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Meine Religion.
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Und zum Frommsein gehört wohl auch das Nachdenken über die höchsten und schwersten Fragen. Das Erforschliche erforscht zu haben, erscheint mir das größte Glück für den denkenden Menschen. Der Mensch ist freilich nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten. Die Handlungen des Universums zu messen, reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkte ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft der Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge. Wie mich die Leute ärgern, die diese Gottheit so gut kennen, als wären sie ihre Berater und wüßten alle ihre Gedanken! Die Leute traktieren Gott, als wäre das unbegreifliche, garnicht auszudenkende höchste Wesen nicht viel mehr als ihresgleichen. Sie würden sonst nicht sagen: der Herr Gott, der liebe Gott, der gute Gott. Er wird ihnen, besonders den Geistlichen, die ihn täglich im Munde führen, zu einer Phrase, zu einem bloßen Namen, wobei sie |
sich auch gar nichts denken. Wären sie aber durchdrungen von seiner Größe, sie würden verstummen und ihn vor Verehrung nicht nennen mögen. Und was für schlechte Geschichten hängen diese kleinen Geister der Gottheit an! Nichts Gotteslästerlicheres als die alte Dogmatik, die einen zornigen, wütenden, ungerechten, parteiischen Gott vorspiegelt!
Ich bin gewohnt, die Welt als Naturforscher anzusehn, und als solcher suche ich Gott. Denn die bloße Naturbeschreibung und Benennung der Dinge soll uns nicht genügen. sie sagt: Das ist Thonerde und das ist Kieselerde. Was helfen mir denn die Theile, was ihre Namen? Wissen will ich, was jeden einzelnen Teil im Universum so hoch begeistigt, daß er den andern aufsucht, ihm entweder dient oder ihn beherrscht, jenachdem das allen ein- und aufgeborene Vernunftgesetz in einem höheren oder geringeren Grade den zu dieser, jenen zu jener Rolle befähigt. Hinter jedem Wesen steckt die höhere Idee. Das ist mein Gott, das ist der Gott, den wir alle ewig suchen und zu erschauen hoffen, aber wir können ihn nur ahnen, nicht schauen. Ich frage nicht, ob dieses höchste Wesen Verstand oder Vernunft habe, sondern ich fühle, es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon soviel, daß er Teile des Höchsten erkennen mag. |
Wir müssen suchen, wo er sich uns offenbaren will. Ich erwarte nicht, daß er Wunder thut, daß er seine eigenen Gesetze aufhebt. Gott selbst kann keinen Löwen mit Hörnern schaffen, weil er die von ihm selbst für notwendig erkannten Naturgesetze nicht umstoßen kann. Dagegen ist alles Große, Edle, Schaffende ein Ausdruck des Göttlichen, und Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbart, das ist die eigentliche Seligkeit auf Erden. Freilich läßt sich das Göttliche niemals direkt von uns betrachten: wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, im Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen. Ich glaube, daß wir auf jede Entwicklung achten müssen, wenn wir die Hand Gottes suchen. Denn die Gottheit ist wirksam im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu thun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze. Deshalb habe ich bei meiner Beschäftigung mit der Natur am liebsten auf ihre Verwandlungen und Entwicklungen geachtet und bin darin eigene Wege gegangen, und deshab habe ich in meinem Faust geschrieben:
Ebenso sollen wir auf das Hohe und Erhabene achten, wenn wir Gott suchen. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, Christus anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich: durchaus! Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen |
Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich abermals: durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist, Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind. Da ich eben von Christus sprach: Gott hat sich nicht bloß in ihm und einigen großen Juden offenbart; wir finden ihn auch wirksam in Chinesen, Indern, Persern und Griechen, und ebenso in unserer heutigen Welt. Wenn man die Leute reden hört, so sollte man fast glauben, sie seien der Meinung, Gott habe sich seit jener alten Zeit ganz in die Stille zurückgezogen, und der Mensch wäre jetzt auf eigene Füße gestellt und müsse sehen, wie er ohne Gott und sein tägliches unsichtbares Anhauchen zurechkomme. In religiösen und moralischen Dingen giebt man noch allenfalls eine göttliche Einwirkung zu, allein in Dingen der Wissenschaft und Künste glaubt man, es sei lauter Irdisches und nichts weiter als ein Produkt rein menschlicher Kräfte. Versuche es aber doch nur einer und bringe mit menschlichem Wollen und menschlichen Kräften etwas hervor, das den Schöpfungen, die den Namen Mozart (1), Rafael (2) oder Shakespeare (3) tragen, sich an die Seite setzen lasse. Ich weiß recht wohl, daß in allen Gebieten der Kunst eine Unzahl trefflicher Geister gewirkt hat, die vollkommen so Gutes hervorgebracht haben wie jene Genannten. Allein, waren sie so groß als jene, so überragten sie die gewöhnliche Menschennatur in ebendem Verhältnis und waren ebenso gottbegabt als jene. Gott hat sich nach den bekannten imaginierten sechs
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Schöpfungstagen keineswegs zur Ruhe begeben, vielmehr ist er noch fortwährend wirksam wie am ersten. Diese plumpe Welt aus einfachen Elementen zusammenzusetzen und sie jahraus jahrein in den Strahlen der Sonne rollen zu lassen, hätte ihm sicher wenig Spaß gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, sich auf dieser materiellen Unterlage eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern zu gründen. So ist er nun fortwährend in höhern Naturen wirksam, um die geringeren heranzuziehen. Überall wo wir das Geniale wahrnehmen, haben wir eine göttliche Offenbarung. Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu (1), jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in Niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. Ich sage dies, indem ich erwäge, wie oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Gestalt gab, und wie einzelne Menschen durch das, was von ihnen ausging, ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten, das noch in nachfolgenden Geschlechtern kenntlich blieb und wohlthätig fortwirkte. Und ebenso finden wir Gottesgeist überall, auch in der untersten Menschen- und Tierwelt, da, wo wir Güte und Liebe und was sonst die Welt erhält und vorwärts bringt, antreffen. Denken wir nur an die Fürsorge der Eltern für ihre Nachkommen! Beseelte Gott den Vogel nicht mit diesem (1) Aperçu = geistreicher Einfall |
allmächtigen Trieb gegen seine Jungen und ginge das Gleiche nicht durch alles Lebendige der ganzen Natur, die Welt würde nicht bestehen können! So aber ist die göttliche Kraft überall verbreitet und die ewige Liebe überall wirksam. Ein junger Bildhauer hat mir das Modell von Myrons Kuh (1) mit dem säugenden Kalb gesandt. Hier haben wir einen Gegenstand der höchsten Art; das die Welt erhaltende, durch die ganze Natur gehende ernährende Prinzip ist uns hier in einem schönen Gleichnis vor Augen. Dieses und ähnliche Bilder nenne ich die wahren Symbole der Allgegenwart Gottes.
