immer voraus, verzehren schon die kommenden Jahre, und da sie so eilig sind, werden sie schnell mit allem fertig. Man soll sogar im Durst nach Wissen ein Maß beobachten, damit man nicht Dinge lerne, die nicht zu wissen besser wäre. Wir haben mehr Tage als Freuden zu erleben. Man sei langsam im Genießen, schnell im Wirken: Geschäfte sieht man gerne, Genüsse ungern beendigt.

175
Ein Mann von Gehalt sein;

wer es ist, findet kein Genüge an denen, die es nicht sind. Ein elendes Ding ist äußeres Ansehen, welchem kein innerer Gehalt zugrunde liegt. Nicht alle, die ganze Leute zu sein scheinen, sind es. Manche sind trügerisch. Trächtig von Einbildungen, gebären sie Betrügereien, wobei sie von andern, ihnen ähnlichen unterstützt werden, welche am Ungewissen, welches ein Betrug verheißt, weil es recht viel ist, mehr Gefahr finden, als am Sichern, welches eine Wahrheit verspricht, weil es nur wenig ist. Am Ende nehmen ihre Hirngespinste ein schlechtes Ende, weil sie ohne feste und tüchtige Grundlage waren. Ein Betrug macht viele andere notwendig, daher denn das ganze Gebäude hinfällig ist, und, weil in der Luft erbaut, notwendig zur Erde herabfallen muß. Falsch angelegte Dinge sind nie von Bestand; schon daß sie so viel verheißen, muß sie verdächtig machen, wie das, was zu viel beweist, selbst nicht richtig sein kann.

176
Einsicht haben, oder den anhören, der sie hat

Ohne Verstand, eigenen oder geborgten, läßt sich's nicht leben. Allein viele wissen nicht, daß sie nichts wissen, und andere glauben zu wissen, wissen aber nichts. Gebrechen des Kopfes sind unheilbar, und da die Unwissenden sich nicht kennen, suchen sie auch nicht, was ihnen abgeht. Manche würden weise sein, wenn sie nicht glaubten, es zu sein. Daher kommt es, daß, obwohl die Orakel der Klugheit selten sind, diese dennoch unbeschäftigt leben, weil keiner sie um Rat fragt. Sich beraten, schmälert nicht die Größe und zeugt nicht vom Mangel eigner Fähigkeit, vielmehr ist sich gut beraten ein Beweis derselben. Man überlege mit der Vernunft, damit man nicht widerlegt werde vom unglücklichen Ausgang.

177
Vertraulichkeit im Umgang ablehnen

Weder sich noch anderen darf man sie erlauben. Wer sich auf einen vertraulichen Fuß stellt, verliert sogleich die Überlegenheit, welche die Untadeligkeit ihm gab, und infolgedessen auch die Hochachtung. Die Gestirne erhalten sich ihren Glanz, weil sie sich mit uns nicht gemein machen. Das Göttliche gebietet Ehrfurcht. Jede Leutseligkeit bahnt den Weg zur Geringschätzung. Es ist mit den menschlichen Dingen so, daß, je mehr man sie besitzt und hält, desto weniger man von ihnen hält; denn offene Mitteilung legt die Unvollkommenheit offen dar, welche die Behutsamkeit bedeckte. Man sollte sich überhaupt mit niemandem auf vertrauten Fuß stellen; nicht mit Höheren, weil es gefährlich, nicht mit Geringeren, weil es unschicklich ist. Am wenigsten aber mit gemeinen Leuten, weil diese aus Dummheit verwegen sind, und die Gunst, welche man ihnen erzeigt, verkennen und sie für Schuldigkeit halten. Große Leutseligkeit ist der Gemeinheit verwandt.

178
Seinem Gefühl glauben

Zumal wenn es erprobt ist, versage man ihm nicht das Gehör, da es oft das vorherkündet, woran am meisten gelegen. Es ist ein Haus-Orakel. Viele sind durch das umgekommen, was sie stets gefürchtet hatten; was half aber das Fürchten, wenn sie nicht vorbeugten? Manche haben als einen Vorzug ihrer begünstigten Natur ein beinahe untrügliches Gefühl, das sie allemal warnt und Lärm schlägt, wenn Unglück droht, damit man ihm vorbeuge. Es zeugt nicht von Klugheit, daß man den Übeln entgegengeht, es sei denn, daß man sie bewußt überwinde.

179
Verschwiegenheit ist das Siegel eines fähigen Kopfes

Eine Brust ohne Geheimnis ist ein offener Brief. Wo der Grund tief ist, liegen auch die Geheimnisse in großer Tiefe, denn da gibt es weite Räume und Höhlen, worin die Dinge von Wichtigkeit versenkt werden. Die Verschwiegenheit entspringt aus einer mächtigen Selbstbeherrschung, und sich in diesem Stücke zu überwinden, ist ein wahrer Triumph. So vielen man sich entdeckt, so vielen macht man sich zinsbar. In der gemäßigten Stimmung des Innern besteht die Gesundheit der Vernunft. Die Gefahren, mit welchen die Verschwiegenheit zu kämpfen hat, sind die mancherlei Versuche der andern, das Widersprechen, in der Absicht, sie dadurch zu verleiten, die Stichelreden, um etwas aufzujagen; bei alledem wird der Aufmerksame verschlossener als zuvor. Das, was man tun soll, muß man nicht sagen; und das, was man sagen soll, muß man nicht tun.

180
Nie sich nach dem richten, was der Gegner jetzt zu tun hätte

Der Dumme wird nie das tun, was der Kluge angemessen erachtet, weil er das Passende nicht herausfindet; ist er hingegen ein wenig klug, so wird er einen Schritt, den der Andere vorhergesehn, ja ihm vorgebaut hat, gerade deshalb nicht ausführen. Man muß die Sachen von beiden Gesichtspunkten aus durchdenken, sie sorgfältig von beiden Seiten betrachten und sie zu einem doppelten Ausgang vorbereiten. Die Urteile sind verschieden: der Unentschiedene bleibe aufmerksam und nicht sowohl auf das, was geschehn wird, als auf das, was geschehn kann, bedacht.

181
Ohne zu lügen, nicht alle Wahrheiten sagen

Nichts erfordert mehr Behutsamkeit als die Wahrheit: sie ist ein Aderlaß des Herzens. Es gehört gleich viel dazu, sie zu sagen und sie zu verschweigen wissen. Man verliert durch eine einzige Lüge den ganzen Ruf seiner Unbescholtenheit. Der Betrug gilt für ein Vergehn und der Betrüger für falsch, was noch schlimmer ist. Nicht alle Wahrheiten kann man sagen: die einen nicht unseretwegen, die anderen nicht wegen des anderen.

182
Ein Gran Kühnheit bei allem, das ist eine wichtige Klugheit

Man muß seine Meinung von anderen mäßigen, um nicht so hoch von ihnen zu denken, daß man sich vor ihnen fürchte. Nie bemächtige sich die Einbildungskraft des Herzens. Viele scheinen gar groß, bis man sie persönlich kennenlernt; dann aber dient ihr Umgang mehr, die Täuschung zu zerstören als die Wertschätzung zu erhöhen. Keiner überschreitet die engen Grenzen der Menschheit: alle haben ihr Gebrechen, bald im Kopfe, bald im Herzen. Amt und Würde verleihen eine scheinbare Überlegenheit, welche selten von der persönlichen begleitet wird. Das Schicksal pflegt sich an der Höhe des Amtes durch die Geringfügigkeit der Verdienste zu rächen. Die Einbildungskraft ist aber immer im Vorsprung und malt die Sachen viel herrlicher, als sie sind. Sie stellt nicht bloß vor, was ist, sondern auch, was sein könnte. Die durch so viele Erfahrungen von Täuschungen zurückgebrachte Vernunft weise jene zurecht. Doch soll so wenig die Dummheit verwegen als die Tugend furchtsam sein. Und wenn Selbstvertrauen sogar der Einfalt oft durchhalf, wie viel mehr dem Werte und dem Wissen.