Noch deutlicher erscheint uns das Göttliche, wo uns die Liebe zu dem fremden Hilfsbedürftigen entgegentritt. Eckermann, unser Vogelfreund, erzählte mir einmal ein Geschichtchen, wie er zwei ganz junge Zaunkönige, die noch von den Alten gefüttert wurden, gefangen und unterwegs verloren. Als er nach mehreren Tagen an die Stelle kam, wo ihm die hilflosen Tierchen entschlüpft sein mußten, fand er sie nach einigem Suchen in einem Rothkehlchennest; das alte Rothkehlchen hatte sie hineingenommen und fütterte sie nun mit den eigenen Jungen. Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten. Das ist es, was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Teil seiner unendlichen Liebe überall verbreitet und eingepflanzt hat und schon im Tiere dasjenige als Knospe andeutet, was im eldeln Menschen zur schönsten Blüte kommt. Ich möchte jedoch nicht mit den Nützlichkeitslehrern verwechselt werden, die überall eine Absicht Gottes auf das Wohl der Menschen oder Tiere hin heraustifteln. Solche (1) Myron, griechischer Bildhauer, geboren um 450 v.Chr. in Eleutherai; er ging als erster dazu über, die Figuren in lebhafter Bewegung zu zeigen. In römischer Zeit war besonders seine Darstellung einer Kuh, die "Myronische Kuh", berühmt. |
Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: warum hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen? Etwas Anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sich mit den Hörnern, weil er sie hat. Die Frage nach dem Zweck, die Frage warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man mit der Frage wie? Denn wenn ich frage: wie hat der Ochse Hörner? so führt mich das auf die Betrachtung seiner Organisation und belehrt mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann. So hat der Mensch in seinem Schädel zwei unausgefüllte hohle Stellen. Die Frage warum? würde hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage wie? mich belehrt, daß diese Höhlen Reste des tierischen Schädels sind, die sich bei solchen geringeren Organisationen in stärkerem Maße befinden und die sich beim Menschen trotz seiner Höhe noch nicht ganz verloren haben. Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollen, der dem Ochsen die Hörner gab, damit er sich verteidige. Mir aber möge man erlauben, daß ich den verehre, der in dem Reichtum seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen. Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter giebt und dem Menschen Speise und Trank, so viel er genießen mag; ich aber bete den an, der eine solche Produktionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionteste Theil davon ins Leben tritt, die Welt von Ge- |
schöpfen wimmelt, sodaß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. Das ist mein Gott! Uebrigens bin ich weit entfernt zu glauben, daß ich Gott erkenne wie er ist; ich wiederhole: wir können nur annähernde Ahnungen haben. Ich habe in den verschiedenen Zeiten meines Lebens stets an Gott geglaubt, aber mir doch sehr verschiedene Bilder von ihm gemacht, je nach den Einflüssen, unter denen ich stand. Und unser Gottesbild gestaltet sich auch nach unseren jeweiligen Bedürfnissen. Ich für mich kann bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden wie das andere. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist auch dafür schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen. Die Hauptsache ist, daß wir uns unsrer Kleinheit und Kurzsichtigkeit der Gottheit gegenüber demütig bewußt bleiben.
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Wie an Gott, so habe ich zeitlebens auch geglaubt, daß unser uns bekanntes irdisches Leben nur eine Erscheinung unseres gesamten Lebens und Wesens ist. Wenn Einer so alt ist wie ich, kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Ueberzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit; es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet. Wir Menschen sind nicht bloß gemeine Materie. Das Vermögen, jedes Sinnliche zu veredeln und auch den totesten Stoff durch Vermählung mit der Idee zu beleben, ist die schönste Bürgschaft unseres übersinnlichen Ursprungs. Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick forschend und sehnend zum Himmel auf, der sich in unermessenen Räumen über ihm wölbt, weil er tief und klar in sich fühlt, daß er ein Bürger jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen noch aufzugeben vermögen. In dieser Ahnung liegt das Geheimnis des ewigen Fortstrebens nach einem unbekannten Ziele. Die persönliche Fortdauer steht keineswegs mit den vieljährigen Beobachtungen, die ich über die Beschaffenheit unserer und aller Wesen in der Natur angestellt, im Widerspruch; im Gegentheil sie geht sogar aus denselben mit neuer Beweiskraft hervor. Ich denke an die Metamorphose in der Pflanzen- und Tierwelt, wo allmählich das Blatt zur Rose, das Ei zur Raupe, die Raupe zum Schmetterlinge wird. Und schauen Sie nur auf die Hand des Meisters, die den Tasten des Klaviers wunderbare Harmonien entlockt. Die Hand hat |
nichts von den Tönen, sie ist nur die Dienerin jenes geheimnisvollen Wesens, das hinter und über den sichtbaren Teilen des Menschen verborgen ist. Wenn der Mensch stirbt, so heißt das nur, daß jenes geheimnisvolle Wesen seine Diener entläßt; damit verschwindet aber dieses Wesen durchaus nicht. Je nach seiner Art, Kraft und Richtung wird es sich irgendwie weiter bethätigen. Denn ich glaube durchaus nicht an dieselbe Fortdauer für alle Menschen; wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie (1) zu manifestieren, muß man auch eine sein. Man muß sich hier schon tüchtig bewährt und bethätigt haben. Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir namentlich auch aus dem Begriffe der Thätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag. Ähnlich wie wir sind, werden wir auch bleiben. Denken wir an unsern verstorbenen Großherzog! Gewiß, wo auch sein Geist im Weltall seine Rolle gefunden, er wird dort seine Leute wieder gut zu pflegen wissen. Oder denken wir an unseren Freund Wieland! Vom Untergang solcher hohen Seelenkräfte kann in der Natur niemals und unter keinen Umständen die Rede sein; so verschwenderisch behandelt sie ihre Kapitalien nie. Wielands Seele war von Natur ein Schatz, ein wahres Kleinod; dazu kommt, daß sein langes Leben diese geistig schönen Anlagen nicht verringert, sondern vergrößert hat. Ich wünsche sehr, daß ich einst diesem Wieland als einer Weltmonade (2), als einem Stern erster Größe nach Jahrtausenden wieder begegnen möchte und Zeuge davon wäre, wie er mit seinem lieblichen Lichte Alles, was ihm irgend nahe- (1) Entelechie: die sich im Stoff verwirklichende Form; die im Organismus liegende Kraft, die seine Entwicklung und Vollendung bewirkt. |
käme, erquickte und aufheiterte. Für die besten Geister erhoffe ich, daß sie an den Freuden der Götter als selig mitschaffende Kräfte teilnehmen werden. Der Mensch ist das erste Gespräch, das die Natur mit Gott hält. Auf einem andern Planeten wird das Gespräch höher, tiefer, verständiger gehalten sein. Freilich soll man sich hüten, solchen Glauben für etwas anderes als Glauben, Vermuten, Hoffen zu halten. Wo das Wissen genügt, bedürfen wir des Glaubens nicht; wo aber das Wissen seine Kraft nicht bewährt oder ungenügend erscheinen läßt, sollen wir auch dem Glauben sein Recht nicht streitig machen. Sobald man nur von dem Grundsatze ausgeht, daß Wissen und Glauben nicht dazu da sind, um einander aufzuheben, sondern um einander zu ergänzen, so wird schon überall das Recht ausgemittelt werden. Sie sehen wohl, daß meine Gedanken etwas anders laufen, als die gewöhnlichen über das zukünftige Leben. Ich möchte keineswegs das Glück entbehren, an eine künftige Fortdauer zu glauben, ja, ich möchte mit Lorenzo von Medici (1) sagen, daß alle diejenigen auch für dieses Leben tot sind, die kein anderes hoffen; allein solche unbegreiflichen Dinge liegen zu fern, um ein Gegenstand täglicher Betrachtung und gedankenzerstörender Spekulation zu sein. Und ferner: wer eine Fortdauer glaubt, der sei glücklich im Stillen, aber er hat nicht Ursache, sich darauf etwas einzubilden. Bei Gelegenheit von Tiedges "Urania" (2) indeß machte ich die Bemerkung, daß eben wie der Adel, so auch die Frommen eine gewisse Aristokratie bilden. Ich fand dumme Weiber, die stolz waren, weil sie mit Tiedge an Unsterblichkeit glaubten, und ich mußte es leiden, daß manche mich über diesen Punkt auf eine sehr dünkelhafte Weise examinierten. Ich ärgerte sie aber, indem ich sagte: es könne mir ganz recht sein, wenn (1) Lorenzo il Magnifico Medici, Dichter und Philosoph, Stadtherr von Florenz, geboren 1. Januar 1449 in Florenz, gestorben 8. April 1492 in Careggi; bedeutendster Medici. Er verhalf Florenz zu höchster Blüte und förderte Botticelli und Michelangelo. |
nach Ablauf dieses Lebens uns ein abermaliges beglücke; allein ich wolle mir ausbitten, daß mir drüben Niemand von denen begegne, die hier daran geglaubt hätten. Denn sonst würde meine Plage erst recht angehen! Die Frommen würden um mich herumkommen und sagen: Haben wir nicht Recht gehabt? Haben wir es nicht vorhergesagt? Ist es nicht eingetroffen? Und damit würde denn auch drüben der Langeweile kein Ende sein. Die Beschäftigung mit Unsterblichkeitsideen ist für vornehme Stände und besonders für Frauenzimmer, die nichts zu thun haben. Ein tüchtiger Mensch aber, der schon hier etwas Ordentliches zu sein gedenkt und der daher täglich zu streben, zu kämpfen und zu wirken hat, läßt die künftige Welt auf sich beruhen und ist thätig und nützlich in dieser. Ferner sind Unsterblichkeitsgedanken für solche, die in Hinsicht auf Glück hier nicht zum Besten weggekommen sind, und ich wollte wetten: wenn der gute Tiedge ein besseres Geschick hätte, so hätte er auch bessere Gedanken. Ebenso wie ein Fortleben, so glaube ich auch ein Vorleben annehmen zu dürfen. Ich bin gewiß, wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen und hoffe wohl noch tausendmal wiederzukommen. Erinnerung an solche frühere Existenz haben wir freilich sehr selten und dunkel, nur zuweilen erleuchtet uns ein genialer Blitz etwas davon. Ich muß wohl unter Kaiser Hadrian (1) schon einmal dagewesen sein, deswegen zieht mich alles Römische so an und kömmt mir so heimisch vor; unser Freund Boisserée (2) stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert und war am Niederrhein daheim. Eine unbegreiflich innige Freundschaft, die mich mit einer angesehenen Frau unserer Kreises lange verband (3), habe ich mir in ihrer ganzen Art nie anders als durch Seelenwanderung (1) Hadrian, 76 - 138, eigentlich Publius Aelius Hadrianus, seit 117 römischer Kaiser; entfaltete rege Bautätigkeit. |
erklären können. Ja, wir müssen einst Mann und Weib gewesen sein, sagte ich mir oft. Und ich bat die Götter, wenn ich noch einmal auf die Welt komme, sollten sie mich nur einmal leben lassen und diese liebe Gefährtin sollte jene Freundin sein, die vor längst verschwundenen Zeiten schon mir Gattin gewesen. Es mögen das ja Träume gewesen sein, wie sie liebende Seelen so gern erfinden, aber fest und beständig ist mein Glaube: dieses sichtbare Dasein zwischen Geburt und Tod ist nicht Alles!
* * * Doch ich kehre zurück zu dem Heute, dem jetzigen Leben, und da sehe ich die uralte Frage: sind wir frei? oder sind wir angekettet an den Willen der Götter? Ich möchte kein Ja und kein Nein verantworten. Wunderbar stark ist ja zuweilen der menschliche Wille. Man denke nur an Napoleon, wie er die Pestkranken besuchte, um zu zeigen, daß man die Pest überwinden könne, wenn man die Furcht zu überwinden fähig sei. Und er hatte Recht. Ich kann aus meinem eigenen Leben ein Faktum erzählen, wo ich bei einem Faulfieber (1) der Ansteckung unvermeidlich ausgesetzt war und wo ich bloß durch einen entschiedenen Willen die Krankheit von mir abwehrte. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibs, allein der geistige Wille und die Kräfte des oberen Teils halten mich im (1) Faulfieber = Fleckfieber, Typhus; typhoides Fieber - Bauchtyphus: en- oder epidemische Infektionskrankheit durch Salmonella typhi, übertragen durch direkten Kontakt mit Erkrankten oder gesunden Dauerausscheidern oder durch kontaminierte Nahrung (einschl. Trinkwasser). - Typhus exanthematicus, Läusefleckfieber: das klassische, auch als Hunger- oder Kriegstyphus bezeichnete Fieber; weltweit, vor allem unter schlechten hygienischen Bedingungen, insbesondere starker Verlausung, auftretende akute epidemische Infektionskrankheit mit hoher Sterblichkeit. Sie wird hervorgerufen durch Rickettsia prowazeki, Übertragung besonders durch Kleiderläuse. |
Gange. Der Geist muß nur dem Körper nicht nachgeben! So arbeite ich bei hohem Barometerstande leichter als bei tiefem; da ich nun dieses weiß, so suche ich bei tiefem Barometer durch größere Anstrengung die nachteilige Einwirkung aufzuheben, und es gelingt mir. Aber schon bei unserem Leibe sehen wir, daß doch unserem Willen Grenzen gesetzt sind.
Wie bei den Tieren so sehen wir es auch am Menschen: seine Lebensweise muß sich nach seinem Körper richten, wie umgekehrt auch der Körper sich langsam der Lebensweise anpaßt. Ebenso stehen wir unter der Macht der Mitmenschen, und das ist auch eine, der wir oft willenlos unterliegen. Ich rede garnicht von grober Gewalt. Aber es kann auch eine Seele auf die andre durch bloße stelle Gegenwart entschieden einwirken. Es ist mir sehr oft passiert, daß, wenn ich mit einem guten Bekannten ging und lebhaft an etwas dachte, dieser über das, was im Sinne hatte, sogleich an zu reden fing. So habe ich einen Mann gekannt, der, ohne ein Wort zu sagen, durch bloße Geistesgewalt eine in heiteren Gesprächen begriffene Gesellschaft plötzlich still zu machen im Stande war. Ja, er konnte auch eine Verstimmung hineinbringen, sodaß es Allen unheimlich wurde. Wir haben alle etwas von elektrischen und magnetischen Kräften in uns und üben wie der Magnet selber eine anziehende und abstoßende Gewalt aus. Unter Liebenden ist |
diese magnetische Kraft besonders stark und wirkt sogar sehr in die Ferne. Ich habe in meinen Jünglingsjahren Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und ich so lang an sie dachte, bis sie mir wirklich entgegenkam. "Es wurde mir in meinem Stübchen unruhig", sagte sie, "ich konnte mir nicht helfen, ich mußte hierher." Aber die Hauptfrage ist ja, ob wir auch von überirdischen Mächten regiert werden. Am stärksten bejahen diese Frage die Mohammedaner; als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer allleitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weiteren. Ich will zunächst nicht untersuchen, was an dieser Lehre Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches sein mag, aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! Die Lehre des christlichen Glaubens: Kein Sperling fällt vom Dache ohne den Willen eures Vaters, ist aus derselbigen Quelle hervorgegangen und deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im Auge behält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann. Die Gebundenheit des Menschen folgt übrigens schon aus der Allwissenheit Gottes, wenn wir daran glauben. Sobald wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, ist es um die Allwissenheit Gottes gethan; denn sobald die Gottheit weiß, was ich thun werde, bin ich gezwungen, zu handeln, |
wie sie es weiß. Ich erkenne deshalb auch an, daß unser Schicksal vorausbestimmt ist. Unser Leben kann sicherlich durch die Ärzte um keinen Tag verlängert werden; wir leben, solange es Gott bestimmt hat. Und so ists mit unserm ganzen Lebensgange.
Der Mensch empört sich freilich oft genug gegen seine Bestimmung, aber wenn er sich frei meint, spürt er doch endlich wieder die kräftigere Hand am Arme.