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Nichts gar zu fest ergreifen

Jeder Dumme ist fest überzeugt, und jeder fest Überzeugte ist dumm; je irriger sein Urteil, desto größer sein Starrsinn. Sogar wo man augenfällig recht hat, steht es schön an, nachzugeben, denn die Gründe, die wir für uns haben, bleiben nicht unbekannt, und dann sieht man unsere Artigkeit. Man verliert mehr durch halsstarriges Behaupten, als man durch einen Sieg gewinnen kann; denn das heißt nicht ein Verfechter der Wahrheit, sondern der Grobheit sein. Es gibt eiserne Köpfe, die im höchsten und äußersten Grade schwer zu überzeugen sind; kommt nun zum Festüberzeugtsein noch ein grillenhafter Eigensinn, so gehn beide eine unzertrennliche Verbindung mit der Narrheit ein. Die Festigkeit gehört in den Willen, nicht in den Verstand. Doch gibt es Fälle, die hiervon eine Ausnahme gestatten, wo man nämlich verloren wäre, wenn man sich doppelt, erst im Urteil und in Folge davon, in der Ausführung besiegen ließe.

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Nicht zeremoniös sein

Sogar in einem König war die Affektation hierin als eine Sonderbarkeit weltkundig. Wer in diesem Punkte kritisch ist, macht sich lästig; und doch haben ganze Nationen diese Eigenheit. Das Kleid der Narrheit ist aus solchen Dingen zusammengenäht. Leute dieses Schlages sind Götzendiener ihrer Ehre und zeigen doch, daß sie auf wenig gegründet ist, da sie fürchten, daß alles dieselbe verletzen könne. Es ist gut, auf Achtung zu halten: aber man gelte nicht für einen großen Zeremonienmeister. Allerdings ist es wahr, daß ein Mann ohne alle Umstände ausgezeichneter Tugenden bedarf. Man soll die Höflichkeit weder affektieren noch verachten: es zeugt nicht von Größe, wenn man in Kleinigkeiten kleinlich ist.

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Nie sein Ansehn von der Probe eines einzigen Versucher abhängig machen

denn mißglückt er, so ist der Schaden unersetzlich. Es kann leicht vorkommen, daß man einmal fehlt, und besonders das erstemal. Zeit und Gelegenheit sind nicht immer günstig: daher sagt man, jemand habe seinen glücklichen Tag. Seinen zweiten Versuch stelle man durch Verbindung mit dem ersten sicher; dann wird, er mag gelingen oder mißglücken, der erste seine Ehrenrettung sein. Immer muß man seine Zuflucht zu einer Verbesserung nehmen und sich auf ein Mehreres berufen können. Die Dinge hängen von unberechenbaren Zufälligkeiten ab, deshalb ist ein glücklicher Ausgang so selten.

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Fehler als solche erkennen, auch wenn sie in noch so hohem Ansehen stehen

Der Makellose verkenne das Laster nicht, auch wenn es sich in Samt und Seide kleidet; ja es wird bisweilen eine goldene Krone tragen, deshalb aber doch nicht weniger verwerflich sein. Die Sklaverei bleibt niederträchtig, so sehr man sie durch die Hoheit des Herrn beschönigen möchte. Die Laster können hoch stehen, sind deshalb aber doch nichts Hohes. Manche sehen, daß jener große Mann mit diesem oder jenem Fehler behaftet ist, aber sie sehen nicht, daß er keineswegs gerade durch diesen ein großer Mann ist. Das Beispiel der Höheren besitzt eine solche Überredungskraft, daß es uns sogar zu Häßlichkeiten verleitet und die des Äußeren von Schmeichlern sogar bisweilen affektiert wurden. Diese begriffen jedoch nicht, daß, wenn man bei Großen vor dergleichen die Augen verschließt, man es an den Geringen verabscheut.