Wir würden täglich diese Ketten sehen und darunter leiden, wären nicht Hoffnung und Phantasie als täuschende Freundinnen uns gleichfalls gegeben. Ich habe meine eigenen Gedanken über diese herrschenden Gewalten, die wir bald deutlich spüren, bald dunkel ahnen. Mancher erkennt nur ein Eingreifen "des lieben Gottes" an, andere reden von einer "weisen Vorsehung." Ich habe in den Aufzeichnungen aus meinem Leben berichtet, warum ich zu anderen Worten kam. Ich glaubte in der Natur der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas |
zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig; nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand; nicht teuflisch, denn es war wohlthätig; nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar; es schien mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten; es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen. Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem ich mich nach meiner Gewohnheit hinter ein Bild flüchtete. Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen manifestieren kann, so steht es vorzüglich mit dem Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen. Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere, teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche |
Gewalt über die Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wieweit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare, aber ungeheure Spruch entstanden sein: Nemo contra deum nisi deus ipse. (1) Napoleon z. B. war durchaus dämonischer Art, im höchsten Grade, sodaß kaum ein Anderer ihm zu vergleichen ist. Auch der verstorbene Großherzog war eine dämonische Natur, voll unbegrenzter Thatkraft und Unruhe, sodaß sein eigenes Reich ihm zu klein und das größte ihm zu klein gewesen wäre. Er war es in dem Grade, daß niemand ihm widerstehen konnte. Er übte auf die Menschen seine Anziehung durch seine ruhige Gegenwart, ohne daß er sich eben gütig und freundlich zu erweisen brauchte. Alles, was ich auf seinen Rat unternahm, glückte mir, sodaß ich in Fällen, wo mein Verstand und meine Vernunft nicht hinreichte, ihn nur zu fragen brauchte, was zu thun sei, wo er es denn instinktmäßig aussprach und ich immer im Voraus eines guten Erfolges gewiß sein konnte. Ihm wäre es zu gönnen gewesen, daß er sich meiner Ideen und höheren Bestrebungen hätte bemächtigen können; denn wenn ihn der dämonische Geist verließ und nur das Menschliche zurückblieb, so wußte er mit sich nichts anzufangen und er war übel daran. Auch in Byron (2) mag das Dämonische in hohem Grade (1) Keiner kann gegen Gott sein, außer Gott selbst. |
wirksam gewesen sein, weshalb er auch die Attraktion in großem Maße besessen, sodaß ihm besonders die Frauen nicht haben widerstehen können. Dämonische Wesen solcher Art rechneten die Griechen unter die Halbgötter. Auch Friedrich (1) und Peter der Große (2) gehören hierher, ebenso Mirabeau (3). Er besaß die Gabe, das Talent zu unterscheiden, und das Talent fühlte isch von dem Dämon seiner gewaltigen Natur angezogen, sodaß es sich ihm seiner Leitung willig hingab. In meiner Natur liegt das Dämonische nicht, aber ich bin ihm unterworfen. So waltete bei meiner Bekanntschaft mit Schiller (4) durchaus etwas Dämonisches ob; wir konnten früher, wir konnten später zusammengeführt werden, aber daß wir es gerade in der Epoche wurden, wo ich die italienische Reise hinter mir hatte und Schiller der philosophischen Spekulationen müde zu werden anfing, war von Bedeutung für beide von größteme Erfolg. Mir kommt ferner Sorets (5) Übersetzung meiner "Metamorphose der Pflanzen" in den Sinn, die sich so lange hinschleppt; es sind tausend Hindernisse dazwischen getreten, das Unternehmen hat of ganz wiederwärtig gestockt, und ich habe es oft im Stillen verwünscht. Nun aber komme ich in den Fall, alle diese Hindernisse zu verehren, indem im Laufe dieser Zögerungen außerhalb, bei anderen trefflichen Menschen, Dinge herangereift sind, die jetzt als das schönste Wasser auf meine Mühle mich über alle Begriffe weiter bringen und meine Arbeit einen Abschluß erlangen lassen, wie es vor einem Jahre nicht wäre denkbar gewesen. Dergleichen ist mir in meinem Leben öfter begegnet, und kommt dahin, in solchen Fällen an eine höhere Einwirkung, an etwas
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dämonisches zu glauben, das man anbetet, ohne sich anzumaßen, es weiter erklären zu wollen. Als hemmende, verlangsamende Kraft tritt uns auch in der Weltgeschichte das Dämonische oft entgegen. Denken Sie wieder an unseren verstorbenen Großherzog und daran, wie sehr er seiner Mitwelt voraus war! Nur ein lumpiges Jahrhundert später, und wie würde er an so hoher Stelle seine Zeit vorwärts gebracht haben! Aber wissen Sie was? Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele, als wir denken und wünschen. Immer sind die retardierenden (1) Dämonen da, die überall dazwischen- und überall entgegentreten, sodaß es zwar im Ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam. Etwas Ähnliches finden wir bei Lord Byrons frühem Untergange wirksam. Überhaupt sehen wir oft, daß im mittleren Leben eines Menschen häufig eine Wendung eintritt, und daß, wie ihn in seiner Jugend Alles begünstigte und Alles ihm glückte, nun mit einem Mal Alles ganz anders wird, und ein Unfall und ein Mißgeschick sich auf das andere häuft. Wissen Sie aber, wie ich es mir denke? - Der Mensch muß wieder ruiniert werden! Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter von nöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas Anderem. Da aber hienieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen andern: Mozart starb in seinem sechsunddreißigsten Jahre, Rafael im gleichen Alter, Byron nur um weniges älter. Alle aber hatten ihre Mission auf das Vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit, daß sie gingen, damit auch anderen Leuten in dieser auf eine (1) retardieren, verzögern, hemmen |
lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu thun übrig bliebe. Noch auf ganz anderen Gebieten gegegnen wir dem Dämonischen. Sein eigentliches Element findet es in der Liebe zwischen Mann und Weib. Es pflegt jede tiefe Leidenschaft zu begleiten. In meinem Verhältnis zu Lili (1) war es besonders wirksam; es gab meinem Leben eine andere Richtung, und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar und mein jetziges Hiersein davon eine unmittelbare Folge war. Auch in der Poesie ist durchaus etwas Dämonisches, und zwar vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe wirkt. Desgleichen ist es in der Musik im höchsten Grade, denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die Alles beherrscht, und von der Niemand im Stande ist, sich Rechenschaft zu geben. Denken sie nur an Paganini! (2) Der religiöse Kultus kann sie daher auch nicht entbehren; sie ist eins der ersten Mittel, um auf die Menschen wunderbar zu wirken. * * * Doch nun genug von den Dämonen! Verbleibt uns denn ihnen und der Gottheit gegenüber noch so viel Willensfreiheit, daß wir von Moral reden, moralische Vorschriften machen dürfen? Allerdings! Das Leben ist nicht ein einmaliges Würfelspiel, bei dem die zufällig gefallenen Augen Alles entscheiden, sondern es ist einem beständigen Kartenspiel zu vergleichen, in dem das Geschick des Spielers neben
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dem Kartenglück entscheidet. Gott läßt auch zu, was er nicht will. Und den Dämonen gegenüber muß unsere bessere Natur sich kräftig durchhalten und ihnen nicht mehr Macht einräumen als billig. Das freilich folgt aus unserer Betrachtung, daß man duldsam sein soll, zumal im Urteil über die Menschen, in denen die Dämonen sich besonders erweisen. Außerordentliche Menschen wie Napoleon treten aus der Moralität heraus, sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser. Ich verhehle nicht, daß mich diese Menschen immer angezogen haben, wie man ja auch an den Helden meiner Dichtungen, der ausgeführten und geplanten, leicht erkennen mag. Die Menschen demoralisieren einander viel zu viel. Pfaffen und Schulleute quälen unendlich. Die Weisen dagegen sagen: Beurteil Niemand, bis du an seiner Stelle gestanden hast! Davon rührt so viel Ungerechtigkeit her, daß wir Andere zu richten uns anmaßen, obwohl oder weil sie anders sind als wir und in anderen Welten leben. Denken Sie an Byron und seine Verkleinerer! Ist es nicht eines alten Griechen, eines Plutarch (1) würdig, wie der Major Parry (2) sie abfertigt? "Dem edeln Lord, sagt Parry, fehlten alle jene Tugenden, die den Bürgerstand zieren, und welche sich anzueignen er durch Geburt, durch Erziehung und Lebensweise gehindert war. Nun sind aber seine ungünstigen Beurteiler sämtlich aus der Mittelklasse, die denn freilich tadelnd bedauern, dasjenige an ihm zu vermissen, was sie an sich selber zu schätzen Ursache haben. Die wackeren Leute bedenken nicht, daß er an seiner hohen Stelle Verdienste besaß, von denen sie sich keinen Begriff machen können." Nicht