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Was Gunst erwirbt, selbst verrichten, was Ungunst, durch andere tun lassen

Durch das erstere gewinnt man die Liebe, durch das andere entgeht man dem Übelwollen. Dem großen Mann gibt Gutes-tun mehr Genuß, als wenn er Gutes empfängt: ein Glück des Edelmutes. Nicht leicht wird man anderen Schmerz verursachen, ohne, entweder durch Mitleid oder Vergeltung, selbst wieder Schmerz zu erdulden. Von oben kann man nur durch Lohn oder Strafe wirken: da erteile man das Gute unmittelbar, das Schlimme mittelbar. Man habe jemanden, auf den die Schläge der Unzufriedenheit, nämlich Haß und Schmähung, treffen. Denn die Wut des Pöbels gleicht der der Hunde; die Ursache ihres Leidens verkennend, wendet sie sich wider das Werkzeug, das, wiewohl nicht die Hauptschuld tragend, für die unmittelbare büßen muß.

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Löbliches zu berichten haben

Es erhöht die gute Meinung von unserm Geschmack, indem es anzeigt, daß dieser anderwärts das Vortreffliche kennengelernt hat und es daher auch hier zu schätzen wissen wird; denn wer vordem Vollkommenheiten zu würdigen gewußt hat, wird ihnen auch nachmals Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zudem gibt es Stoff zur Unterhaltung, zur Nachahmung, und befördert lobenswerte Kenntnisse. Man erzeigt dadurch, auf eine sehr feine Weise, den gegenwärtigen Vollkommenheiten eine Höflichkeit. Andere machen es umgekehrt: sie begleiten ihre Erzählungen immer mit Tadel und wollen dem Gegenwärtigen durch Herabsetzung des Abwesenden schmeicheln. Dies glückt ihnen bei oberflächlichen Leuten, welche nicht inne werden, wie listig sie, bei einem jeden, recht schlecht vom andern reden. Manche haben die Methode, die Mittelmäßigkeiten des heutigen Tages höher zu schätzen als die vortrefflichsten Leistungen des gestrigen. Der Aufmerksame durchschaue alle diese Schliche und lasse sich weder durch die übertriebenen Erzählungen der einen mutlos machen, noch durch die Schmeicheleien der andern aufblasen: er sage sich, daß jene sich an einem Orte grade so wie am andern benehmen, ihre Meinungen vertauschen und sich stets nach dem Orte richten, wo sie eben sind.

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Sich den fremden Mangel zunutze machen:

erzeugt er den Wunsch, so wird er zur wirksamsten Daumenschraube. Die Philosophen haben gesagt, der Mangel oder die Privation sei nichts, die Politiker aber meinten, er sei alles. Letztere haben es besser verstanden. Manche wissen aus dem Wunsche der anderen eine Stufe zur Erreichung ihrer Zwecke zu machen. Sie benutzen die Gelegenheit und erregen jenen, durch Vorstellung der Schwierigkeiten des Erlangens, den Appetit. Sie versprechen sich mehr von der Leidenschaftlichkeit der Sehnsucht als von der Lauheit des Besitzers. Denn in dem Maße, als der Widerstand zunimmt, wird der Wunsch leidenschaftlicher. Andere in Abhängigkeit zu erhalten, zeigt von großer Klugheit.

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In allem seinen Trostfinden

Sogar die Unnützen mögen ihn daran finden, daß sie unsterblich sind. Kein Kummer ohne seinen Trost. Für die Dummen ist es einer, daß sie Glück haben. Auch das Glück häßlicher Weiber ist sprichwörtlich geworden. Um lange zu leben, ist ein gutes Mittel, wenig zu taugen. Ein brüchiges Gefaß zerbricht zu unserem größten Verdruß niemals ganz. Gegen die tüchtigsten Menschen scheint das Schicksal Neid zu hegen, da es oft den unnützesten Leuten die längste, den begabtesten die kürzeste Lebensdauer verleiht. Alle, an denen viel gelegen, nehmen bald ein Ende, aber der, welcher keinem etwas nützt, der scheint ewig zu leben: teils, weil es uns so vorkommt, teils, weil es wirklich so ist. Dem Unglücklichen scheint es, daß das Glück und der Tod sich verschworen haben, ihn zu vergessen.

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Nicht an großer Höflichkeit sein Genügen haben:

sie ist eine Art Betrug. Einige bedürfen, um hexen zu können, nicht der Kräuter Thessaliens; mit schmeichelhaftem Hutabziehen allein bezaubern sie eitle Dummköpfe. Ehrenbezeugungen sind ihre Münze, und sie bezahlen mit dem Rauch schöner Redensarten, Wer alles verspricht, verspricht nichts; Versprechungen sind Fallen für Dumme. Die wahre Höflichkeit ist Schuldigkeit, die vorgespiegelte, zumal die ungewöhnIiche, Betrug. Sie ist nicht Sache des Anstands, sondern ein Mittel, andere in die Hand zu bekommen. Ihr Bückling gilt nicht der Person, sondern deren Glücksumständen; ihre Schmeichelei nicht etwa erkannten Fähigkeiten, sondern erhofften Vorteilen.

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Friedfertig leben, lange leben

Leben lassen, um zu leben. Die Friedfertigen leben nicht nur, sie herrschen. Man höre, sehe und - schweige. Ein Tag ohne Streit bringt eine Nacht ruhigen Schlafs. Lange leben und angenehm leben heißt zweimal leben: das ist die Frucht des Friedens. Alles hat, wer sich nichts aus dem macht, woran ihm nichts liegt. Keine größere Verkehrtheit, als sich alles zu Herzen zu nehmen. Gleich groß ist die Torheit: sich abzugrämen einer Sache wegen, die uns nichts angeht, und sich nicht kümmern um das, was wichtig für uns ist.

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Auf den achtgeben, der mit der fremden Angelegenheit auftritt, um mit der eigenen abzuziehen

Gegen die List ist der beste Schutz die Aufmerksamkeit. Für feine Schliche eine feine Nase. Viele machen aus ihrer eigenen Angelegenheit eine fremde, und ohne den Schlüssel zur Zifferschrift ihrer Absichten wird man bei jedem Schritt Gefahr laufen, für Fremde die Kastanien aus dem Feuer holen zu müssen.

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Von sich und seinen Sachen vernünftige Begriffe haben -

zumal beim Antritt des Lebens. Jeder hat eine hohe Meinung von sich, am meisten aber die, welche am wenigsten Ursache haben. Jeder träumt sich sein Glück und hält sich für ein Wunder. Die Hoffnung macht die übertriebensten Versprechungen, welche nachher die Erfahrung durchaus nicht erfüllt. Dergleichen eitle Einbildungen werden zur Quelle der Qualen, wenn einst die wahrhafte Wirklichkeit die Täuschung zerstört. Der Kluge komme solchen Verirrungen zuvor; er mag immerhin das Beste hoffen, jedoch erwarte er stets das Schlimmste, um, was kommen wird, mit Gleichmut zu empfangen. Zwar ist es gut, etwas zu hoch zu zielen, damit der Schuß richtig treffe; jedoch nicht so sehr, daß man den Antritt seiner Laufbahn darüber vollends verfehle. Diese Berichtigung der Begriffe ist schlechterdings notwendig, denn vor der entsprechenden Erfahrung ist die Erwartung meistens sehr ausschweifend. Die beste Universalmedizin gegen alle Torheiten ist die Einsicht. Jeder erkenne die Sphäre seiner Tätigkeit und seines Standes, dann wird er seine Begriffe nach der Wirklichkeit berichtigen.

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Zu schätzen wissen

Es gibt keinen, der nicht in irgend etwas der Lehrer des anderen sein könnte. Und jeder, der andere übertrifft, wird selbst noch von jemandem übertroffen werden. Von jedem Nutzen zu ziehen verstehen ist ein nützliches Wissen. Der Weise schätzt alle, weil er in jedem das Gute erkennt und weiß, wie viel dazu gehört, eine Sache gut zu machen. Der Dumme verachtet alle, weil er das Gute nicht kennt und das Schlechtere erwählt.