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wahr, so etwas hört man nicht alle Tage! Und machen es nicht auch die Philosophen oft ähnlich wie die Philister (1) des Mittelstandes? Sind sie nicht wie die Ärzte, die uns etwas verbieten oder vorschreiben, je nachdem sie selbst es hassen oder lieben? Der Eine ist zum Stoiker geboren, gelangt deshalb zum Stoizismus (2), und ebenso wird der Andere Epikuräer (3); Kant (4) war von Natur mäßig, daher der Charakter seiner Philosophie. Den gleichen Fehler des unbefungten Richtens macht das Alter oft gegen die Jugend. Wer sagt uns denn, daß wir im Alter mehr Recht haben als vor Jahrzehnten? Ich war in meinem vierzigsten Jahre über einige Dinge vollkommen so klar und gescheit wie jetzt und in manchen Hinsichten sogar besser. Und wenn man in der Jugend nicht tolle Streiche machte und mitunter einen Buckel voll Schläge mit wegnähme, was wollte man denn im Alter für Betrachtungsstoff haben? Da will jetzt meine Schwiegertochter (5) eine thörichte Reise unternehmen, um ein Nichts! Aber ein solches Nichts ist der Jugend oft unendlich viel. Und im Ganzen genommen, was thuts? Man muß oft etwa Tolles unternehmen, um nur wieder eine Zeit lang leben zu können. In meiner Jugend habe ich es nicht besser gemacht, und doch bin ich noch ziemlich mit heiler Haut davongekommen. Ich kann nur empfehlen, daß man jede Individualität gewähren lasse, zumal sie die Strafe ihrer Fehler von selbst bekommt. Im Scherze habe ich wohl gelehrt: "Kinderchen, ihr müßt lernen, mit Vergnügen irren zu sehen." Auch mit dem Ratgeben ist es ein eigenes Ding, und wenn man eine Welt gesehen hat, wo die gescheitesten Dinge mißlingen und das Absurdeste of zu einem glücklichen Ziele führt, so kommt man wohl davon zurück, Jemand einen Rat erteilen (1) Philister, hebräisch, Ausdruck für Spießbürger, engherziger Mensch. |
zu wollen. Es ist besonders gefährlich, in die Ferne sittlich zu wirken. Spricht man mit einem Freunde, so fühlt man seine Lage und mildert die Worte nach dem Augenblick; entfernt spricht man nicht recht und trifft nicht zur rechten Zeit. Namentlich ist alles Übelnehmen von Übel.
Ebenso wie gegen Andere, soll man auch gegen sich selbst einige Milde üben. Es wird einem nichts erlaubt, man muß es sich selber erlauben; dann lassens sich die Andern gefallen - oder nicht!
Auch keine Rekriminationen (2), keine Vorwürfe über Vergangenes, nun doch nicht zu Änderndes! Jeder Tag bestehe für sich; wie kann man leben, wenn man nicht jeden Abend sich und Anderen ein Absolutorium (3) erteilt? Ich sah jüngst sogar einen Knaben, der sich wegen eines begangenen kleinen Fehlers nicht beruhigen konnte. Es war mir nicht lieb, das zu bemerken, denn es zeugt von einem zu zarten Gewissen, welches das eigene moralische Selbst so hoch schätzt, daß es ihm nicht verzeihen will. Ein solches Gewissen macht hypochondrische (4) Menschen, wenn es nicht durch eine große Thätigkeit balanciert wird.
(1) Debet, [lateinisch] das, die "Sollseite" eines Kontos; |
Noch in zwiefacher Hinsicht muß ich meinen Mangel an Moralität manifestieren. Man weiß ja, daß ich auch den Trieben des einen Geschlechts zum andern ein Ausleben gönne. Ich war nie für Zügellosigkeit und habe auch mich selbst zu beherrschen verstanden. Ich war Jahrzehnte lang Vorsteher unseres Theaters, und da fehlte es nicht an schönen und jungen Frauenzimmern, die mir auf halbem Wege entgegenkamen. Nicht jeder hätte sich jedes Mal selbst festgenommen wie ich es that. Aber mit den Grämlingen auf diesem Gebiete mochte ich doch nie in ein Horn stoßen. Man hört so oft über weitverbreitete Immoralität in unserer Zeit klagen, und doch wüßte ich nicht, daß irgend einer, der Lust hätte, moralisch zu sein, verhindert würde, es nur um so mehr und mit desto mehr Ehre zu sein. Auch kann ich es nicht billigen, wenn erwachsene Menschen sich schämen, über solche Sachen zu reden oder etwas zu hören. Ich habe mich stets grob und deutlich ausgesprochen und kann z. B. den moralischen Engländer, der die Sakuntala (1) nicht getreu zu übersetzen wagte, nicht sehr hoch einschätzen. Sodann denke ich über den Egoismus günstiger als seine vielen Ankläger. Als wenn die Natur nicht so eingerichtet wäre, daß die Zwecke des Einzelnen dem Ganzen nicht widersprechen, ja sogar zu seiner Erhaltung dienen, als wenn ohne Motive etwas geschehen könnte, und als wenn diese Motive außerhalb des handelnden Wesens liegen könnten und nicht vielmehr im Innersten desselben; ja, als wenn ich die Wohlfahrt des Andern befördern könnte, ohne daß sie auf mich inundierte (2), keineswegs mit meinem Verlust, mit meiner Aufopferung, welche nicht immer dazu erfordert wird und welches nur in gewissen Fällen geschehen kann. Wäre es wahr, daß Jeder nur aus und zu seinem Vorteil handle, (1) Der indischer Dichter Kalidasa lebte um 400 n.Chr. Über sein Leben ist wenig bekannt; er gilt als Klassiker der indischen Literatur und des indischen Theaters zur Zeit der Guptadynastie. Als ein Höhepunkt der indischen Dramatik sind seine zwei Stücke "Sakuntala" und "Vikramorvasi" einzuordnen. Sakuntala ist Liebespoesie mit einem Reichtum nicht nur an poetischen Mitteln, sondern auch an Schönheit der Sprache und Humor. Sakuntala erzählt die Geschichte des Königs Dusyanta, der sich in Úakuntalâ, ein Mädchen aus einer Einsiedelei, verliebt. Trotz dieser Hürde heiraten die beiden, und es scheint, sie könnten fortan glücklich leben, bis ihnen das Schicksal einen Schlag versetzt. Als der König wegen unaufschiebbarer Angelegenheiten zum Hof gerufen wird, beleidigt seine Braut unbeabsichtigt einen Heiligen, der sie daraufhin verflucht, so daß sich der König ihrer nicht mehr erinnert. Den Fluch mildernd, erklärt der Heilige, die Erinnerung des Königs werde zurückkehren, sobald ihm Sakuntala seinen Ring zurückgebe. Was einfach scheint verwickelt sich, als Sakuntala den Ring beim Baden verliert. Doch wahre Liebe soll gewinnen, und so wendet sich das Schicksal zum Guten, und der Ring wird von einem Fischer gefunden. Goethe dichtet: |
so würde einmal folgen, daß, wenn ich zu meinem Abbruch, Nachteil, Detriment (1) handelte, ich erst die Wohlfahrt Anderer beförderte, welches absurd ist. Ferner, daß, wenn ich dem Andern Schaden thäte, wenn ich im Zorn gegen ihn aufwallte und ihn schlüge oder dergl., ich alsdann zu meinem Vorteil, für mein Interesse handelte, welches ebenso absurd ist. Nach Allem, was ich eben gesagt habe, könnte es scheinen, als ob ich vor dem Sittlichen nur geringen Respekt hätte, und Mancher möchte mich denn auch gern als unmoralisch hinstellen. Aber habe ich nicht auch angedeutet, daß ich das Sittliche geradezu als eine Offenbarung Gottes betrachte? Und anders angewandt: unser Edelsinn beweist das Dasein Gottes. Wie ist das Sittliche in die Welt gekommen? Durch Gott selber, wie alles andere Gute. Es ist kein Produkt menschlicher Reflexion, sondern es ist angeschaffene und angeborene schöne Natur. Es ist mehr oder weniger den Menschen im Allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern. Diese haben durch große Thaten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart, welches sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog. Der Wert des Sittlich-Schönen und Guten aber konnte durch Erfahrung und Weisheit zum Bewußtsein gelangen, indem das Schlechte sich in seinen Folgen als ein solches erwies, welches das Glück des Einzelnen wie des Ganzen zerstörte, dagegen das Edle und Rechte als ein solches welches das besondere und allgemeine Glück herbeiführte. So konnte das Sittlich-Schöne zur Lehre werden und sich als ein Ausgesprochenes über ganze Völkerschaften verbreiten.
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Nun soll man mich aber nicht so verstehen, daß jede gute Handlung alsbald Vorteile und Segen für den Thäter und Andere hervorriefe. Alles, was wir thun, hat eine Folge. Aber das Kluge und Rechte bringt nicht immer etwas Günstiges, und das Verkehrte nicht immer etwas Ungünstiges hervor, vielmehr wirkt es oftmals ganz im Gegenteil. Weltmenschen, die dies wissen, sieht man daher mit einer großen Frechheit und Dreistigkeit zu Werke gehen. Auch irrt sich, wer da meint, daß er durch die Erfüllung einer Tugend glücklich sei. Es ist die Eitelkeit, die ihm noch beiwohnt, eine solche Tugend auszuüben. Sie muß sich von selbst verstehen. Dann macht aber das Gefühl derselben nicht mehr glücklich. Wir sind nicht glücklich durch unsere Tugenden, sondern durch unsere Fehler und Schwachheiten. Die Moral ist mehr als der schwankende Kalkül einer bloßen Glücklichkeitslehre, sie ist von übersinnlicher Art. Sie ist ein ewiger Friedensversuch zwischen unsern persönlichen Anfordrungen und den Gesetzen jenes unsichtbaren Reiches. Zuversicht und Ergebung sind ihre echten Grundlagen, und die Unterordnung unter einen höhern, die Ereignisse ordnenden Willen, den wir nicht begreifen, eben weil er höher als unsere Vernunft und unser Verstand ist. Soll ich die Tugenden nennen, auf die ich den größten Wert lege? Von der Läßlichkeit (1) und Milde war die Rede, eben so hoch oder höher stehen die Ehrfurcht, die Thätigkeit, die Wahrhaftigkeit. Ich halte es für eine Sünde, das nil admirari (2) zu lehren, im Gegentheil hat Plato (3) Recht, der die Verwunderung die Mutter alles Schönen und Guten nennt. Freilich ungern entschließt sich der mensch zur Ehrfurcht. Ich erstrebe eine dreifache Ehrfurcht, die, wenn sie zusammenfließt und ein Ganzes bildet, erst ihre höchste Kraft
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und Wirkung erreicht. Das erste ist Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, das zweite Ehrfurcht vor dem, was uns gleich ist, das dritte vor dem, was unter uns ist. Den Dreien entspringen auch drei Religionen: die heidnische, soweit sie von der Furcht vor den oberen Mächten zur Ehrfurcht durchgedrungen ist; die zweite ist die philosophische, denn der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muß alles Höhere zu sich herab-, alles Niedere zu sich heraufziehen, und nur in diesem Mittelzustand verdient er den Namen des Weisen. Die dritte Religion, die Ehrfurcht vor dem hat, was unter uns ist, die christliche, ist ein letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen! Hiervon finden sich freilich Spuren zu allen Zeiten, aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die Menschheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, daß die christliche Religion, da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann. Ich bekenne mich gern zu allen dreien Religionen, sie zusammen bringen eigentlich die wahre Religion hervor; aus diesen drei Ehrfurchten entspringt die oberste Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor sich selbst, und jene entwickeln sich abermals aus dieser, sodaß der Mensch zum Höchsten gelangt, was er zu erreichen fähig ist, daß er sich selbst für das Beste halten darf, was Gott und Natur hervorgebracht haben, ohne Dünkel und Selbstheit wieder ins Gemeine gezogen zu werden. |
Thätigkeit ist die rechte Weise, Gott zu danken für die Gaben, die er uns verliehen hat; unablässige Thätigkeit ist zugleich das große Heilmittel für seelisches Leiden und die Grundlage des menschlichen Glückes. Sie ist auch der Spiegel, in dem wir uns und unseren Wert erkennen können. Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu thun, und du weißt gleich, was an dir ist. - Was aber ist deine Pflicht? - Die Forderung des Tages. Welches Mittel haben wir, schmerzhaftes und tückisches Schicksal zu überwinden? Das Sicherste bleibt immer, daß wir Alles, was in und an uns ist, in That zu verwandeln suchen. Die Wahrheit ist die Tugend, für die ich am meisten gelitten habe; ernstlichen Schaden hat sie mir freilich nicht gebracht, ich habe mich je und je gefreut, daß ich mein Leben dem Wahren gewidmet hatte, von wo es so leicht ist, zum Großen überzugehen, das nur der höchste, reinste Punkt des Wahren ist. Aber den Leuten gefällt meine Echtheit nicht. Man war im Grunde nie zufrieden mit mir und wollte mich immer anders, als es Gott gefallen hatte, mich zu machen. Lobte man mich, so sollte ich das nicht in freudigem Selbstgefühl als einen schuldigen Tribut hinnehmen, sondern man erwartete von mir irgend eine ablehnende bescheidene Phrase, worin ich demütig den völligen Unwert meiner Person und meines Werkes an den Tag legte. Das aber wiederstrebte meiner Natur, und ich hätte müssen ein elender Lump sein, wenn ich so hätte heucheln und lügen wollen. Da ich nun aber stark genug war, mich in ganzer Wahrheit so zu zeigen, wie ich fühlte, so galt ich für stolz und gelte noch so bis auf den heutigen Tag. In religiösen Dingen, in wissenschaftlichen und politischen, überall machte es mir zu schaffen, |
daß ich nicht heuchelte und daß ich den Mut hatte, mich auszusprechen, wie ich empfand. Es ist schlimm, daß so wenig Wahrheit in der Welt ist. Wo kommt uns noch eine originelle Natur unverhüllt entgegen! Und wo hat einer die Kraft, wahr zu sein und sich zu zeigen, wie er ist? Aber über allen anderen Tugenden steht eins: das beständige Streben nach oben, das Ringen mit sich selbst, das unersättliche Verlangen nach größerer Reinheit, Weisheit Güte und Liebe. Nemo coronatur nisi qui certaverit ante (1), das war auch mein Glaube immer. Und ich darf sagen, daß ich es mir habe sauer werden lassen, daß ich das Leben ernsthaft nahm und mich stets zu bilden, belehren und bessern suchte. Ich suchte namentlich auch fernzuhalten, was mich auf Abwege führen konnte, denn ich spürte
Und ich rief mir oft selber zu:
Was wir in uns nähren, das wächst, das ist ein ewiges Naturgesetz. Es giebt ein Organ des Mißwollens, der Unzufriedenheit in uns, wie es eines der Opposition, der Zweifelsucht giebt. Je mehr wir ihm Nahrung zuführen, es üben, je mächtiger wird es, bis es sich zuletzt aus einem Organ in ein krankhaftes Geschwür umwandelt und verderblich um sich frißt. Dann setzt Reue, Vorwurf und andere Absurdität daran, wir werden ungerecht gegen Andere und gegen uns selbst. Die Freude an fremden und eigenem Gelingen und Vollbringen geht verloren, aus Verzweiflung suchen wir zuletzt den Grund des Übels außer uns, statt ihn in unserer Verkehrtheit zu finden.