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Seinen Glückstern kennen

Niemand ist so hilflos, daß er keinen hätte; und ist er unglücklich, so ist es, weil er ihn nicht kennt. Einige stehen bei Fürsten und Mächtigen in Ansehn, ohne zu wissen, wie oder weshalb, nur, daß eben ihr Schicksal ihnen diese Gunst leicht machte, wobei der Bemühung bloß das Nachhelfen blieb. Andere besitzen die Gunst der Weisen. Mancher fand bei einer Nation bessere Aufnahme als bei der anderen, und war in dieser Stadt lieber gesehn als in jener. Ebenso hat man oft mehr Glück in einem Amte oder Stand als in den übrigen, und alles dieses bei Gleichheit, ja Einerleiheit der Verdienste. Das Schicksal mischt die Karten, wie und wann es will. Jeder kenne seinen Glücksstern, eben wie auch sein Talent; hiervon hängt es ab, ob er sein Glück macht oder verscherzt. Er wisse seinem Stern zu folgen, ihm nachzuhelfen und hüte sich, ihn zu vertauschen: denn das wäre, wie wenn man den Polarstern verfehlte, auf welchen doch der nahe Kleine Bär hindeutet.

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Sich keinen Narren auf den Hals laden:

wer sie nicht kennt, ist selbst einer, noch mehr der, welcher sie kennt und nicht von sich abhält. Für den oberflächlichen Umgang sind sie gefahrlich, für den vertrauten verderblich. Und wenn auch ihre eigene Behutsamkeit und fremde Sorgfalt sie eine Zeit lang in Schranken hält, so begehen oder sagen sie zuletzt doch eine Dummheit, und haben sie so lange gewartet, so war es, damit sie desto ansehnlicher ausfiele. Schlecht wird fremdes Ansehen unterstützen, wer selber keines hat. Nur eines ist an Narren so übel nicht: obgleich die Klugen für sie nichts bedeuten, sind sie dem Weisen oftmals von Nutzen - teils zur Erkenntnis, teils zur Übung.

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Sich zu verpflanzen wissen

Es gibt Menschen, die, um etwas zu gelten, außer Landes gehen müssen, zumal in Hinsicht auf hohe Stellen. Die Heimat ist allemal stiefmutterlich gegen ausgezeichnete Talente, denn in dem Lande, als dem Boden, dem sie entsprossen, herrscht der Neid, und man erinnert sich mehr der Unvollkommenheit, mit der jemand anfing, als der Größe, zu der er gelangt ist. Eine Nadel konnte Wertschätzung erhalten, nachdem sie von einer Welt zur anderen gereist war, und ein Glas, weil es in ein anderes Land gebracht worden, machte den Diamanten geringgeschätzt Alles Fremde wird geachtet, teils weil es aus der Ferne kommt, teils weil man es ganz fertig und in seiner Vollkommenheit erhält. Heute hat man gesehen, die einst die Verachtung ihres Winkels waren und jetzt die Ehre der Welt sind, hochgeschätzt von ihren Landsleuten und den Fremden; von jenen, weil sie von weitem, von diesen, weil sie sie als weither sehen. Nie wird der die Statue auf dem Altar verehren, der sie noch als ein Stück Holz gekannt hat.

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Sich Platz zu machen wissen als ein Kluger, nicht als ein Zudringlicher

Der wahre Weg zu hohem Ansehen ist das Verdienst; liegt dem Fleiße echter Wert zugrunde, so gelangt man am kürzesten dahin. Bloße Makellosigkeit reicht nicht aus, bloßes Mühen und Treiben auch nicht, denn dadurch langen die Sachen so abgegriffen an, daß der Ekel ihrem Ansehn schadet. Das Beste ist ein Mittelweg zwischen verdienen und sich einzuführen verstehn.

200
Etwas zu wünschen übrig haben,

um nicht vor lauter Glück unglücklich zu sein. Der Leib will atmen, der Geist streben. Wer alles besäße, wäre über alles enttäuscht und mißvergnügt. Sogar dem Verstande muß etwas zu wissen übrig bleiben, was die Neugier lockt und die Hoffnung belebt. Übersättigungen an Glück sind tödlich. Beim Belohnen ist es eine Geschicklichkeit, nie gänzlich zufrieden zu stellen. Ist nichts mehr zu wünschen, so ist alles zu fürchten: unglückliches Glück! Wo der Wunsch aufhört, beginnt die Furcht.




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