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Ebenso kann und soll die Entwicklung umgekehrt sein. Ich habe oft die Genugthuung gehabt, daß ich bei Angriffen meiner Gegner mir sagen konnte, ich habe die getadelten Fehler bereits überwunden. Ein äußeres Hilfsmittel zur Veredelung ist das Tagebuchführen, auch habe ich mir wohl an Geburtstagen ernstlich überlegt, wo es noch fehle. Eine tägliche Übersicht des Geleisteten und Erlebten macht erst, daß man seines Thuns gewahr und froh werde, sie führt zur Gewissenhaftigkeit. Fehler und Irrtümer treten bei solcher täglichen Buchführung von selbst hervor, die Beleuchtung des Vergangenen wuchert für die Zukunft. Wir sehen freilich manchmal nicht klar, wohin dieser oder jener Weg führt, aber stillstehen darf nimmer, wer nicht schwächer werden will.
Ich betrachtete jüngst ein Bild, wo Christus auf dem Meere wandelt und Petrus, ihm auf den Wellen entgegenkommend, in einem Augenblick anwandelnder Mutlosigkeit sogleich einzusinken anfängt. Es ist dies eine der schönsten Legenden, die ich vor allen lieb habe. Es ist darin die hohe Lehre ausgesprochen, daß der Mensch durch Glauben und frischen Mut im schwierigsten Unternehmen siegen werde, dagegen bei anwandelndem geringstem Zweifel sogleich verloren sei. Tapferes, treues Vorwärtsdringen bewirkt stets ein göttliches Entgegenkommen. Allen Gewalten |
Im christlichen Gewande, durch das ich meinen poetischen Intentionen (1) eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben habe, lehrt der Schluß meines "Faust" ja das Gleiche:
In diesen Versen ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Thätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hilfe kommende, ewige Liebe. Es stehet dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade. * * * Sie sehen, ich bin nicht der arge Heide, für den ich gelte. Ich glaubte immer an Gott und die Natur und an den Sieg des Edlen über das Schlechte, aber das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß Drei Eins seien und Eins Drei. Das aber wiederstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele; auch sah ich nicht ein, daß mir damit auch nur im mindesten wäre geholfen worden. Man hat mich auch in alten Tagen noch bekehren wollen,
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eine wohlwollende Freundin aus ferner Jugendzeit hat mir einen so herzlichen wie langen Brief geschrieben, um meine Seele zu retten; ich entschloß mich endlich zu wenigen kurzen Sätzen als Antwort, und habe sie im Gedächtnis: "Redlich habe ich es mein Leben lang mit mir und Anderen gemeint und bei allem irdischen Treiben immer aufs höchste geblickt; Sie und die Ihrigen haben es auch gethan. Wirken wir also immerfort, so lange es Tag für uns ist; für andere wird auch eine Sonne scheinen, sie werden sich an ihr hervorthun und uns indeß ein helleres Licht erleuchten. Möge sich in den Armen des allliebenden Vaters alles wieder zusammenfinden!" Aber wenn ich auch jede Dogma ablehne und keiner Vermittlung zwischen mir und Gott bedarf, mich auch nicht so als hoffnungslosen Sündenknecht fühle, daß nur das Blut des Gekreuzigten mich vor Gott reinwaschen könnte, so möchte ich doch mit Achtung von der christlichen Religion sprechen, woran die gesunkene und leidende Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder emporgearbeitet hat, ebenso von der Bibel, zu deren fleißigen Lesern ich stets gehörte, wenn ich auch die Entdeckung, daß die Erde um die Sonne kreist, für ebenso lehrreich halte. Ja, ich möchte sogar die Kirche nicht verachten, obwohl ihre Geschichte ein Produkt des Irrtums und der Gewalt ist. Es giebt eben zwei Standpunkte, von welchen aus die biblischen Dinge zu betrachten. Es giebt den Standpunkt einer Art Urreligion, den der reinen Natur und Vernunft, welcher göttlicher Abkunft. Dieser wird ewig derselbige bleiben und wird dauern und gelten, so lange gottbegabte Wesen vorhanden. Doch ist er nur für Auserwählte und viel zu hoch und edel, um allgemein zu werden. sodann giebt es den Standpunkt der Kirche, welcher mehr |
menschlicher Art. Er ist gebrechlich, wandelbar und im Wandel begriffen; doch auch er wird in ewiger Umwandlung dauern, so lange schwache menschliche Wesen sein werden. Das Licht ungetrübter göttlicher Ofenbarung ist viel zu rein und glänzend, als daß es den armen, gar schwachen Menschen gemäß und erträglich wäre. Die Kirche aber tritt als wohlthätige Vermittlerin ein, um zu dämpfen und zu ermäßigen, damit Allen geholfen und damit Vielen wohl werde. Dadurch, daß der christlichen Kirche der Glaube beiwohnt, daß sie als Nachfolgerin Christi von der Last menschlicher Sünde befreien könne, ist sie eine sehr große Macht. Und sich in dieser Macht und in diesem Ansehn zu erhalten und so das kirchliche Gebäude zu sichern, ist der christlichen Priesterschaft vorzügliches Augenmerk. Freilich ist gar viel Dummes in den Satzungen der Kirche. Aber sie will herrschen und da muß sie eine bornierte (1) Masse haben, die sich dukt und die geneigt ist, sich beherrschen zu lassen. Die hohe, reichdotierte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr als die Aufklärung der unteren Massen. Sie hat ihnen auch die Bibel lange genug vorenthalten, so lange als irgend möglich. Was sollte auch ein armes christliches Gemeindeglied von der fürstlichen Pracht eines reichdotierten Bischofs denken, wenn es dagegen in den Evangelien die Armut und Dürftigkeit Christi sieht, der mit seinen Jüngern in Demut zu Fuß ging, während der fürstliche Bischof in einer von sechs Pferden gezogenen Karosse (2) einherbraust. Übrigens, wenn ich guter Laune bin, imponiert mir die Frechheit manches Kirchenfürsten, und ich male mir wohl aus, ich möchte z. B. in der englischen Staatskirche Bischof sein. Wissen Sie, wie ich es gemacht hätte? Ich hätte vor allen Dingen die Partei der 39 Artikel ergriffen,
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ich hätte sie nach allen Seiten und Richtungen hin verfochten. Ich hätte in Reimen und Prosa solange und so viel geheuchelt und gelogen, daß meine 30 000 Pfund jährlich mir nicht hätten entgehen sollen. Und dann, einmal zu dieser Höhe gelangt, würde ich nichts unterlassen haben, mich oben zu erhalten. Besonders würde ich alles gethan haben, die Nacht der Unwissenheit womöglich noch finsterer zu machen. O, wie hätte ich die gute einfältige Masse kajolieren (1) wollen, und wie hätte ich die liebe Schuljugend wollen zurichten lassen, damit niemand hätte wahrnehmen, ja nicht einmal den Mut hätte haben sollen, zu bemerken, daß mein glänzender Zustand auf der Basis der schändlichsten Mißbräuche fundiert sei! O welch ein Spaß würde es für mich sein, die 39 Artikel auf meine Weise zu traktieren (2) und die einfältige Masse in Erstaunen zu setzen! Ich habe übrigens einmal ein Prachtexemplar von einem englischen Kirchenfürsten kennen gelernt, den Lord Bristol, Bischof von Derby; es war in Jena. Er wollte mir im Laufe unseres Gespräches eine Predigt über den "Werther" halten und es mir in's Gewissen schieben, daß ich dadurch die Menschen zum Selbstmord verleitet habe. "Der "Werther", sage er, "ist ein ganz unmoralisches, verdammungswürdiges Buch!" (3) - "Halt!" rief ich, wenn Ihr so über den armen "Werther" redet, welchen Ton wollt Ihr dann geggen die Großen dieser Erde anstimmen, die durch einen einzigen Feldzug hunderttausend Menschen ins Feld schicken, wovon achtzigtausend sich töten und sich gegenseitig zu Mord, Brand und Plünderung anreizen? Ihr danket Gott nach solchen Greueln und singt ein Tedeum (4) darauf! Und ferner, wenn Ihr durch Eure Predigten über die Schrecken der Höllenstrafen die schwachen Seelen Eurer Gemeinden
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änstigt, sodaß sie darüber den Verstand verlieren und ihr armseliges Dasein zuletzt in einem Tollhause (1) endigen! Oder wenn Ihr durch manche Eurer orthodoxen (2), vor der Vernunft unhaltbaren Lehrsätze in die Gemüter Eurer christlichen Zuhörer die verderbliche Saat des Zweifels säet, sodaß diese halb starken, halb schwachen Seelen in einem Labyrint sich verlieren, aus dem für sie kein Ausweg ist als der Tod! Was sagt Ihr da zu Euch selber, und welche Strafrede haltet Ihr Euch da? - Und nun wollt Ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft ziehen und ein Werk verdammen, das, durch einige beschränkte Geister falsch aufgefaßt, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts Besseres thun konnten, als den schwachen Rest ihres bischen Lebens vollends auszublasen! Ich dachte, ich hätte der Menschheit einen wirklichen Dienst geleistet und ihren Dank verdient, und nun kommt Ihr und wollt mir diese gute kleine Waffenthat zum Verbrechen machen, während ihr Andern, ihr Priester und Fürsten, Euch so Großes und Starkes erlaubt!" Dieser Ausfall that auf meinen Bischof eine herrliche Wirkung. Er ward so sanft wie ein Lamm und benahm sich von nun an mit der größten Höflichkeit und dem feinsten Takt. Eine ziemliche Reinigung der Kirche müssen wir übrigens der Reformation zuschreiben, wenn es dabei auch recht menschlich zuging und das Kirchliche gar oft nur der Firniß (3) war, mit welchem man Leidenschaften und Bestrebungen überstrich, um Andere und sich selbst zu täuschen. Ihren rechten Ursprung hat sie doch in der germanischen Liebe zu persönlicher Freiheit. Wir wissen garnicht, was wir Luthern und der Reformation im Allgemeinen Alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit (4),
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wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Muth, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen. Mag die geistige Kultur nun immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen, und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will: über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen. Man fragt jetzt soviel, ob das und jenes in den Evangelien echt oder unecht, älter oder neuer sei. Das sind gar wunderliche Fragen. Was ist echt als das ganz Vortreffliche, das mit der reinsten Natur und Vernunft in Harmonie steht und noch heute unserer höchsten Entwicklung dient! Und was ist unecht als das Absurde, Hohle und Dumme was keine Frucht bringt, wenigstens keine gute! Sollte die Echtheit einer biblischen Schrift durch die Frage entschieden werden, ob uns durchaus Wahres überliefert worden, so könnte man sogar in einigen Punkten die Echtheit der Evangelien bezweifeln, wovon Markus und Lukas nicht aus unmittelbarer Ansicht und Erfahrung, sondern erst spät nach mündlicher Ueberlieferung geschrieben, und das letzte, von dem Jünger Johannes, erst im höchsten Alter. Dennoch halte ich die Evangelien alle für durchaus echt, denn es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist. Doch solche Fragen sollte die Kirche gar nicht soviel Kraft verwenden. Suchte man, was geliebt, gelebt und gelehrt werden soll, besser im Protestantismus auseinander |
zu halten, legte man sich über die Mysterien ein unverbrüchliches, ehrerbietiges Stillschweigen auf, ohne die Dogmen mit verdrießlicher Anmaßung, nach dieser oder jener Linie verkünstelt, irgend Jemanden wider Willen aufzunötigen, oder sie wohl gar durch unzeitigen Spott oder vorwitziges Ableugnen bei der Menge zu entehren und in Gefahr zu bringen, so wollte ich selbst der Erste sein, der die Kirche meiner Religionsverwandten mit ehrlichem Herzen besuchte und sich dem allgemeinen praktischen Bekenntnisse eines Glaubens, der sich unmittelbar an das Thätige knüpfte, mit vergnüglicher Erbauung unterordnete. Hoffen wir, daß man nach dieser Richtung schreiten möge! Je tüchtiger wir Protestanten in edler Entwicklung voranschreiten, desto schneller werden die Katholiken folgen. Sobald sie sich von der immer weiter um sich greifenden Aufklärung der Zeit ergriffen fühlen, müssen sie nach, sie mögen sich stellen wie sie wollen, und es wird dahin kommen, daß endlich alles nur eins ist. Auch das leidige protestantische Sektenwesen wird aufhören. Denn sobald man die reine Lehre und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen und in sich eigelebt haben, so wird man sich als Mensch groß und frei fühlen und auf ein bischen so oder so im äußeren Kultus (1) nicht mehr sonderlichen Wert legen. Auch werden wir alle nach und nach aus einem Christentum des Worts und Glaubens immer mehr zu einem Christentum der Gesinnung und That kommen. Und immer werden die Menschen nach oben blicken und Frieden, Liebe und heiligen Geist von dorther sich ersehnen. Wie oft habe auch ich nach dem innern, vollkommenen Frieden verlangt:
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Auch ich habe in schweren Stunden voll Sehnsucht nach dem Spender der Liebe emporgeblickt:
Und den alten Choral an den heiligen Geist habe auch ich mit eigenen Gedanken und Worten angestimmt:
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NachwortManch kostbares Buch, manch geistvoller Aufsatz ist über Goethe geschrieben, und es wird auch in Zukunft nicht an Werken der Verherrlichung und Erläuterung fehlen. Aber ihn selbst reden zu hören, geht doch am tiefsten zu Herzen; und besonders wenn er aus seinem Innersten heraus verkündet, was er über die großen Fragen der Zeit und Ewigkeit gedacht und empfunden hat, da geben wir uns ihm am liebsten unmittelbar zu eigen. Da steht er vor uns, stolz und gerade, die Hände auf dem Rücken; aus dem gesunden gebräunten Gesicht sehen wir die großen dunklen Augen durchdringend leuchten, und die tiefe wohlklingende Stimme spricht Worte der Weisheit, nicht selten wärmer und lauter werdend von innerer Erregung, wenn er an alte Kämpfe denkt. Statt über seine Religion und seine Politik zu schreiben, habe ich den Versuch gemacht, den toten Meister selber darüber sprechen zu lassen. Woher ich die Reden nahm, die ich ihm in den Mund lege, erkennt der Fachmann leicht; für diejenigen Leser, die noch nicht Mitglieder der Goethe-Gemeinde sind, sei bemerkt, daß ich nach Art des Mosaik-Künstlers allerlei zerstreute Äußerungen Goethes zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzusetzen suchte. Namentlich entnahm ich die Stücke der vorzüglichen Sammlung der Gepräche mit Goethe, die Freiherr von Biedermann herausgegeben hat; auch wer nur die Gespräche mit Eckermann und dem Kanzler von Müller besitzt, wird viel Vertrautes finden. Im einzelnen gebe ich die Quellen unten an. Beide Reden muß man sich in den letzten sieben Lebensjahren des Meisters gehalten denken, die erste etwas 1830, die zweite 1825. |
Eine dritte Rede über Dichtung und andere Kunst soll demnächst folgen, ebenso ein Büchlein, in dem ich Goethes Lebenskunst schildern will. Die vorliegenden Reden waren übrigens, etwas kürzer als hier, schon in den "Preußischen Jahrbüchern" abgedruckt, und habe ich deren Herausgebern für die Bewilligung selbständiger Buchausgabe zu danken. Möge der große Lehrer auch durch dieses Buch neue Schüler finden!
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QuellenangabenWir stellen hier zusammen, was Goethe selbst geschrieben hat oder seine Zeitgenossen nach seinen Gesprächen wiedergegeben haben, und setzen in eckige Klammer [ . . ] was der Herausgeber eingeschoben hat, um die einzelnen Stücke zu einer Rede zu verbinden. Meine Religion
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